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FORTBILDUNG
Praktischer Einsatz der neuen oralen Antikoagulanzien bei Vorhofflimmern
Zahlreiche neue orale Antikoagulanzien (NOAC) sind zuletzt in gross angelegten randomisierten Studien erfolgreich zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern untersucht worden. In Anlehnung an diese Ergebnisse wurden bereits einige Vertreter dieser neuen Substanzklassen für diese Indikation zugelassen. Es ist daher zu erwarten, dass die neuen Antikoagulanzien die bisherige Therapie mit VitaminK-Antagonisten bei einer Vielzahl von Patienten ablösen werden. Trotz der in den letzten Jahren erfolgten Zulassungen stellt der Umgang mit den NOAC aufgrund der ausserhalb der Studien noch begrenzten Erfahrungen in der Praxis weiterhin eine Herausforderung für Arzt und Patienten dar.
ERIK WALTER HOLY UND JAN STEFFEL
Bis vor wenigen Jahren galt die orale Langzeitantikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) wie Phenprocoumon (Marcoumar®) als Goldstandard der Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern. Die VKA hemmen die Synthese
Merksätze
O Es ist zu erwarten, dass die neuen Antikoagulanzien (NOAC) die bisherige Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten bei vielen Patienten ablösen werden.
O Ein direkter Vergleich der einzelnen NOAC untereinander ist anhand der aktuellen Datenlage nicht möglich, zumindest bezüglich der Sicherheit spricht jedoch ein Klasseneffekt zugunsten der NOAC.
O Bei einer schwer eingeschränkten Nierenfunktion (GFR < 30 ml) sollten NOAC entsprechend aktueller Guidelines nicht eingesetzt werden.
O Eine Beurteilung des Gerinnungsstatus unter NOAC ist mittels INR-Bestimmung nicht möglich.
O Im Falle einer Blutung oder bei notfallmässigen Eingriffen bei Patienten unter NOAC sind das Absetzen des Präparats sowie die Gabe von Gerinnungsfaktoren und/oder Gefrierplasma die einzigen Optionen.
der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II (Thrombin), VII, IX und X. Trotz der belegten Wirksamkeit als Prophylaxe thromboembolischer Ereignisse ist die Therapie mit VKA in der klinischen Praxis nicht unproblematisch. Häufige Interaktionen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten führen zu einer instabilen Pharmakokinetik und somit schwankenden Wirkung der VKA, welche daher ein regelmässiges Monitoring der Gerinnungszeiten erfordert (1, 2). Aufgrund dieser Limitationen wurde die selektive Hemmung einzelner Faktoren der Gerinnungskaskade als neuartiger therapeutischer Ansatz entdeckt. Im Unterschied zu den VKA wird mit den NOAC nicht die Synthese der inaktiven Vorstufe, sondern der aktivierte Gerinnungsfaktor gezielt gehemmt. Daraus ergibt sich unter anderem ein deutlich rascherer Wirkungseintritt der NOAC im Vergleich zu den VKA. Sowohl für spezifische Faktor-Xa-Inhibitoren als auch für orale direkte Thrombinhemmer (Faktor-IIa) liegen mittlerweile abgeschlossene Studien vor, die deren günstiges Risiko-Nutzen-Profil bei der Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern belegen. Aufgrund dieser Ergebnisse erfolgte in der Schweiz bereits die Zulassung von Dabigatran (Pradaxa®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®) (Tabelle 1). Der vorliegende Artikel liefert neben einer tabellarischen Zusammenfassung der aktuellen Datenlage einen Überblick über die Herausforderungen im Umgang mit NOAC im klinischen Alltag.
