Transkript
INTERVIEW
Morbus Gaucher rechtzeitig erkennen
Wann besteht Verdacht auf die häufigste lysosomale Speicherkrankheit?
Morbus Gaucher gehört zu den seltenen Krankheiten, für die es heutzutage wirksame therapeutische Optionen gibt. Ursache ist die unphysiologische Anhäufung und Speicherung eines Stoffwechselprodukts, weil das abbauende Enzym aufgrund genetischer Defekte nicht oder nur mangelhaft arbeitet. Wir fragten Dr. med. Marianne Rohrbach, Universitätskinderspital Zürich, wann man in der Praxis an Morbus Gaucher denken sollte.
ARS MEDICI: Wohin schicke ich als Hausarzt einen Patienten mit Morbus Gaucher beziehungsweise mit Verdacht auf diese Erkrankung? Rohrbach: Es gibt in der Schweiz drei universitäre Zentren, welche auf lysosomale Speicherkrankheiten spezialisiert sind: Bern, Lausanne und Zürich (s. Kasten Kontaktadressen Schweiz).
ARS MEDICI: Wie häufig ist Morbus Gaucher? Rohrbach: In der allgemeinen Bevölkerung liegt die Frequenz bei 1:60 000 bis 1:100 000. Eine stark erhöhte Frequenz von 1:855 findet sich bei den aschkenasischen Juden. Zurzeit sind in der Schweiz nur etwa 25 Patienten bekannt, aufgrund der genannten Frequenzen würden wir jedoch etwa 200 Patienten erwarten.
ARS MEDICI: Frau Dr. Rohrbach, was sind die typischen Symptome bei Morbus Gaucher? Dr. med. Marianne Rohrbach: Zu den typischen Symptomen gehören eine Anämie und eine Thrombozytopenie oder eine Hepatosplenomegalie oder Knochenschmerzen – oder irgendeine Kombination dieser Symptome. Oftmals sind die Patienten auch leicht ermüdbar. Die beschriebenen Symptome treten beim klassischen Morbus Gaucher auf. Daneben gibt es noch zwei weitere Formen der Gaucher-Krankheit mit neurologischen Symptomen, welche noch seltener sind.
Das klingt recht unspezifisch. Was legt einen Verdacht auf Morbus Gaucher nahe? Rohrbach: Man sollte daran denken, wenn mehr als eines dieser Symptome in Kombination auftritt oder wenn man für eine Anämie oder Thrombozytopenie trotz Abklärung aller differenzialdiagnostisch möglichen hämatologischen und immunologischen Störungen keine andere Ursache finden kann, die Anämie oder die Thrombozytopenie aber persistiert. Bei Patienten mit Knochenschmerzen, bei denen in der radiologischen Untersuchung eine unerklärte Nekrose des Hüftkopfes oder Erlenmeyer-artige Veränderungen der Knochen sichtbar sind, sollte man an Morbus Gaucher denken.
ARS MEDICI: Gibt es einen Labortest für Morbus Gaucher? Rohrbach: Ja, es gibt eine Enzymanalyse, die nicht allzu teuer ist, aber nur von wenigen Laboratorien in der Schweiz angeboten wird. Die enzymatisch gestellte Diagnose kann molekulargenetisch bestätigt werden.
ARS MEDICI: Weshalb werden die Patienten verpasst? Rohrbach: Der Enzymdefekt ist nicht immer gleich gravierend, das heisst es liegt in aller Regel eine gewisse Restaktivität des defekten Enzyms vor. Abhängig davon treten die Symptome früher oder später beziehungsweise milder oder schwerer auf. Die Personen mit milden Formen des Morbus Gaucher werden wahrscheinlich gar nicht auffällig und darum auch nicht diagnostiziert. Aufgrund der relativ unspezifischen Symptome werden leider auch Patienten mit schweren Formen von Morbus Gaucher oft nicht frühzeitig erkannt, welche von einer Therapie profitieren würden.
ARS MEDICI: Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es? Rohrbach: Die Therapie setzt direkt an der Ursache der Krankheit an. Die Krankheit wird durch ein defektes Enzym, welches Glukozerebrosidase heisst, im lysosomalen Abbau von Glukozerebrosiden verursacht. Fällt dieses aus, kommt es zu einer pathologischen Speicherung von Glukozerebrosiden in verschiedenen Organen, welche vom defekten Enzym nicht abgebaut werden können. Die therapeutischen Ansätze beruhen nun einerseits auf der Infusion von rekombinant hergestellter Glukozerebrosidase, der sogenannten Enzymersatztherapie, und andererseits auf der Reduktion der Enzymsubstrate, der Substratreduktionstherapie (s. Abbildung). Anzufügen ist hingegen, dass es milde Formen von Morbus Gaucher gibt, die nicht therapiebedürftig sind.
