Transkript
Neutropenie in der Grundversorgung
Wann ist welche Abklärung nötig – und wann die Weiterweisung zum Spezialisten?
FORTBILDUNG
Aus der General Practice Research Database geht hervor, dass die Inzidenz für die Diagnose einer Neutropenie oder Agranulozytose in der Allgemeinarztpraxis bei 1:100 000 pro Jahr liegt. Auch wenn dazu kaum Zahlen vorliegen, ist anzunehmen, dass die Anzahl von Patienten mit vorübergehender oder gering ausgeprägter Neutropenie wesentlich grösser ist. Je schwerer ausgeprägt die Neutropenie, desto eher sind weitere Untersuchungen angezeigt. Da hierzu keine strikten Leitlinien existieren, hat ein aktueller Review versucht, dem Grundversorger entsprechende Anleitungen zu geben.
British Medical Journal
Eine Neutropenie liegt definitionsgemäss vor bei einer absoluten Neutrophilenanzahl von weniger als 1,5 × 109/l (leichte Neutropenie) und ist aus zweierlei Gründen von Bedeutung: Zum einen kann sie einen Hinweis auf eine zugrunde liegende systemische oder hämatologische Erkrankung darstellen. Zum anderen ist eine Neutrophilenanzahl von weniger als 1,0 × 109/l (moderate Neutropenie) ein Indikator für ein erhöhtes Risiko einer lebensbedrohlichen bakteriellen Infektion, welches bei schwerer Neutropenie (< 0,5 × 109/l) noch zunimmt.
MERKSÄTZE
O Eine isolierte Neutropenie ist ein häufiger Zufallsbefund in der Allgemeinpraxis und meist verursacht durch Medikamente oder akute Virusinfektionen. Eine benigne ethnische Neutropenie kommt oft bei Afrikanern und Afrokariben vor.
O Die Diagnostik bei persistierender isolierter Neutropenie sollte zunächst einen peripheren Blutfilm, einen Test auf hämatinischen Mangel und eine Virusserologie auf chronische Infektionen umfassen; vielfach lässt sich jedoch keine offizielle Diagnose stellen.
O Eine fachärztliche hämatologische Untersuchung ist bei gleichzeitiger Anämie oder Thrombozytopenie beziehungsweise bei moderater oder schwerer Neutropenie (< 1,0 x 109 Neutrophile/l) angezeigt.
Mögliche Ursachen für eine Neutropenie sind in Tabelle 1 zusammengestellt.
Ethnische Unterschiede berücksichtigen
Wird eine entsprechend niedrige Neutrophilenzahl festgestellt, ist es notwendig, vor Einleitung weiterer Untersuchungen zunächst zu klären, ob ein solch tiefer Wert tatsächlich abnorm ist. Bei etwa 25 bis 50 Prozent der Menschen afrikanischer oder afrokaribischer Abstammung sowie bei manchen Arabern liegt eine benigne ethnische Neutropenie vor, welche keinerlei klinische Bedeutung hat. Bei diesen Personen sollten erst Neutrophilenzahlen unter 1,0 × 109/l Anlass zu weiteren Abklärungen geben.
Medikamentenanamnese
Die der Neutropenie zugrunde liegende Ursache wird vielfach aus der Medikamentenanamnese eines Patienten offenkundig (siehe Tabelle 2). Die Inzidenz einer substanzbedingten schweren Neutropenie oder Agranulozytose in der Bevölkerung beträgt 2,4 bis 15,4 pro Million und Jahr. Obwohl typischerweise eine zeitliche Assoziation mit der medikamentösen Therapie besteht, kann es bei Patienten, die über Jahre eine konstante Menge eines Wirkstoffs eingenommen haben, auch zu einer verzögerten Neutropenie kommen. Ein systematischer Review von mehr als 900 veröffentlichten Publikationen zur Agranulozytose konnte 125 für dieses Symptom eindeutig ursächliche oder wahrscheinlich ursächliche Substanzen identifizieren und hob hervor, dass die Sterblichkeitsrate für Patienten mit einem NeutrophilenNadir von weniger als 0,1 × 109/l bei 10 Prozent liegt. In solch schweren Fällen muss die Medikation normalerweise beendet und häufig granulozytenkoloniestimulierender Faktor (G-CSF) verabreicht werden, um die Erholung der Neutrophilenzahl zu beschleunigen. In den meisten Fällen ist eine substanzbedingte Neutropenie jedoch nur leicht oder mittelgradig ausgeprägt, und es muss jeweils eine klinische Entscheidung zwischen dem potenziellen Nutzen einer medikamentösen Therapie und dem Risiko einer neutrophilen Sepsis gefällt werden. Fällt sie zugunsten einer fortgesetzten Medikamentengabe aus, ist die Neutrophilenzahl in der Folge sorgfältig zu überwachen.