Antikoagulation bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz: ein schmaler Grat Eine Antikoagulation bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz stellt eine grosse Herausforderung dar. Diese Patienten sehen sich sowohl mit einem erhöhten Risiko für venöse Thromboembolien als auch einer gesteigerten Blutungstendenz konfrontiert (3). Bei Vorhofflimmern nimmt unter Therapie mit VKA sowohl das Thromboembolierisiko als auch das Blutungsrisiko im Vergleich zu Patienten mit normaler Nierenfunktion überproportional zu (4). Bei Patienten mit einer Kreatininclearance < 30 ml/min ist die Anwendung von Dabigatran kontraindiziert. Bei Rivaroxaban ist ebenso wie bei Apixaban gemäss Herstellerangaben und Zulassung aufgrund der eingeschränkten Datenlage bei einer Clearance zwischen 15 und 30 ml/min Vorsicht geboten; eine Therapie ist bei einer glomerulären Filtrationsrate unter 15 ml/min jedenfalls kontraindiziert. Aufgrund fehlender Daten empfehlen wir in Übereinstimmung mit den aktuellen ESC Guidelines, bei einer schwer eingeschränkten Nierenfunktion (GFR < 30ml) gegen den Einsatz von NOAC (5). Bei Patienten mit mittelschwerer Einschränkung der renalen Funktion (Kreatininclearance 30 bis 50 ml/min) sollte jeweils
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Tabelle 1:
Vitamin-K-Antagonisten und neue orale Antikoagulanzien zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern im Vergleich
Wirkung Dosisanpassung
Warfarin/ Phenprocoumon
Hemmung der Synthese Vitamin-K-abhängiger Faktoren gemäss INR-Wert
Rivaroxaban
direkter Faktor-Xa-Hemmer
Kreatininclearance 30–50 ml/min
Wirkungseintritt Halbwertszeit Pharmakokinetik Interaktionen
regelmässiges Monitoring renale Ausscheidung Zulassung zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern (Schweiz), Stand 08/2014
36–72 Stunden 20/60 Stunden individuell schwankend CYP2C9-, CYP3A4- und CYP1A2-Hemmer erforderlich
92% (inaktive Metaboliten) JA
2–4 Stunden 5–13 Stunden stabil CYP3A4- und P-gp-Hemmer
nicht erforderlich
33% JA
Dabigatran
Apixaban
Edoxaban
direkter Thrombinhemmer Kreatininclearance 30–50 ml/min > 80 Jahre
0,5–2 Stunden 13–27 Stunden stabil P-gp-Hemmer
direkter Faktor-Xa-Hemmer falls 2 der folgenden 3 Kriterien erfüllt: > 80 Jahre < 60 kg Kreatinin > 133 µmol/l 1–3 Stunden 12 Stunden stabil CYP3A4-Hemmer
direkter Faktor-Xa-Hemmer Kreatininclearance 30–50 ml/min < 60 kg gleichzeitige Anwendung von Verapamil, Quinidin oder Dronedaron
1–3 Stunden 9–11 Stunden stabil CYP3A4- und P-gp-Hemmer
nicht erforderlich
nicht erforderlich
nicht erforderlich
80% 50% (der res. Substanz) 35%
JA JA
Phase-III-Studie abgeschlossen, Zulassung ausstehend
P-gp: P-Glykoprotein, ein Transportmolekül in der Zellmembran, das an zahlreichen (Arzneimittel-)Transportvorgängen beteiligt ist. CYP: Cytochrom-Enzyme, die u.a. für den Arzneimittelmetabolismus eine wichtige Rolle spielen
für Dabigatran und Rivaroxaban eine Dosisanpassung vorgenommen werden (Dabigatran 110 mg, Rivaroxaban 15 mg). Aufgrund des hohen renal eliminierten Anteils empfehlen wir den Einsatz von Dabigatran ab einer GFR < 40 ml/min nicht. In Anbetracht der sehr guten Ergebnisse der Subgruppenanalyse scheint hingegen vor allem eine Antikoagulation mit Apixaban bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sehr attraktiv, da vor allem in dieser Gruppe unter Apixaban eine deutlich signifikante Reduktion schwerer Blutungen im Vergleich zu VKA beobachtet wurde (6, 7). Die Ausscheidung der Metaboliten erfolgt überwiegend intestinal, sodass auch bei eingeschränkter Nierenfunktion a priori keine Dosisanpassung erforderlich ist. In der Studie ARISTOTLE erfolgte die Dosisanpassung von 5 mg b.i.d. auf 2,5 mg b.i.d., wenn die Patienten zumindest zwei der folgenden Kriterien erfüllten: Alter > 80 Jahre, Gewicht < 60 kg oder Serumkreatinin > 133 µmol/l. Die publizierten Daten zu Edoxaban (ENGAGE-AF) weisen darauf hin, dass eine Dosisanpassung bei Patienten mit Niereninsuffizienz die Wirksamkeit und Sicherheit von Edoxaban nicht beeinträchtigt. Eine spezifische Subgruppenanalyse in dieser Population ist allerdings noch ausstehend.
