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FORTBILDUNG
LUTS bei Männern richtig diagnostizieren und behandeln
Nicht immer liegt eine Prostatahyperplasie zugrunde
Schätzungsweise ein Drittel aller über 50-jährigen Männer leidet an moderat bis stark ausgeprägten Symptomen des unteren Harntrakts. Die Beschwerden nehmen mit steigendem Lebensalter an Häufigkeit und Schwere zu, lassen sich aber meist im Rahmen der Grundversorgung durch Lebensstilmassnahmen oder Medikamente hinreichend unter Kontrolle bringen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Da Symptomen des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS) neben einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) eine Reihe anderer Ursachen zugrunde liegen kann (Kasten 1), ist eine symptombasierte Klassifikation sinnvoll (Kasten 2). Probleme im Zusammenhang mit der Blasenentleerung stehen zahlenmässig im Vordergrund, sind aber weniger belastend als Harnspeicherungsstörungen, die betroffene Männer typischerweise zum Arzt führen. Entleerungsschwierigkeiten deuten auf eine Obstruktion des Blasenausflusses hin, die gewöhnlich durch BPH, aber auch durch Harnröhrenstriktur, Meatusstenose oder Vorhautverengung verursacht wird. Mitunter kann aber auch eine verminderte Kontraktilität des Destrusormuskels die Ursache für Entleerungsstörungen sein. Bei BPH-bedingter Blasenausflussobstruktion kommt es häufig zu einer Mischung
Merksätze
aus Entleerungs- und Speicherungsstörungen, wobei sich Letztere sekundär durch morphologische und funktionelle Veränderungen des Detrusors als Folge der Obstruktion entwickeln. Isolierte Speicherungsstörungen gehen meistens auf eine überaktive Blase (overactive bladder, OAB) zurück. Das Kardinalsymptom ist hier plötzlicher imperativer Harndrang, möglicherweise begleitet von Dranginkontinenz, welche mit gesteigerter Miktionsfrequenz und nächtlicher Blasenschwäche verbunden sein kann. Bei der OAB lassen sich eine primäre (idiopathische) und sekundäre Formen aufgrund von BPH-bedingter Blasenausflussobstruktion, entzündlichen oder neoplastischen Blasenveränderungen oder neurologischen Erkrankungen (Morbus Parkinson, multiple Sklerose, Rückenmarkverletzung) unterscheiden. Als einzelnes Symptom ist die nächtliche Blasenschwäche, definiert als zweimaliges oder häufigeres nächtliches Waserlassen, sehr häufig bei alternden Männern anzutreffen (> 70-Jährige: ca. 30–60%) und mit einer Vielzahl möglicher Ursachen (z.B. periphere Ödeme, Herzinsuffizienz, Medikamente, Diabetes, Schlafstörungen, Demenz) assoziiert.
Begleitsymptomatik LUTS gelten als sehr eng mit erektiler Dysfunktion oder Ejakulationsstörungen vergesellschaftet. BPH und OAB werden mit vielerlei Aspekten des metabolischen Syndroms, einschliesslich Typ-2-Diabetes, Fettleibigkeit und Hypertonie, in Zusammenhang gebracht; die genauen zugrunde liegenden Mechanismen sind allerdings nicht vollständig geklärt. Des Weiteren erhöhen LUTS bei älteren Männern das Risiko für wiederholte Stürze.
O Symptome des unteren Harntrakts (LUTS) bei Männern haben vielfältige Ursachen und sind oft multifaktoriell bedingt.
O Massnahmen zur Lebensstiländerung, insbesondere die Flüssigkeitsaufnahme betreffend, können bei Männern mit LUTS wirkungsvoll sein.
O BPH-bedingte LUTS werden gewöhnlich mit Alphablockern, solche aufgrund einer überaktiven Blase (OAB) mit Antimuskarinika behandelt. 5α-Reduktase-Inhibitoren können das Progressionsrisiko reduzieren.
O Für Patienten, die auf eine medikamentöse Therapie nicht ansprechen, existiert eine Reihe von chirurgischen Optionen.