Weitere Untersuchungen
Blutfilm Bei ungeklärter mässiger oder schwerer Neutropenie stellt die Prüfung eines Blutfilms, das heisst eines dünnen Ausstrichs von Blut auf einem Objektträger, eine wichtige Untersuchungs-
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Tabelle 1:
Wichtige Ursachen für eine erworbene Neutropenie (nach Hay et al.)
Mögliche Ursachen
Kommentar
Medikamentenbedingt
Erwartet (z.B. Zytotoxika) oder idiopathisch (z.B. Immunmechanismus).
Akute Infektion (hauptsächlich viral)
Typischerweise vorübergehend; klinische Anamnese und Blutfilm möglicherweise richtungsweisend.
Chronische Virusinfektion (HIV, Hepatitis B/C) Klinische Anamnese, Risikofaktoren und Virusserologie evtl. diagnostisch zielführend.
Autoimmunerkrankungen (systemischer Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom, rheumatoide Arthritis)
Zusätzliche klinische Symptome zu erwarten; medikamentöse Therapie möglicherweise mit negativem Effekt.
Hämatinischer Mangel
Selten nur Neutrophile betroffen; Erythrozytenindizes und Blutfilm möglicherweise richtungsweisend.
Primäre Autoimmunneutropenie
Selten bei Erwachsenen; meist im frühen Kindesalter diagnostiziert und spontan remittierend.
Knochenmarkinfiltration (z.B. Metastasen)
Klinische Anamnese und Blutfilm höchstwahrscheinlich richtungsweisend; typischerweise > 1 Zelllinie betroffen.
Maligne hämatologische Erkrankung
Meistens multiple Zelllinien betroffen; Blutfilm kann möglicherweise Hinweise geben.
Chronische idiopathische Neutropenie
Ausschlussdiagnose; zum Teil immunologische Ursache.
Tabelle 2:
Nicht zytotoxische, eventuell neutropenieauslösende Medikamente (nach Hay et al.)
Klasse
Wirkstoff
Antibiotika Antikonvulsiva Antiphlogistika Antirheumatika Antithyroidika Kardiovaskuläre Agenzien Psychotrope Agenzien Andere
Ampicillin, Zephalosporine, Trimethoprim-Sulfamethoxazol, Erythromycin, Nitrofurantoin Carbamazepin, Phenytoin Ibuprofen, Diclofenac, Indometacin Gold, Penicillamin, Infliximab Carbimazol, Propylthiouracil Spironolacton, ACE-Hemmer, Propanolol, Clopidogrel Clozapin, Olanzapin, Chlorpromazin, Fluoxetin Allopurinol, Omeprazol
methode dar. Das Vorliegen von reaktiven T-Zellen deutet auf eine akute virale Infektion hin. Etwa die Hälfte aller Fälle von infektiöser Mononukleose und zum Teil auch eine akute Zytomegalievirusinfektion oder eine Toxoplasmose gehen mit einer Neutropenie einher. Liegen gleichzeitig entsprechende Infektionssymptome (Fieber, Halsentzündung, allgemeines Krankheitsgefühl) vor, sollte sich ein Monospot-Test oder eine spezifische virale Serologie anschliessen. Eine infektionsbedingte Neutropenie ist gewöhnlich innerhalb von drei bis vier Wochen abgeklungen. Bei vielen Autoimmunerkrankungen oder reaktiven Störungen finden sich im Blutausstrich auch grosse granuläre Lymphozyten. Weniger häufig deutet eine persistierende Lymphozytose auf eine zugrunde liegende lymphoproliferative Erkrankung (in 60–85% der Fälle: T-Zell-Leukämie mit grossen granulären Lymphozyten) hin.
