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EDITORIAL
In diesen Tagen ist es wieder so weit. Wenn Sie, verehrte Leser, zu den «Eulen», also zu den rund 10 Prozent der Menschen zählen, die genetisch bedingt das Morgen-
grauen gern verschlafen, dann graut es Ihnen seit geraumer Zeit nun wieder erst recht, und zwar vor dem letzten Wochenende im März, wenn sich sämtliche Uhren – einschliesslich der inneren – um eine Stunde vorzustellen haben. Stellen Sie, liebe Nicht-«Eulen», sich doch einmal vor! Überhaupt, und vor allem, was das bedeutet: eine Stunde! Eine geschlagene Stunde früher aufstehen! Ach, das können Sie ja doch nicht nachvollziehen. Und weil Sie zusammen mit den anderen 10 extremen Prozent, nämlich mit den «Lerchen», die zeitgleich mit den Hühnern putzmunter aus den
wieder beschworenen wirtschaftlichen Vorteil einer gefühlten längeren Tageshelligkeit inzwischen gänzlich ins Reich der Fabel verwiesen. Der abends womöglich eingesparte Strom für Beleuchtung wird durch ein vermehrtes morgendliches Heizen wettgemacht, und die Energiebilanz dürfte bei zunehmendem Einsatz von Stromsparlampen einerseits und durch in den späteren Abend verlängerte, energieverbrauchende Freizeitaktivitäten andererseits am ehesten noch negativ ausfallen. Was bleibt, ist die zugegebenermassen besonders für die tagesarbeitende Bevölkerung attraktive Ausdehnung feierabendlichen Müssiggangs unter angenehm warmen und hellen Bedingungen. Diese erkaufen wir uns jedoch mit allen negativen gesundheitlichen Auswirkungen eines zweimal jährlichen Eingriffs in unsere hormonell gesteuerte zirkadiane Rhythmik, unter denen gerade die nicht arbeitende Bevölkerung – Kinder und ältere Menschen – sowie Personen mit organischen
«The same procedure as every year»
Federn kommen, in der Mehrheit sind, brauchen Sie das auch nicht zu tun, und ein an und für sich zwar sinnfreies, Ihnen aber vielleicht sogar lieb gewordenes Ritual kann alljährlich aufs Neue zelebriert werden. Unsereiner mag sich da bisweilen vorkommen wie der arme Butler James, der es im legendären Sketch «Dinner for One» mit einer ähnlich surrealen Szenerie zu tun hat und das ebenfalls gar nicht lustig findet. Gleich dem sich schliesslich doch in sein hochprozentiges Schicksal ergebenden treuen Diener lallen auch wir im Frühjahr 2014 wieder schlaftrunken unseren Wecker an: «Oh, must I?» Doch die Antwort aller Miss Sophies oder Lerchen dieser Welt ist dieselbe wie im letzten, nein, wie in jedem Jahr, und gehorsam schlagen wir die Hacken zusammen … In den seligen 1970er-Jahren von den meisten Ländern der Europäischen Union unter dem Schock der sogenannten Ölkrise als vermeintlich probates Mittel zum Zweck der Energieeinsparung aus der Mottenkiste der beiden Weltkriege geholt, hat die 1981 auch in der Schweiz eingeführte Sommerzeitumstellung die ihr seinerzeit zugesprochenen Verheissungen nie einlösen können, was im Übrigen nicht einmal mehr von den verantwortlichen Regierungen beziehungsweise Behörden bestritten wird. Mehrere Studien haben den immer
Erkrankungen oder solche, die ohnehin schon an Schlafstörungen leiden, zu kämpfen haben. Insbesondere nach der der natürlichen Rhythmik entgegenlaufenden Zeitverschiebung im Frühjahr kommt es vermehrt zu gestörtem Schlaf, Müdigkeit, psychischen oder HerzKreislauf-Problemen. Bereits vor einigen Jahren haben schwedische Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen der Umstellung auf Sommerzeit und einem vermehrten Auftreten von Herzinfarkten nachgewiesen. Initiativen, dem nutzlosen, wenn nicht belastenden Treiben ein Ende zu setzen, gab und gibt es immer wieder. Russland hat sich 2011 von der Sommerzeit verabschiedet. Hierzulande ist eine Motion zur Abschaffung der Zeitumstellung zuletzt im September 2012 im Nationalrat gescheitert. Überhaupt scheint im europäischen Raum trotz entsprechender Meinungsumfragen ein Alleingang einzelner Staaten derzeit kaum denkbar – getreu dem Motto: «Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.» Und so werden hier wohl auch in Zukunft Kinder um 2A Uhr und um 2B Uhr geboren und vollbesetzte Fernzüge eine Stunde lang auf Bahnhöfen stehen – «the same procedure as every year» ... In diesem Sinne: «Skål!»
Ralf Behrens
ARS MEDICI 6 I 2014
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