Diagnostisches Vorgehen Basis der Diagnostik ist eine gezielte Anamnese mit spezifischen Fragen zum Vorliegen von Speicherungs-, Entleerungsund Postmiktionsstörungen. Bei der körperlichen Untersuchung ist der Fokus auf Blasenveränderungen (Palpation oder Abklopfen), Meatusstenose, Phimose, Hypospadie sowie auf Grösse und Oberflächenkonsistenz der Prostata (digital-rektale Untersuchung, DRU) zu richten. Das Vorliegen von Glukosurie, Hämaturie oder von Leukozyten beziehungsweise Nitriten als Hinweise auf einen möglichen Harnwegsinfekt (HWI) kann mittels Urinteststreifen abgeklärt werden. Bei Verdacht auf Nierenschädigung ist ausserdem die Serumkreatininkonzentration zu prüfen. Die Patienten sollten aufgefordert werden, mittels Fragebogen über einen Zeitraum von mindestens drei Tagen Angaben
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Kasten 1:
Mögliche Ursachen für LUTS bei Männern
O gutartige Prostatavergrösserung (aufgrund von benigner Prostatahyperplasie)
O überaktive Blase (z.B. aufgrund von Überaktivität des Detrusormuskels)
O Harnwegsinfektion O chronische Prostatitis (oder chronisches Beckenschmerzsyndrom) O nächtliche Polyurie O Hyperkontraktilität (oder Versagen) des Detrusors O neurogene Blasendysfunktion O Fremdkörper in Blase oder Urethra O urethrale Striktur, Meatusstenose oder Phimose O Steinbildung in Blase, distalem Ureter oder Urethra O Blasentumor O fortgeschrittenes Prostatakarzinom O Pharmaka
– verschriebene Medikamente (z.B. Diuretika, Kalziumkanalblocker) – Koffein, Alkohol, Dekongestiva, Antihistaminika – illegale Drogen (z.B. Ketamin)
O exzessive Flüssigkeitsaufnahme
Kasten 2:
Symptomorientierte Klassifikation von LUTS
O Speicherung: plötzlicher Harndrang, Miktionsfrequenz, Nykturie, Dranginkontinenz
O Entleerung: verzögertes/unterbrochenes/anstrengendes Wasserlassen, langsamer Fluss, terminales Harnträufeln
O Postmiktion: postmiktionelles Träufeln, Gefühl der unvollständigen Blasenentleerung
zu Miktionsfrequenz und Harnvolumen sowie zu Art, Menge und Zeitpunkt der Flüssigkeitsaufnahme zu machen. Die Leitlinien sowohl der britischen als auch der amerikanischen urologischen Gesellschaft empfehlen zur Evaluierung von LUTS den Einsatz des International Prostate Symptom Score (IPSS). Die LUTS-Guidelines des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) raten sogar, vor einer medikamentösen BPH-Therapie zunächst eine IPSS-Auswertung durchzuführen und diese im Verlauf der Behandlung gegebenenfalls zwecks Objektivierung der Therapieantwort zu wiederholen. Mithilfe der Erfassung von diversen Risikofaktoren (Kasten 3) lassen sich möglicherweise Männer identifizieren, bei denen ein sehr hohes Risiko für eine klinische Progression von LUTS besteht.
PSA-Test für alle? Das NICE empfiehlt allen Männern mit BPH-verdächtigen LUTS, einer auffälligen DRU oder Bedenken hinsichtlich eines möglicherweise vorliegenden Prostatakarzinoms einen PSA-Test. Die American Urological Association (AUA) rät zu einem PSA-Test bei Männern mit einer mindestens 10-jähri-
gen Lebenserwartung, bei denen die Kenntnis über das Vorliegen eines Prostatakarzinoms die weitere Behandlung verändern würde, oder bei Patienten, bei denen die Messergebnisse die Therapie von Entleerungssymptomen beeinflussen könnten. Aufgrund der kontroversen Diskussionen um den Stellenwert des PSA-Tests als Screeningtool für Prostatakrebs ist jedoch im Vorfeld eine adäquate Beratung der Patienten unerlässlich.