Antikoagulation bei betagten Patienten Die Prävalenz des Vorhofflimmerns nimmt mit dem Alter zu und erreicht bei Patienten über 80 Jahre mehr als 10 Prozent (8). Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit werden VKA lediglich bei einem Drittel der Patienten über 85 Jahre trotz gegebener Indikation verschrieben (9). Oftmals wird das Vorent-
halten einer VKA-Therapie mit einer erhöhten Sturzneigung, positiven Blutungsanamnese, schwierigen Compliance oder dem Risiko für intrakranielle Blutungen begründet. Dabei wird das Risiko für einen thromboembolischen Schlaganfall bei denselben Patienten häufig unterschätzt. Auch wenn intrakranielle Blutungen für etwa 90 Prozent der VKA-assoziierten Mortalitäten bei betagten Patienten verantwortlich sind, treten diese, gemäss Ergebnissen der BAFTA-Studie, pro Jahr lediglich bei 0,7 Prozent der behandelten Patienten im Alter über 75 Jahre auf (10, 11). Obwohl sich die Ergebnisse der randomisierten Studien mit NOAC im Wesentlichen auf alle Altersgruppen übertragen lassen, zeigten spezifische Subgruppenanalysen, dass auch betagte Patienten vom günstigen Nutzen-Risiko-Profil der NOAC im Vergleich zu den VKA profitieren. In einer Subgruppenanalyse aus der RE-LY-Studie konnte gezeigt werden, dass Dabigatran 110 mg bei Patienten über 75 Jahre in der Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern einer Therapie mit VKA nicht unterlegen ist und zusätzlich mit einem signifikant niedrigeren Risiko für intrakranielle Blutungen einhergeht (12). Unter Dabigatran 150 mg kommt es zwar neben einer signifikanten Reduktion des Schlaganfallrisikos ebenfalls zu einer Senkung der intrakraniellen Blutungen gegenüber VKA, allerdings führt die Behandlung zu einer Zunahme schwerer gastrointestinaler Blutungen bei Patienten über 75 Jahre. In der Studie ARISTOTLE waren insgesamt 31 Prozent der Patienten über 75 Jahre und 13 Prozent über 80 Jahre alt. Letztere erhielten gemäss Studienprotokoll eine Anpassung
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Tabelle 2:
Unterschiedliche Studiendesigns und Patientenpopulationen in den NOAC-Studien
Wirkstoff Dosierung Anwendung Studiendesign
Patientenzahl durchschnittlicher CHADS2-Score Zeitraum (Median)
RELY
Dabigatran 150 mg und 110 mg 2× tgl. prospektiv, randomisiert, offene Studie, verblindete Endpunktauswertung (PROBE-Design) 18 113 2,1 und 2,2 2 Jahre
ROCKET-AF Rivaroxaban 20 mg und 15 mg 1× tgl. prospektiv, randomisiert, doppelblind
14 266 3,5 1,94 Jahre
ARISTOTLE Apixaban 5 mg 2× tgl. prospektiv, randomisiert, doppelblind
18 206 2,1 1,8 Jahre
ENGAGE AF-TIMI 48 Edoxaban 60 mg und 30 mg 1×tgl. prospektiv, randomisiert, doppelblind
21 105 2,8 2,8 Jahre
der Apixaban-Dosis auf 2,5 mg zweimal täglich. Auch wenn in der Altersgruppe >75 Jahre häufiger Schlaganfälle und schwere Blutungen auftraten und eine höhere Gesamtmortalität verzeichnet wurde, traten unter Apixaban insbesondere bei den über 80-Jährigen signifikant weniger hämorrhagische Schlaganfälle und schwere Blutungen auf als unter VKA (13). Ähnliche Ergebnisse wurden kürzlich auch aus einer Subgruppenanalyse der ROCKET-AF-Studie publiziert. Hier zeigte sich, dass bei den 6229 Patienten ≥75 Jahre (44%) Rivaroxaban einer Behandlung mit den VKA bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit nicht unterlegen ist (14). Eine entsprechende Subgruppenanalyse aus der ENGAGE-AFStudie wurde bisher noch nicht publiziert. Es zeigt sich jedoch in der Hauptstudie, dass die Wirksamkeit und das überlegene Sicherheitsprofil von Edoxaban altersunabhängig sind.
