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FORTBILDUNG
Harninkontinenz bei Frauen
Von konservativen Massnahmen über Medikamente bis zur Chirurgie
In den meisten Fällen kann bereits der Hausarzt das Problem lösen. Erst wenn konservative Massnahmen und Medikamente keinen Erfolg bringen, ist eine Überweisung zum Spezialisten sinnvoll.
British Medical Journal
Die therapeutischen Optionen bei Stress- und Dranginkontinenz sind unterschiedlich. Falls die Anamnese kein klares Bild der Symptomatik ergibt, kann ein «Blasentagebuch» hilfreich sein, das über mindestens drei Tage hinweg geführt werden sollte. Patienten mit einfacher Stress- oder Dranginkontinenz ohne Komplikationen bedürfen in der Regel keiner weitergehenden Abklärung wie Zystometrie (Messung von Blasendruck und -volumen) oder urodynamische Untersuchungen.
Die häufigsten Formen der Harninkontinenz bei Frauen sind die Stressinkontinenz, die Dranginkontinenz oder eine Mischform aus beidem. Stressinkontinenz tritt bei körperlicher Anstrengung, beim Niesen oder Husten auf. Die Dranginkontinenz gehört zu einem grösseren Symptomkomplex, der als «hyperaktive Blase» oder «Reizblase» bezeichnet wird. Das Syndrom Reizblase umfasst imperativen, meist häufigen Harndrang und Nykturie mit oder ohne Harninkontinenz, ohne dass ein Harnwegsinfekt oder eine andere offensichtliche Ursache für die Beschwerden vorliegt.
MERKSÄTZE
O Die therapeutischen Optionen bei Drang- oder Stressinkontinenz sind unterschiedlich.
O Beckenbodentraining und Verhaltensmassnahmen sind immer wichtig.
O Anticholinergika gegen Dranginkontinenz müssen mindestens vier Wochen lang eingenommen werden, damit man die Wirkung beurteilen kann.
O Anticholinergika sind bei älteren, gebrechlichen Patienten nur mit Vorsicht zu verordnen.
O Mit Mirabegron steht ein neues Medikament mit einem Wirkmechanismus zur Verfügung, der anticholinerge Nebenwirkungen vermeidet.
O Falls eine Stressinkontinenz anders nicht zufriedenstellend gemindert werden kann, kommt in den meisten Fällen ein minimalinvasiver Eingriff mit Platzierung eines spannungsfreien Kunststoffbändchens unter der mittleren Urethra infrage.
Konservative Massnahmen
Das Beckenbodentraining ist die wichtigste Massnahme. Es sollte prinzipiell der erste Schritt jeder Therapie bei Harninkontinenz sein. Studien belegen, dass richtig durchgeführtes Beckenbodentraining wirksamer als Medikamente sein kann. Eine der wichtigsten Fragen in der Anamnese gilt dem Flüssigkeitskonsum. Seit Langem wird in den Medien ein generell hoher Flüssigkeitskonsum unabhängig vom Durstgefühl propagiert. Viele Frauen trinken darum 1,5 bis 2 Liter Wasser täglich, obwohl diese Empfehlung eigentlich anders gemeint ist: In dieser Flüssigkeitsmenge enthalten sind auch alle wasserhaltigen Lebensmittel. Bei Frauen mit hyperaktiver Blase hilft darum manchmal bereits der Rat, mit der übermässigen Flüssigkeitszufuhr aufzuhören. Ein weiterer guter Rat ist die Blasenentleerung nach der Uhr. Ziel ist es, die Frequenz auf einmal in zwei bis drei Stunden zu senken. Obstipation ist ein wichtiger Faktor, der beseitigt werden muss, da er Harninkontinenz und Blasenentleerungsstörungen fördert. Ein hoher BMI gilt ebenfalls als Risikofaktor, sodass die Empfehlung zur Gewichtsreduktion sinnvoll sein kann. Konservative Massnahmen sind auch nach Beginn einer medikamentösen Therapie weiterhin wichtig, weil ihre Kombination mit jeglicher medikamentöser Therapie in jedem Fall mehr Erfolg verspricht als eine rein medikamentöse Behandlung.