ARS MEDICI: Wer also braucht eine Therapie? Rohrbach: Es gibt internationale Richtlinien, welche Patienten einer Therapie bedürfen. Zu den Kriterien gehören Hämoglobin- und Thrombozytenwerte, das Ausmass der Milz-
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sich nicht. In solchen Fällen wird die Substratreduktionstherapie erwogen. Zudem weiss man, dass bestimmte Genotypen sehr gut auf die Substratreduktionstherapie ansprechen. Bei der seltenen neuronopathischen Form, welche häufig mit der Kombination von Enzymersatz- und Substratreduktionstherapie behandelt wird, ist die Therapie oft nicht ganz so wirksam wie bei der nicht neuronopathischen Form.
ARS MEDICI: Sollte man also zunächst einen entsprechenden Gentest durchführen? Rohrbach: In der Regel gehört die Mutationsanalyse zur Basisdiagnostik vor Beginn der Therapie mit so teuren Medikamenten.
Abbildung: Angriffspunkte der Therapie bei Morbus Gaucher. Enzymersatztherapie: Rekombinant herstellte Glukozerebrosidase ersetzt das defekte Enzym; Imiglucerase (Cerezyme®), Velaglucerase (VPRIV™), Taliglucerase (Elelyso™; in der Schweiz nicht zugelassen). Substrathemmung: Hemmung des Enzyms Glukozerebrosidsynthase durch Miglustat (Zavesca®)
ARS MEDICI: Was sind die wesentlichen Nebenwirkungen der Therapien? Rohrbach: Nebenwirkungen hat die Enzymersatztherapie kaum; sie ist nur insofern aufwendig für den Patienten, weil das Enzym alle zwei Wochen über eine Infusion zugeführt werden muss. An Nebenwirkungen sehen wir ab und zu allergische Reaktionen, diese sind aber wirklich sehr selten, und wenn sie auftreten, dann nur in einem ganz milden Ausmass. Bei der Substratreduktionstherapie werden Kapseln eingenommen. Diese Therapie hat erhebliche Nebenwirkungen mit zum Teil extremen gastrointestinalen Problemen und sehr schwerer Diarrhö. Das vertragen viele Patienten nicht und setzen das Medikament ab. Tremor ist eine weitere Nebenwirkung der Substratreduktionstherapie.
oder Lebervergrösserung und das Vorhandensein von Komplikationen am Knochen. Wenn ein Patient mit Morbus Gaucher zum Beispiel nur eine leichte Anämie hat und vielleicht eine ganz leicht vergrösserte Leber, wird man ihn wahrscheinlich nicht therapieren. Ausserdem spielt für den Therapieentscheid noch eine Rolle, ob zusätzlich neurologische Symptome vorliegen oder nicht.
ARS MEDICI: Kommen wir zurück auf die therapeutischen Optionen. Wie sehen diese im Detail aus? Rohrbach: Einerseits ist das wie gesagt die Enzymersatztherapie, welche alle zwei Wochen intravenös verabreicht wird. Diese erreicht vor allem die Organe und zu einem geringeren Anteil auch das Knochenmark. Das rekombinante Enzym, das bei der Ersatztherapie verabreicht wird, passiert aber die Blut-Hirn-Schranke nicht. Deshalb ist die alleinige Enzymersatztherapie häufig bei Patienten mit neuronopathischem Morbus Gaucher nicht ausreichend, jedoch bei der klassischen Gaucher-Form sehr erfolgreich. Die Substratreduktionstherapie andererseits hat einen ganz anderen Ansatzpunkt. Hier wird die Entstehung des abzubauenden Substrats gehemmt, wodurch dessen Anhäufung gebremst werden soll. Die Substratreduktion kommt auch bei neuronopathischem Morbus Gaucher infrage.
ARS MEDICI: Wie wirksam sind diese Therapien? Rohrbach: Normalerweise ist die Enzymersatztherapie bei den Patienten mit der nicht neuronopathischen Form erfolgreich. Manche sprechen aber nicht gut darauf an, das heisst ihre Blutwerte normalisieren sich nicht wie erwünscht, ihre Organe werden nicht kleiner, und der Knochenstatus verbessert
ARS MEDICI: Wie sieht die Prognose bei Morbus Gaucher aus? Rohrbach: Das hängt von der Art der Erkrankung ab. Bei der klassischen Form ohne neurologische Beteiligung kann die Lebenserwartung mit Therapie normal sein. Falls es sich um eine milde Form der Erkrankung handelt, ist die Lebenserwartung auch ohne Therapie normal. Die akute, neonatale, frühkindliche Form mit zusätzlicher ZNS-Beteiligung hat eine schlechte Prognose; diese Kinder sterben meist früh. Wenn sich die neurologische Beeinträchtigung erst nach ein
Fallbericht: Maskierter Morbus Gaucher
Eine 23-jährige Frau kam wegen Sehstörungen und Gesichtsfeldausfällen zum Neurologen. Dieser veranlasste ein MRI und diagnostizierte aufgrund der klinischen Symptome sowie erhöhter Antikörper Multiple Sklerose. Man begann mit einer entsprechenden Therapie. Bei einer späteren Kontrolle stellte man etwas fest, was eigentlich schon bei der ersten klinischen Visite zu sehen gewesen wäre: eine vergrösserte Milz und eine leichte Thrombopenie. Diese hatte man damals nicht so recht interpretieren können und nicht weiter beachtet. Nun aber waren beide Symptome deutlicher geworden. Man wandte sich an Stoffwechselexperten und tatsächlich: Die Patientin leidet auch an Morbus Gaucher. Sie erhält seitdem eine Enzymersatztherapie, und die eingangs genannten Symptome sind verschwunden. RBO O
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Steckbrief Morbus Gaucher
Name:
Morbus Gaucher Synonyme: Gaucher-Syndrom; engl.: Gaucher's disease Nach Philippe Gaucher, der 1882 erstmals sog. Speicherzellen (s. unten) in der Milz einer Patientin beschrieb.