Wann zum Spezialisten? Alle Patienten, die nicht ausreichend auf eine medikamentöse Therapie ansprechen, sind einer fachärztlichen Begutachtung zuzuweisen. Insbesondere bei karzinomverdächtiger DRU, erhöhtem PSA-Wert, akutem oder chronischem Harnverhalt oder rezidivierenden HWI sowie bei neu auftretenden Speicherungssymptomen, die sich unter medikamentöser Behandlung nicht bessern und mit «Red Flag»-Zeichen wie Hämaturie oder steriler Pyurie mit Dysurie einhergehen, sollte die Zuweisung zum urologischen Spezialisten möglichst frühzeitig erfolgen.
Konservative Behandlungsoptionen Obwohl diesbezüglich nur wenige qualitativ hochwertige Evidenz vorliegt, können bei manchen Männern bereits einfache Lebensstilmodifikationen ausreichen, um LUTS in den Griff zu bekommen. Dazu zählen Veränderungen der Art (weniger koffein- und kohlensäurehaltige oder alkoholische Getränke zur Besserung von Speicherungsstörungen), der Menge und des Zeitpunkts der Flüssigkeitsaufnahme (geringere abendliche Flüssigkeitszufuhr zur Besserung von Nykturie). Bei manchen Patienten kann sich auch die Behandlung chronischer Verstopfung günstig auf LUTS auswirken. Bei postmiktionellem Träufeln kann das Erlernen manueller Techniken zur Entleerung von Resturin in der Harnröhre oder auch ein Beckenbodentraining hilfreich sein. Männer mit OAB sollten ein spezielles Blasentraining durchführen. Da es Hinweise aus Beobachtungsstudien gibt, dass viele häufig rezeptierte Medikamente zu LUTS beitragen können, sollten alle Patienten zu allenfalls eingenommenen, sowohl verschriebenen als auch frei verkäuflichen Arzneimitteln befragt werden.
Medikamentöse Therapie BPH Die präferierten Medikamente zur Therapie von BPH stellen in den meisten Fällen Alphablocker dar, die über eine Relaxation der glatten Muskulatur am Blasenhals und in der Prostata wirken. Moderne «uroselektive» Substanzen wie Tamsulosin (Pradif® und Generika) und Alfuzosin (Xatral® und Generika) haben sich als ähnlich wirksam erwiesen wie ältere Medikamente (z.B. Doxazosin: Cardura® CR und Generika, Terazosin: Hytrin BPH®), bei allerdings geringeren Raten assoziierter posturaler Hypertonie. Mit Alphablockern lassen sich sowohl Speicherungs- als auch Entleerungsstörungen zwar erfolgreich lindern, deren Progression sowie auf lange Sicht das Risiko von Harnverhalt und BPHassoziierter Operation allerdings nicht verhindern. Die beiden für den klinischen Einsatz verfügbaren 5␣Reduktase-Inhibitoren Finasterid (Proscar® und Generika) und Dutasterid (Advodart®) haben sich in einer direkten
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Kasten 3:
Risikofaktoren für klinische Progression von BPH-bedingten LUTS
O zunehmendes Lebensalter
O schwere Symptome (IPSS > 20)
O Prostatavolumen > 40 ml (d.h. vergrösserte Prostata in der DRU)
O PSA > 1,4 ng/ml
O maximale Harnflussrate (Qmax) < 12 ml/s
IPSS: International Prostate Symptom Score; DRU: digital-rektale Untersuchung; PSA: prostataspezifisches Antigen
Vergleichsstudie sowohl hinsichtlich ihrer Effektivität als auch bezüglich ihrer Nebenwirkungen als gleichwertig erwiesen. Eine Besserung der Symptome stellt sich unter diesen Substanzen zwar langsamer ein als mit Alphablockern, allerdings sind sie in der Lage, das Risiko von Harnverhalt und BPH-assoziierten Operationen zu reduzieren. Sämtliche Phosphodiesterase-(PDE-)5-Hemmer (Sildenafil: Viagra®, Revatio®, Generika; Vardenafil: Levitra®, Vivanza®; Tadalafil: Cialis®, Adcirca®) verbessern laut Studien nicht nur die erektile Funktion, sondern auch LUTS. Tadalafil (1-mal täglich 5 mg) ist bis