Können wir die NOAC untereinander vergleichen? Unterschiede in den Studiendesigns und das bisherige Fehlen entsprechender prospektiver randomisierter Vergleichsstudien machen einen direkten Vergleich der NOAC hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit sehr schwierig (Tabellen 2, 3a und 3b ) (15, 16). Während die RE-LY-Studie ein sogenanntes PROBE-Design aufweist (prospective randomized open trial with blinded end point evaluation), bei dem die Patienten einfachblind randomisiert wurden, sind AVERROES, ARISTOTLE, ROCKET-AF und ENGAGE-AF Doppelblindstudien. In der ENGAGE-AF-Studie wiederum erfolgte in der Edoxabangruppe eine Dosisanpassung (von 60 mg auf 30 mg bzw. von 30 mg auf 15 mg) entsprechend möglichen individuellen Wirkungsinteraktionen (Kreatininclearance, Alter, gleichzeitiger Einsatz eines p-Glycoproteinhemmers). Im Gegensatz zu den anderen Studien konnte in ENGAGE-AF während der gesamten Studiendauer eine Anpassung der Edoxabandosierung zu jedem Zeitpunkt der Studiendauer vorgenommen werden, wenn ein entsprechendes Kriterium hierzu vorlag. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den Studien liegt insbesondere in den Charakteristika der eingeschlossenen Populationen. In ROCKET-AF wurde eine ältere Population mit höherem Schlaganfallrisiko als in RE-LY, ARISTOTLE oder ENGAGE-AF eingeschlossen. Während in ROCKET-AF der durchschnittliche CHADS2-Score bei 3,5 Punkten lag, erreichten die Patienten in den beiden ande-
ren Studien im Schnitt einen Score von 2,1 Punkten. Ausserdem befanden sich in RE-LY und ARISTOTLE etwa ein Drittel der Patienten in der Niedrigrisikogruppe (CHADS2-Score 0–1), während in ROCKET-AF diese Patienten nicht eingeschlossen wurden. In ENGAGE-AF lag der durchschnittliche CHADS2-Score bei Einschluss bei 2,8 Punkten in allen drei Gruppen (VKA, Edoxaban 30 mg und Edoxaban 60 mg). In die Studie eingeschlossen wurden Patienten, die einen Score von mindestens 2 Punkten aufwiesen. Ein direkter Vergleich der einzelnen NOAC untereinander anhand der aktuellen Datenlage ist somit nicht möglich. Allerdings haben die vorliegenden Studien deutlich gezeigt, dass bezüglich Sicherheit (intrakranielle und schwerste Blutungen) ein Klasseneffekt zugunsten der NOAC spricht (17). Das überzeugende Risiko-Nutzen-Profil dieser neuen Substanzklasse fand ebenfalls Niederschlag in den aktuellen Richtlinien der European Society of Cardiology (ESC), die unter Berücksichtigung der Kontraindikationen primär den Einsatz der NOAC zur Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit Vorhofflimmern empfiehlt (5).
Einfluss auf die Routinegerinnungstests und Massnahmen bei Blutungskomplikationen unter NOAC Durch die berechenbare und stabile Pharmakokinetik ist ein Monitoring der Gerinnungszeiten unter Behandlung mit NOAC nicht nötig. Wie im Folgenden beschrieben kommt es zwar unter Anwendung der NOAC zu einer Veränderung verschiedener Gerinnungsparameter, allerdings eignen sich diese nicht für eine Überwachung des Antikoagulationsstatus, insbesondere im Langzeitverlauf. Gleichwohl ist es möglich, den Grad der Blutgerinnung zu bestimmen, was insbesondere in Notfallsituationen von Nutzen sein kann. Sowohl die Prothrombinzeit (PT) als auch die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) sind unter Therapie mit dem direkten Thrombinhemmer Dabigatran erhöht. Die blutverdünnende Wirkung von Dabigatran kann mittels des HEMOCLOT™-Assays im Plasma bestimmt werden. Hierzu kann auch insbesondere in Speziallabors die «Ecarin Clotting Time (ECT)» in Betracht gezogen werden. Die direkten FXa-Hemmer führen ebenfalls zu einer Erhöhung der aPTT sowie PT und somit auch INR. Auch hier muss wieder berücksichtigt werden, dass die Standardisierung der INR-Werte bisher lediglich für VKA erfolgte. Eine
