Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Psychoneuroendokrinologie
Stress wirkt auch «secondhand»
Stresssituationen entfalten ihre physiologischen Auswirkungen auf den menschlichen Organismus nicht nur dann, wenn sie am eigenen Leib erfahren werden, sondern sie können eine Person auch dann beeinflussen, wenn diese in Konstellationen, in denen jemand anderes Stress ausgesetzt ist, lediglich eine Beobachterrolle innehat. Dabei ist das Zustandekommen einer solchen Stressreaktion grundsätzlich unabhängig davon, ob eine emotionale Beziehung zur beobachteten Person besteht oder ob die stressauslösende Situation real oder nur fiktiv ist. Zu diesem interessanten Ergebnis kamen Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig und von der Technischen Universität Dresden in einer experimentellen Multizenterstudie, in
der sie die Stressreaktionen (Anteil der Stresshormone Kortisol und α-Amylase im Speichel, Herzfrequenz) von Individuen quantifizierten, die in der einen Versuchsanordnung («Real-life»Modalität) eine ihnen nahestehende oder aber eine fremde Person des anderen Geschlechts, welche sich unter dem Einfluss von Stressoren befand, durch einen Einwegspiegel beobachteten. Im anderen Setting wurde die «gestresste» Person sowohl von ihrem jeweiligen Partner als auch von einem Fremden, die sich getrennt voneinander in zwei verschiedenen Räumen aufhielten, per Videoübertragung beobachtet (virtuelle Beobachtung). Als Stressor fungierte der Trier-Social-Stress-Test (TSST), bei dem die Teilnehmer fingierte Bewerbungsgespräche führen sowie diverse Kopfrechenaufgaben lösen müssen. Zunächst
einmal zeigte sich wenig Überraschendes: Die Wahrscheinlichkeit einer charakteristischen Zunahme der Kortisolkonzentration war höher, wenn die betreffende Person ihren jeweiligen Partner beobachtete, verglichen mit Situationen, in denen sie einem Fremden zusah. Und auch das Real-Life-Setting erbrachte höhere Probabilitätswerte für eine Stressreaktion beim Beobachter als die virtuelle Modalität. Die Tatsache jedoch, dass eine solche sogenannte empathische Stressreaktion sogar dann auftreten kann, wenn völlig fremde Personen involviert sind und die Situation nur über einen Videobildschirm verfolgt wird, könnte nach Ansicht der deutschen Forscher eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung stressassoziierter Erkrankungen haben.
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Engert V et al.: Cortisol Increase in Empathic Stress is modulated by Social Closeness and Observation Modality. Psychoneuroendocrinology, published online April 16, 2014.
Neurologie
Wie lange dauern typische Symptome einer Gehirnerschütterung?
Obgleich Unfälle mit einer Gehirnerschütterung (Commotio cerebri; engl: mild brain trauma) bei Kindern und Jugendlichen nicht selten sind, weiss man bis anhin relativ wenig darüber, wie lange die typischen Symptome im Durchschnitt anhalten. Ein Jahr lang wurden in einer prospektiven Studie systematisch alle infrage kommenden Fälle erfasst, bei denen Patienten im Alter von 11 bis 22 Jahren innert 72 Stunden nach dem Unfall in eine US-amerikanische Notfallambulanz kamen. Es handelte sich um insgesamt 302 Fälle, von denen 280 in die Studie aufgenommen wurden; 235 von ihnen füllten mindestens einen Follow-upFragebogen aus.
Zu den häufigsten akuten Symptomen gehörten Kopfschmerzen, Fatigue, Schwindel und eine verlangsamte Auffassungsgabe. Erst später entwickelten sich die folgenden, in der Akutphase nicht vorhandenen Symptome: Schlafstörungen, Frustration und Vergesslichkeit, auch eine erst später einsetzende
Fatigue war häufig. Im Mittel am
längsten hielten sich Symptome wie
Reizbarkeit (16 Tage), Schlafstö-
rungen (16 Tage), Frustration (14
Tage) und mangelnde Konzentra-
tion (14 Tage). Übelkeit, Depres-
sion, Schwindel oder Doppeltsehen
gingen hingegen in der Regel rasch
vorüber. Einen Monat nach dem
Unfall klagte noch fast ein Viertel
der Kinder über Kopfschmerzen,
gut ein Fünftel berichtete von Fati-
gue, und knappe 20 Prozent gaben
an, dass sie noch immer länger zum
Nachdenken bräuchten.
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Eisenberg MA et al.: Duration and Course of Post-Concussive Symptoms. Pediatrics 2014; 133: 999–1006.