Anticholinergika gegen Reizblase
Anticholinergika sind die wichtigsten Medikamente bei hyperaktiver Blase. Sie sollten nicht verordnet werden, wenn es sich um eine reine Stressinkontinenz handelt. In der Schweiz sind zurzeit die Anticholinergika Darifenacin (Emselex®), Fesoterodin (Toviaz®), Oxybutynin (Ditropan®, Kentera®, Lyrinel® Oros®), Solifenacin (Vesicare®), Tolterodin (Detrusitol® SR, Tolterodin Pfizer) und Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin® Neo, Spasmex) auf dem Markt. Ein älteres Anticholinergikum ist das Clidiniumbromid (Librax®, Librocol®).
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ren. In einer plazebokontrollierten Studie mit Trospiumchlorid zeigte sich das Symptom Somnolenz unter Trospiumchlorid nicht häufiger als unter Plazebo. Viele Frauen vertragen Anticholinergika nicht, sodass 30 bis 91 Prozent nach einem Jahr mit der Einnahme aufhören. Aus diesem Grund sollte man zunächst die niedrigste Dosis verordnen und gegebenenfalls auf die transdermale Gabe zurückgreifen (z.B. Kentera®). Die Pflaster haben weniger Nebenwirkungen als die oralen Anticholinergika (ausser Hautreaktionen). Es ist wichtig, die Patientinnen darauf hinzuweisen, dass sie ihr Anticholinergikum mindestens vier Wochen einnehmen müssen, bis die Wirksamkeit beurteilt werden kann. Gemäss den Richtlinien der amerikanischen Fachgesellschaften AUA (American Urological Society) und SUFU (Society of Urodynamics, Female Pelvic Medicine and Urogenital Reconstruction) sollten Ärzte mindestens vier bis acht Wochen abwarten, um Erfolg oder Misserfolg eines Anticholinergikums bei hyperaktiver Blase zu beurteilen. Als Medikamente der ersten Wahl empfehlen diese Gesellschaften Oxybutynin, Tolterodin oder Darifenacin unter Berücksichtigung der oben erwähnten Nebenwirkungsprofile.
Abbildung: Therapeutische Optionen bei Drang- oder Stressinkontinenz (nach Wood & Anger, BMJ 2014).
Die Anticholinergika unterscheiden sich weniger hinsichtlich ihrer Wirkung als ihrer Nebenwirkungen. In einer 2012 publizierten Metaanalyse kam man zu dem Schluss, dass folgende Substanzen und Dosierungen die beste Balance zwischen Wirkung und Nebenwirkung bieten: Trospiumchlorid 40 mg/tgl., Oxybutynin-Gel (in der Schweiz nicht auf dem Markt, aber als Pflaster verfügbar) und Fesoterodin 4 mg/tgl. Als Nebenwirkungen bekannt sind Obstipation, kognitive Beeinträchtigungen, Sedation und Sehstörungen. Anticholinergika sollten Patienten mit Engwinkelglaukom nicht verordnet werden, weil sie den Augeninnendruck erhöhen können. Bei betagten, gebrechlichen Personen ist wegen kognitiver Nebenwirkungen Vorsicht geboten. Insbesondere warnt das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) davor, das nicht retardierte Oxybutynin (Ditropan®) gebrechlichen Frauen zu verordnen, die unter mehreren Komorbiditäten, funktionellen Beeinträchtigungen im Alltag oder kognitiven Einschränkungen leiden. Bezüglich der kognitiven Nebenwirkungen sind quartäre Ammoniumverbindungen wie Trospiumchlorid wahrscheinlich günstiger, weil sie die Blut-Hirn-Schranke nicht passie-
Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten
Mirabegron (Betmiga®) relaxiert den Detrusor über die Aktivierung von Beta-3-Adrenorezeptoren. Die klassischen Nebenwirkungen der Anticholinergika werden somit vermieden. In einer plazebokontrollierten Studie sanken die täglichen Dranginkontinenzepisoden mit Mirabegron von 2,4 auf 0,9 (50 mg) beziehungsweise 0,8 (100 mg); mit Plazebo sank die Frequenz auf 1,3 Episoden pro Tag. Anschaulicher ausgedrückt: Zu Beginn der Studie waren es rund 17 Episoden pro Woche, am Ende der Studie mit Plazebo noch 9 und mit Mirabegron noch 5 bis 6 Episoden. Nebenwirkungen waren mit Mirabegron äusserst selten; die klassischen Anticholinergika-Nebenwirkungen Mundtrockenheit und Obstipation kamen bei weniger als 2 Prozent der Patienten vor.