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Tabelle 3a:
Detailresultate der NOAC-Studien bezüglich des primären Endpunkts und der Gesamtmortalität im Vergleich mit dem VKA Warfarin
Studie RELY
Substanz Dosis
Dabigatran Warfarin
150 mg 110 mg
Primärer Endpunkt: Schlaganfall oder systemische Embolie
Ereignisrate
pro Jahr
HR
p
ARR
1,11%
0,66
< 0,001 0,58% 1,53% 0,91 < 0,001 0,16% 1,69% Gesamtmortalität Ereignisrate pro Jahr 3,64% 3,75% 4,13% HR 0,88 0,91 p ARR 0,051 0,49% 0,053 0,38% ARISTOTLE Apixaban Warfarin 5 mg 1,27% 0,79 < 0,001 0,33% 1,60% 3,52% 0,89 0,01 0,42% 3,94% ROCKET-AF Rivaroxaban 20 mg Warfarin 1,53% 0,91 < 0,001 0,16% 2,2% 4,52% 0,92 0,152 0,39% 4,91% ENGAGE AF Edoxaban Warfarin 60 mg 30 mg 1,18% 0,79 < 0,001 0,32% 1,61% 1,07 0,005 1,50% 3,99% 0,92 0,08 0,36% 3,80% 0,87 0,006 0,55% 4,35% HR: Hazard Ratio im Vergleich mit Warfarin. ARR: absolute Reduktion der Ereignisrate pro Jahr im Vergleich mit Warfarin; diese wird hier nur für statistisch signifikante Unterschiede angegeben. In absoluten Zahlen bedeutet dies beispielsweise in der RELY-Studie mit Dabigatran 150 mg: Von 1000 Patienten mit Dabigatran erleiden pro Behandlungsjahr 11 den primären Endpunkt, und insgesamt 36 Patienten sterben. Im gleichen Zeitraum sind es pro 1000 Patienten mit Warfarin 17 Patienten mit primärem Endpunkt und insgesamt 41 Verstorbene. Pro 1000 Patienten mit Dabigatran erleiden also 6 Patienten weniger den primären Endpunkt, und es sind auf 1000 Patienten 5 Todesfälle weniger im Vergleich mit Warfarin. Tabelle 3b: Detailresultate der NOAC-Studien bezüglich Blutungsrisiko im Vergleich mit dem VKA Warfarin Studie RELY Substanz Dosis Dabigatran 150 mg 110 mg Warfarin Hämorrhagische Insulte Ereignisrate pro Jahr HR p ARR 0,1% 0,26 <0,001 0,28% 0,12% 0,31 <0,001 0,26% 0,38% Ischämische Insulte Ereignisrate pro Jahr HR p 0,92% 0,76 0,03 1,34% 1,2 0,35 1,20% ARR 0,28% Schwere Blutungen Ereignisrate pro Jahr HR p ARR 3,11% 0,93 0,31 0,25% 2,71% 0,80 0,003 0,65% 3,36% ARISTOTLE Apixaban 5 mg Warfarin 0,24% 0,47% 0,51 <0,001 0,23% 0,97% 1,05% 0,92 0,42 0,08% 2,13% 3,09% 0,69 0,001 0,96% ROCKET-AF Rivaroxaban 20 mg Warfarin 0,26% 0,44% 0,59 0,012 0,33% 1,62% 1,64% 0,99 0,92 0,02% 3,6% 3,45% 0,92 0,58 ENGAGE AF Edoxaban Warfarin 60 mg 30 mg 0,26% 0,16% 0,47% 0,54 <0,001 0,21% 0,16 <0,001 0,31% 1,25% 1,77% 1,25% 1,00 0,97 0,28% 1,41 <0,001 1,61% 2,75% 0,47 3,43% 0,80 <0,001 0,68% <0,001 1,82% HR: Hazard Ratio im Vergleich mit Warfarin. ARR: absolute Reduktion der Ereignisrate pro Jahr im Vergleich mit Warfarin; diese wird hier nur für statistisch signifikante Unterschiede angegeben. Beurteilung des Gerinnungsstatus mittels INR-Bestimmung ist somit auch bei den FXa-Hemmern nicht zulässig. Aufgrund der bisher fehlenden Zulassung spezifischer Antidots sind im Falle einer Blutung oder bei notfallmässigen Eingriffen das Absetzen des Präparats sowie die Gabe von Gerinnungsfaktoren und/oder Gefrierplasma die einzigen Optionen. Vorteilhaft wirkt sich hierbei sicher die relativ kurze Halbwertszeit aus, welche eine rasche Elimination aus dem System zur Folge hat und welche ähnlich schnell wirken dürfte wie die Gabe von Vitamin K als «Antidot» bei Coumarin-Überdosierung. Obwohl in experimentellen Studien die Verwendung von rekombinantem FVIIa, aktivierten Prothrombinkomplexkonzentraten oder rekombinanten FXaKonzentraten die antikoagulatorische Wirkung der NOAC zum Teil aufhebt, bleibt weiterhin unklar, ob diese Massnahmen in der Praxis tatsächlich eine Eindämmung akuter Blutungen 1060 ARS MEDICI 21 I 2014 FORTBILDUNG Tabelle 4: Perioperatives Management bei Patienten mit NOAC: Zeitpunkt der letzten Einnahme vor dem Eingriff Clearance Dabigatran Apixaban Rivaroxaban Blutungsrisiko: niedrig hoch niedrig hoch niedrig hoch > 80 ml/min