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ARS MEDICI 11 I 2014
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Innere Medizin
5 Massnahmen, die man unterlassen sollte
«Weniger kann mehr sein» ist ein neuer Trend, auch in der Medizin. Analog zu der seit etwa zwei Jahren in den USA bestehenden Initiative Choosing Wiseley (www.choosing wisely.org) hat die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM) nun fünf Interventionen definiert, deren Durchführung man in der ambulanten Medizin vermeiden sollte:
1. Durchführung einer bildgebenden Diagnostik in den ersten sechs Wochen bei Patienten mit unspezifischen Lumbalgien «Unspezifischer Schmerz» schliesst Alarmzeichen (red flags) wie schwere/progrediente neurologische Defizite oder den Verdacht auf eine maligne/infektiöse Erkrankung aus. Eine bildgebende Diagnostik bei unspezifischem Schmerz während der ersten sechs Wochen verbessert das Outcome nicht, erhöht aber die Strahlenexposition und die Kosten.
2. Messung des prostataspezifischen Antigens (PSA) zwecks Prostatakrebsscreening ohne eine Diskussion übeer Risiko und Nutzen Der Nutzen eines PSA-Screenings ist unklar. Die Probanden sollten das Risiko von Überdiagnostik und Überbehandlung verstehen, bevor sie sich einem Test unterziehen. Das Screening bei über 75-Jährigen sollte nicht angeboten werden.
3. Verschreibung von Antibiotika gegen unkomplizierte Infekte der oberen Luftwege Der Grossteil unkomplizierter Infekte der oberen Luftwege ist viraler Natur, wogegen Antibiotika wirkungslos sind.
4. Durchführung eines präoperativen Thoraxröntgenbildes, ausser bei Verdacht auf eine intrathorakale Pathologie Das Röntgenbild verspricht keine relevante Änderung des Managements oder eine Verbesserung des Outcomes beim asymptomatischen Patienten.
5. Weiterführung einer Langzeitpharmakotherapie bei gastrointestinalen Symptomen mit Protonenpumpenblockern ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis Risiken und Nutzen einer Behandlung sollten regelmässig mit Patienten diskutiert werden, weil Nebenwirkungen den Nutzen überwiegen können. Gilt auch für Histamin-2-RezeptorAntagonisten.
Die SGIM lancierte ihre 5-Punkte-Liste und die Kampagne «Smarter Medicine» (www.www.smartermedicine.ch) anlässlich ihrer Jahrestagung am 14. Mai 2014 in Genf. Die Kampagne basiert auf nationalen und internationalen Studien sowie auf Erfahrungen aus ähnlichen Initiativen im Ausland. Zentraler Baustein ist die «Top-5-Liste», die im Auftrag der SGIM von einem Expertenteam um Prof. Jacques Cornuz, Poliklinik des Universitätsspitals CHUV in Lausanne, erarbeitet wurde.
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Pressemitteilungen der SGIM anlässlich der Jahrestagung 2014.
PREISGEKRÖNT
SGIM-Preise 2014
Der mit 10 000 Franken dotierte Preis für die beste wissenschaftliche Originalarbeit ging an Dr. Anja Frei (Foto), Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich, für die Publikation «Implementation of the Chronic Care Model in Small Medical Practices Improves Cardiovascular Risk but Not Glycemic Control». Den Viollier-Förderpreis 2014 für die beste Originalarbeit, ebenfalls dotiert mit 10 000 Franken, ging an PD Dr. med. Jens Kuhle, Universität Basel, für seine Arbeit «Increased Neurofilament Light Chain Blood Levels in Neurodegenerative Neurological Diseases». Bei den SGIM-Preisen für die besten freien Mitteilungen wurden zwei erste Preise vergeben, und zwar an ein internationales Team unter der Leitung von Prof. Nicolas Rodondi, Bern, für «TSH and fractures – what is the risk?» und an ein Schweizer Infektiologenteam für den Wirksamkeitsvergleich einer Betalaktam-Monotherapie und einer Betalaktam-MakrolidKombination bei Pneumonie. Der zweite Preis ging an ein schweizerischitalienisches Team für eine Arbeit zu Clostridium-difficile-Infektionen, und der dritte Preis ging an ein Team aus Lausanne, das der Frage nachging, was Pfleger und Ärzte von Fallbesprechungen bei der Visite im Spital halten.
Mit dem SGIM-Foundation-Preis 2013/2014 zum Thema Choosing Wisely
beziehungsweise «Smarter Medicine» (Meldung links) werden zwei Projekte
gefördert. Über die jeweils volle Preissumme von 50 000 Franken für ihre
Projekte durften sich freuen: Dr. Claudia Scheuter, Inselspital Bern, für
ihr Projekt «Variations in preference-sensitive care in Switzerland» sowie
Dr. med. Nicolas Senn, Policlinique médicale universitaire, Lausanne, für
sein Projekt «Acceptability and current practices of a do not do list of
recommendations in primary care».
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Fotos: Mirjam Wicki, SGIM
ARS MEDICI 11 I 2014
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