Hilft nichts gegen die Reizblase?
Die hyperaktive Blase ist, insbesondere in schweren Fällen, eine chronische Erkrankung, deren Symptome man zwar lindern, aber oft nicht völlig zum Verschwinden bringen kann. Falls die Behandlung nicht zu einem akzeptablen Erfolg führt, sind invasive Verfahren die letzte Option. Bevor die medikamentöse Behandlung als «erfolglos» bewertet werden kann, müssen jedoch mindestens zwei verschiedene Medikamente mit je vier Wochen Beobachtungsdauer versucht worden sein. In dem vorliegenden «BMJ»-Review wird auf drei minimalinvasive Verfahren näher eingegangen: die intravesikale Botulinumtoxininjektion (Botox®) in den Detrusormuskel, die sakrale Neuromodulation und die perkutane tibiale Nervenstimulation.
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Botulinumtoxin: Die Botulinumtoxininjektion geht mit einer Reihe von Nebenwirkungsrisiken einher, die gegen den zu erwartenden Nutzen abgewogen werden müssen. Hierzu gehören in erster Linie ein erhöhtes Risiko für Harnwegsinfektionen sowie die (vorübergehende) Harnretention. Aus diesem Grund sollte dieses Verfahren nur bei Frauen angewendet werden, die eine Selbstkatheterisierung durchführen könnten und dazu auch bereit sind. Die Dosisempfehlungen schwanken zwischen 100 und 200 Einheiten. Gemäss einer 2013 publizierten Studie wirken 100 Einheiten jedoch genauso gut wie 200 Einheiten, bei deutlich weniger Nebenwirkungen. Die Wirkung wurde in dieser Studie folgendermassen beziffert: Bei einer Frequenz von durchschnittlich 5,3 Dranginkontinenzepisoden pro Tag zu Beginn waren es nach der Behandlung mit Botulinumtoxin noch 2,6 Episoden pro Tag gegenüber 4,4 mit Plazebo. Vollständig kontinent wurden 22,9 Prozent der Patienten mit Botulinumtoxin gegenüber 6,5 Prozent mit Plazebo. Sakrale Neurostimulation: Die sakrale Neurostimulation erfordert einen chirurgischen Eingriff, bei dem Elektroden an den Spinalnerv S3 gelegt werden. Bei rund einem Drittel der Patienten sind weitere Eingriffe nötig, meist wegen Schmerzen, Verrutschen der Elektroden, Austauschs des Stimulationsgenerators oder Wundproblemen. Um zu testen, ob diese Methode überhaupt Erfolg verspricht, kann entweder zunächst eine provisorische perkutane Elektrode gelegt oder in einer ersten Operation gleich eine «feste» Elektrode platziert werden. Als Erfolg wird eine klinische Besserung um mindestens 50 Prozent gewertet. Danach erfolgt die definitive Implantation des Stimulators. Wenn gleich eine «feste» Elektrode implantiert wird, führt dies eher zur definitiven Implantation (50,9% vs. 24,1%), weil die perkutane, provisorische Elektrode leicht verrutscht und damit nicht wirken kann. Falls die Implantation klappt, soll es den Frauen zumindest für die Haltbarkeitsdauer der Batterie (5 Jahre) recht gut gehen. Perkutane tibiale Nervenstimulation: Die perkutane tibiale Nervenstimulation erfolgt ambulant (30 min/Woche für 12 Wochen). In einer randomisierten Studie fühlten sich 79,5 Prozent der Patienten subjektiv «geheilt», gegenüber 54,8 Prozent der Patienten mit Tolterodin. In der Follow-upPhase zeigte sich eine anhaltende Besserung der Reizblasensyndrome durch eine Erhaltungstherapie mit einer Stimulation alle drei Wochen. Die Datenlage ist insgesamt noch dünn, sodass trotz ermutigender Erfahrungen weitere, kontrollierte Studien notwendig sind, um den tatsächlichen Nutzen dieser Methode zu ermitteln.