> 24 h > 48 h > 24 h > 48 h > 24 h > 48 h
50–80 ml/min > 36 h > 72 h > 24 h > 48 h > 24 h > 48 h
30–50 ml/min > 48 h > 96 h > 24 h > 48 h > 24 h > 48 h
15–30 ml/min nicht indiziert gemäss ESC Guidelines 2010/2012
Sehr niedriges Blutungsrisiko: Bei Zahninterventionen, Katarakt-/Glaukom-OP, Endoskopie ohne Intervention sollte der Eingriff im Talspiegel des NOAC liegen = vor geplanter nächster Gabe. Die nächste Dosis dann 6 Stunden nach dem Eingriff (bei guter Hämostase).
Niedriges Blutungsrisiko: z.B. Endoskopie mit Biopsie, Prostata-/Blasenbiopsie, Schrittmacher-/ ICD-Implantation oder Angiografie.
Hohes Blutungsrisiko: z.B. Spinal-/Epiduralanästhesie, Lumbalpunktion, Thorax-/Abdominalchirurgie, grösserer orthopädischer Eingriff oder Leber-/Nierenbiopsie.
bewirken. Somit bleibt die direkte Antagonisierung der NOAC der anzustrebende Ansatz. Entsprechende Moleküle sind sowohl für die Faktor-Xa-Hemmer als auch für die direkten Thrombinhemmer aktuell in Entwicklung und teilweise bereits in Phase-II-Studien erfolgreich getestet worden. Entscheidend ist jedoch, dass eine Normalisierung der Gerinnung nicht zwingend mit einer verbesserten Prognose vergesellschaftet ist; dies konnte insbesondere für die Hirnblutung unter VKA eindrücklich belegt werden (18, 19).
Perioperatives Management mit den NOAC: Worauf ist zu achten? Das perioperative Management unter Therapie mit NOAC richtet sich im Wesentlichen nach der Halbwertszeit der einzelnen Substanzen (Tabelle 2) und dem Blutungsrisiko des bevorstehenden Eingriffs. Gemäss Empfehlungen der European Heart Rhythm Association (EHRA) sollten für Rivaroxaban oder Apixaban die letzte Einnahme mehr als 24 Stunden vor dem geplanten Eingriff erfolgen (Tabelle 4). Für Eingriffe mit hohem Blutungsrisiko (zum Beispiel neurochirurgische Eingriffe) sollte die letzte Gabe mindestens 48 Stunden zurückliegen. Bei Dabigatran sollte die Therapie vor allem in Abhängigkeit der Nierenfunktion 1 bis 4 Tage vor dem Eingriff sistiert werden. Bei erhöhtem Thromboserisiko kann ein «Bridging» mit niedermolekularen Heparinen (LMWH) in Betracht gezogen werden. Allerdings ist zu beachten, dass bisher weder der CHADS2-Score noch der CHA2DS2-Vasc-Score zur Beurteilung des perioperativen Schlaganfallrisikos bei Patienten mit Vorhofflimmern evaluiert wurden. Die LMWH-Dosis wird 24 Stunden nach der letzten NOAC-Einnahme verabreicht. Die postoperative LMWH-Dosis ist wiederum von der Risikobeurteilung abhängig. Bei unkompliziertem postoperativem Verlauf kann ab dem ersten postoperativen Tag wieder auf NOAC umgestellt werden, vorausgesetzt, es finden sich keine Hinweise für aktive Blutungsstigmata. Eine überlappende Gabe von LMWH und NOAC ist nicht erforderlich. Es ist zu erwarten, dass durch die zunehmende Erfahrung mit den NOAC in den einzelnen Kliniken entsprechende interne
Richtlinien für das perioperative Management erarbeitet werden. Die obengenannten perioperativen Massnahmen beruhen auf aktuellen Herstellerangaben und kürzlich erschienenen Publikationen. Für Edoxaban liegen ausserhalb der Studienprotokolle bezüglich perioperativen Bridgings derzeit noch keine Empfehlungen vor.