anhin der einzige zur Behandlung von Männern mit erektiler Dysfunktion und LUTS zugelassene PDE-5-Hemmer. Eine randomisierte, plazebokontrollierte, doppelblinde Vergleichsstudie konnte kürzlich Tadalafil und Tamsulosin eine ähnliche positive Wirkung auf LUTS und Harnflussraten bescheinigen, woraufhin PDE-5Hemmer Eingang in die 2013 erschienenen Guidelines der European Association of Urology (EAU) zur Behandlung von LUTS gefunden haben. Für Patienten mit hohem Risiko für eine klinische Progression oder mit unter alleiniger Alphablockertherapie unzureichender Symptomkontrolle kann die Kombination aus einem Alphablocker mit einem 5α-Reduktase-Inhibitor (Dutasterid plus Tamsulosin: Duodart®, Finasterid plus Doxazosin: nicht im AK der Schweiz) eine Option darstellen. Auch die Gabe eines Antimuskarinikums kann in bestimmten Fällen von Nutzen sein. In randomisierten, kontrollierten Studien haben Homöopathie, Akupunktur oder Phytotherapie bei LUTS keine überzeugende Wirkung zeigen können, obwohl sie in manchen Ländern zu diesem Zweck häufig eingesetzt werden.
massnahmen und einer Fokussierung auf potenziell zugrunde liegende Ursachen entweder mit einem Schleifendiuretikum (z.B. Furosemid [Lasix® und Generika] 40 mg, verabreicht täglich gegen 16 Uhr) oder mit Desmopressin (Minirin®, Nocturin®, Nocutil®, Octostim®) behandelt werden. Bei mit BPH oder OAB assoziierter Nykturie kommen zur medikamentösen Therapie gewöhnlich entweder Alphablocker oder Antimuskarinika infrage. Zur Wirksamkeit dieser Substanzen wie auch von ebenfalls zum Teil in dieser Indikation eingesetzten nicht steroidalen Entzündungshemmern (NSAID) oder Melatonin (Circadin®) existiert allerdings nur begrenzte Evidenz.
Was tun, wenn Medikamente nicht helfen? Bei Männern mit trotz medikamentöser Therapie unkontrollierten LUTS stellt die transurethrale Prostataresektion (TURP) den historischen Standard und die in dieser Situation nach wie vor am meisten eingesetzte chirurgische Technik dar. Neben diesem traditionellen Verfahren haben sich inzwischen auch andere endoskopische Techniken etablieren können, die bei vergleichbaren Kurzzeitresultaten geringere Transfusionsraten und eine kürzere Spitalaufenthaltsdauer ermöglichen. In immer mehr Zentren wird darüber hinaus auch die Laserchirurgie zur Behandlung der BPH angeboten. Während die Holmium-Laser-Prostatektomie bereits vom NICE und von der EAU genehmigt wurde, ist der Einsatz der GreenlightLaser-Vaporisation in den NICE-Guidelines 2010 noch auf randomisierte, kontrollierte Studien beschränkt. Mögliche Optionen zur Behandlung der nicht neurogenen OAB bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit von Medikamenten umfassen die Injektion von intravesikalem Botulinumtoxin, die Neuromodulation (implantierbare Sakralnervstimulatoren), die transkutane posteriore tibiale Nervenstimulation und die Blasenerweiterungsplastik. O
Ralf Behrens
Rees J et al.: The management of lower urinary tract symptoms in men. BMJ 2014; 348: g3861.
OAB Zur Behandlung von OAB werden bevorzugt Antimuskarinika (Solifenacin: Vesicare®, Tolterodin: Detrusitol® SR) verwendet. Diese Substanzen wirken auf die muskarinischen Rezeptoren in der Detrusormuskulatur und damit der Blasenüberaktivität entgegen. Sind Antimuskarinika wirkungslos oder unverträglich, kommen als Zweitlinientherapie die neuen 3-Adrenozeptor-Agonisten (z.B. Mirabegron: Betmiga®) infrage.
Nykturie Männer mit nächtlicher Blasenschwäche können nach Ausschöpfen von oben beschriebenen Lebensstiländerungs-
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