Nicht chirurgische Optionen bei Stressinkontinenz
Beckenbodentraining ist die Therapie der Wahl bei Stressinkontinenz. Medikamente mit dieser Indikation gibt es nicht. Falls mit Beckenbodentraining das therapeutische Ziel nicht erreicht wird, können als nicht chirurgische Optionen allenfalls Duloxetin (Cymbalta®; «off label» für diese Indikation) oder ein sogenanntes Inkontinenzpessar versucht werden. Duloxetin: Eine Metaanalyse randomisierter Studien ergab, dass jede zweite der mit Duloxetin behandelten Frauen einen Rückgang der Stressinkontinenzepisoden um mindestens 50 Prozent erlebte, gegenüber jeder dritten Frau mit Plazebo. Nebenwirkungen wie trockener Mund, Übelkeit, Obstipation
und Müdigkeit waren unter Duloxetin häufig (62,7%), aber auch unter Plazebo nicht selten (45,3%). Das britische NICE empfiehlt Duloxetin nur für Frauen mit Stressinkontinenz, die sich nicht operieren lassen wollen oder aus medizinischen Gründen nicht operiert werden können. Inkontinenzpessar: In die Vagina eingelegte Pessare können durch Druck auf Blase und Becken eine Minderung der Stressinkontinenz bewirken. Es sind verschiedene Pessare mit verschiedenen Formen und aus unterschiedlichen Materialien auf dem Markt. Silikonpessare können mit warmem Wasser gereinigt und über einen langen Zeitraum verwendet werden. Gemäss MiGel-Liste des BAG sind Produkte aus Vinyl und Gummi eher für spezielle Situationen und über kürzere Perioden anwendbar. Auch Einmalprodukte aus Schaum- oder Zellstoff sind verfügbar, sie kommen infrage, falls das Ziel mit anderen Pessaren nicht erreicht werden kann. Die Wirksamkeit von Inkontinenzpessaren bei Stressinkontinenz wird in dem «BMJ»-Review im Vergleich zu Verhaltensmassnahmen als eher bescheiden eingestuft.
Chirurgie gegen Stressinkontinenz
Die AUA nennt zwar fünf invasive Methoden als Optionen
bei Stressinkontinenz, am weitaus häufigsten wird jedoch ein
spannungsfreies Kunststoffbändchen minimalinvasiv unter
den mittleren Abschnitt der Harnröhre eingesetzt. Das Bänd-
chen soll die Harnröhre im Sinn einer «Hängematte» unter-
stützend verschliessen, das heisst bei Anstieg des abdominel-
len Drucks durch körperliche Anstrengung, Husten oder
Niesen. Die Erfolgsrate dieser Methode ist mit 84 bis 99 Pro-
zent sehr hoch. Auch langfristig darf mit einem guten Erfolg
gerechnet werden. In einer prospektiven Studie war 11 Jahre
nach dem Eingriff ein objektiv messbarer Erfolg in 90 Pro-
zent der Fälle nachweisbar, und 77 Prozent der Frauen fühl-
ten sich auch subjektiv von ihrer Stressinkontinenz geheilt.
Andere Methoden wie die Injektion aufquellender Substan-
zen in den Blasenhals, die laparoskopische Kolposuspension
nach Burch, die Faszienzügelplastik, die offene retropubische
Operation oder das Einsetzen von Netzen kommen je nach
Einzelfall bei Patientinnen in Betracht, die für die Implanta-
tion der spannungsfreien Kunststoffbändchen nicht infrage
kommen beziehungsweise falls weitere Komplikationen
bestehen.
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Renate Bonifer
Quellen: Wood NL, Anger JT: Urinary incontinence in women. BMJ: 2014; 349: g4531.
Interessenlage: Die Autoren des «BMJ»-Reviews geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Angaben zu den in der Schweiz verfügbaren Medikamenten wurden gemäss SwissmedicAngaben ergänzt, der Abschnitt über Inkontinenzpessare gemäss Mittel- und Gegenstände-Liste (MiGeL) des BAG.
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