Einsatz der NOAC im Rahmen der Elektrokonversion Bisherige Post-hoc-Analysen aus RE-LY, ROCKET-AF und ARISTOTLE deuteten darauf hin, dass eine vorgängige dreiwöchige Therapie mit NOAC einer Behandlung mit VKA im therapeutischen Zielbereich (INR 2-3) hinsichtlich Schlaganfallprophylaxe ebenbürtig ist. An der diesjährigen Jahrestagung der ESC (ESC Congress 2014, Barcelona) wurden die mit Spannung erwarteten ersten prospektiven Studienergebnisse mit Rivaroxaban vorgestellt (X-Vert). Insgesamt wurden 1500 Patienten, die eine elektrische oder pharmakologische Konversion erhielten, randomisiert. Allerdings handelte es sich hierbei um eine deskriptive Vergleichsstudie, die für statistische Signifikanz nicht «gepowert» wurde. Es zeigte sich jedoch, dass der primäre kombinierte Wirksamkeitsendpunkt (Schlaganfälle, transiente zerebrale Ischämien, periphere Embolien, Myokardinfarkte und kardiovaskulärer Tod) in beiden Gruppen nach Elektrokonversion in etwa gleich häufig auftrat (Rivaroxaban: 0,5%; Warfarin: 1,02%). Auch in puncto Sicherheit (schwere Blutungen) fanden sich keine Unterschiede. Auffallend ist: Während in der VKAGruppe ein «time in therapeutic range» von 21 Tagen im Schnitt erst nach über vier Wochen erreicht wurde (Median 30 Tage), konnten Elektrokonversionen in der Rivaroxabangruppe bereits nach dreiwöchiger Therapie durchgeführt werden (Median 22 Tage).
Zusammenfassung
Aufgrund der überzeugenden Datenlage und des günstigen
Nutzen-Risiko-Profils ist davon auszugehen, dass die neuen
oralen Antikoagulanzien (NOAC) die jahrzehntelange Stan-
dardtherapie mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) bei der
grossen Mehrzahl von Patienten mit Vorhofflimmern ablö-
sen werden. Ein wesentlicher Vorteil dürfte darin bestehen,
dass nun auch Patientengruppen von einer Antikoagulation
profitieren können, denen eine bisherige Therapie mit VKA
trotz bestehender Indikation zur Antikoagulation aufgrund
des erhöhten Blutungsrisikos vorenthalten blieb. Ein umsich-
tiger, differenzierter Einsatz ist jedoch essenziell, damit Pa-
tienten bestmöglich von den neuen Substanzen profitieren
können.
O
PD Dr. med. Jan Steffel Co-Leiter Rhythmologie, Klinik für Kardiologie Universitäres Herzzentrum Zürich Universitätsspital Zürich, Rämistrasse 100, 8091 Zürich E-Mail: jan.steffel@usz.ch
Interessenlage: Dr. med. univ. Dr. sc. nat. Erik W. Holy hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel. PD Dr. med. Jan Steffel hat Beratungs- und/oder Vortragshonorare von Amgen, Astra-Zeneca, Bayer, Biosense Webster, Biotronik, BoehringerIngelheim, Bristol-Myers Squibb, Cook Medical, Daiichi-Sankyo, Medtronic, Novartis, Pfizer, Roche, Sanofi-Aventis, Sorin und St. Jude Medical erhalten und ist Co-director von CorXL.
Literatur unter www.arsmedici.ch.
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