Gelegentlich finden sich im Blutfilm Anzeichen für ein hämatinisches Defizit. Vitamin-B12-, Folat- und seltener auch Eisenmangel gelten als mögliche Ursachen einer isolierten Neutropenie. Solche Mangelzustände lassen sich durch Vitamin-B12-, Folat- oder Ferritin-Assays bequem nachweisen und gut behandeln. Auch an einen Mangel an bestimmten Spurenelementen (z.B. Kupfer) oder an eine energetische Unterversorgung (bei nervöser Magersucht) sollte gedacht werden. In vielen Fällen jedoch ergeben sich aus der Blutfilmuntersuchung keine hinreichenden Indizien auf die der Neutropenie zugrunde liegende Ursache. Hier müssen dann im Einzelfall weitere Tests durchgeführt werden.
Virusserologie auf chronische Infektion Etwa bei der Hälfte der HIV-Patienten und bei 5 bis 10 Prozent der asymptomatischen Patienten im Frühstadium der
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Infektion sowie bisweilen auch bei therapienaiven Patienten mit Hepatitis C wird eine Neutropenie beobachtet. Eine serologische Untersuchung hinsichtlich chronischer viraler Infektionen ist daher bei persistierender, ungeklärter Neutropenie angezeigt.
Antinukleäre Antikörper und Rheumafaktor Autoimmunerkrankungen gehen häufig mit Neutropenie einher. Obwohl sich eine schwere Neutropenie bei systemischem Lupus erythematodes (SLE) in den meisten Fällen auf eine medikamenteninduzierte Myelosuppression zurückführen lässt, hat eine Studie zeigen können, dass bei etwa der Hälfte der SLE-Patienten eine leichte bis moderate Neutropenie besteht. Zum Auftreten von Neutropenie bei anderen Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis, SjögrenSyndrom oder Mischkollagenose liegen nur wenige Daten vor. Aus pragmatischen Gründen empfehlen die Autoren des hier referierten Reviews die Durchführung von Tests auf antinukleäre Antikörper (ANA), Rheumafaktor (RF) und extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) nur dann, wenn ausser einer Neutropenie noch andere für eine Autoimmunerkrankung typische Symptome vorliegen.
Antineutrophile Antikörper Eine primäre Autoimmunneutropenie in Abwesenheit jeglicher systemischer immunologischer Erkrankungen ist ebenfalls beschrieben und stellt die häufigste Ursache einer erworbenen Neutropenie im Säuglings- und frühen Kindesalter dar. In 98 Prozent der Fälle lassen sich antineutrophile Antikörper nachweisen. Jedoch ist nicht abschliessend geklärt, ob auch Erwachsene mit Neutropenie entsprechenden Tests unterzogen werden sollten, da bei ihnen positive Testergebnisse nur unzureichend mit einer klinisch nachweisbaren Neutropenie korrelieren.
Wann zum Spezialisten?
Grundversorger sind möglicherweise in erster Linie dahinge-
hend besorgt, dass bei Patienten mit isolierter Neutropenie
eine maligne hämatologische Erkrankung ursächlich sein
könnte. Letzteres ist jedoch eher selten der Fall. Eine Über-
weisung zum Spezialisten sollte jedoch immer dann erwogen
werden, wenn der Verdacht auf jedwede Art einer fortschrei-
tenden oder ernsten Erkrankung besteht. Hierzu bedarf es
zwar mehr als des Blutbilds, doch deutet die Entwicklung
einer Anämie oder Thrombozytopenie bei Patienten mit
vorausgehender isolierter Neutropenie auf eine primäre
Knochenmarkerkrankung hin und stellt eine zwingende Indi-
kation für eine hämatologische Abklärung dar.
Je schwerer die Neutropenie, desto eher ist eine Überweisung
zum Spezialisten angeraten, vor allem, wenn sich zusätzlich
ein Abwärtstrend der absoluten Neutrophilenzahlen zeigt.
In solchen Fällen erscheint eine Knochenmarkuntersuchung
angebracht. Grundsätzlich sollte bei allen Patienten mit einer ungeklärten Neutropenie von weniger als 1,0 × 109 Neutro-
philen/l der hämatologisch-fachärztliche Rat zum weiteren
Vorgehen eingeholt werden.
Laut einer prospektiven Studie lässt sich bei rund einem
Drittel der Patienten mit isolierter Neutropenie auch nach
umfassender Abklärung keine Ursache feststellen; Allgemein-
praktiker wie Spezialisten sollten in diesen Fällen allerdings
daran denken, dass sich krankheitsspezifische Symptome
eventuell erst im Zeitverlauf zeigen, und deshalb periodische
Nachuntersuchungen vornehmen.
O
Ralf Behrens Hay D et al.: Neutropenia in primary care. BMJ 2014; 349: g5340. Interessenkonflikte: keine deklariert
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