Ursache:
genetisch, autosomal-rezessiv Störung des Glukozerebrosidstoffwechsels, Glukozerebrosid ist ein wichtiger Bestandteils der Zellmembran. Durch mangelnde Funktion des Enzyms Glukozerebrosidase unterbleibt der Abbau in Glukose und Zerebrosid. Das überschüssige Glukozerebrosid wird in den Lysosomen von Makrophagen gespeichert (= lysosomale Speicherkrankheit), die typischerweise in Milz, Leber, Knochenmark und Lymphknoten nachweisbar sind.
Ausprägungen: nicht neuronopathisch (Morbus Gaucher Typ 1): am häufigsten, Beginn in jedem Lebensalter möglich akut neuronopathisch (Typ 2): beginnt im zweiten bis dritten Lebensmonat, in der Regel letal chronisch neuronopathisch (Typ 3): Sonderform, vor allem in Nordschweden
Prävalenz:
nicht neuronopathisch: 1/60 000 bis 1/100 000; in genetisch eng verwandten Populationen mitunter wesentlich häufiger (z.B. Ashkenazi 1/855) akut neuronopathisch: 1/100 000 chronisch nicht neuropathisch: 1/50 000 bis 1/100 000
Die folgenden Angaben beziehen sich nur auf die nicht neuropathische Form des Morbus Gaucher (Morbus Gaucher Typ 1):
Leitsymptome:
Milz- und/oder Lebervergrösserung, Anämie, Thrombozytopenie, Knochenschmerzen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, bei Kindern auch Gedeihstörungen Grad der Beeinträchtigung sehr heterogen
Diagnose:
Ausschluss anderer Ursachen für Symptome Bestätigung durch Messung der Enzymaktivität der Chitotriosidase; bei Morbus Gaucher ist diese um das 10- bis 1000-Fache erhöht
Therapie:
Enzymersatz mit rekombinant hergestellter Glukozerebrosidase und/oder Substratreduktion
Kontaktadressen Schweiz
Kinderspital Zürich Dr. med. Marianne Rohrbach, E-Mail: marianne.rohrbach@kispi.uzh.ch Prof. Dr. med. Matthias Baumgartner, E-Mail: matthias.baumgartner@kispi.uzh.ch Dr. med. Bianca Link, E-Mail: bianca.link@kispi.uzh.ch Prof. Dr. med. Johannes Häberle, E-Mail: johannes.haeberle@kispi.uzh.ch
Inselspital Bern PD Dr. med. Jean-Marc Nuoffer, E-Mail: Jean-Marc.Nuoffer@insel.ch Dr. med. Matthias Gautschi, E-Mail: matthias.gautschi@insel.ch
CHUV Lausanne Prof. Dr. med. Luisa Bonafé, E-Mail: luisa.bonafe@chuv.ch PD Dr. med. Diana Ballhausen, E-Mail: diana.ballhausen@chuv.ch
SALS – Schweizer Arbeitsgruppe für lysosomale Speicherkrankheiten Internet: www.sals.ch
Patientenorganisation Lysosuisse – Lysosomale Speicherkrankheiten Schweiz Postfach 2751, 8021 Zürich Tel.: 044-210 20 08; E-Mail: info@lysosuisse.ch, Internet: www.lysosuisse.ch
paar Jahren zeigt, ist die Prognose wiederum recht gut; mit Therapie haben diese Patienten eine nur etwas verkürzte Lebenserwartung.
ARS MEDICI: Sie sagten, je nach Restaktivität dauere es länger bis zum Ausbruch der Krankheit. Kann man sagen, dass ab einem Alter von etwa 30 Jahren Gaucher unwahrscheinlicher wird? Rohrbach: Nein, auch bei Menschen über 30 Jahren ist eine Erstdiagnose von Morbus Gaucher möglich. Die meisten Patienten sind wahrscheinlich nicht nur beim Hausarzt, sondern beim Rheumatologen wegen der Knochenschmerzen oder beim Hämatologen wegen einer Anämie. Das heisst: Bei einer Anämie nicht immer nur hämatologisch denken, sondern eben auch nach Knochenschmerzen fragen, und als Rheumatologe auch einmal ein Blutbild machen und Milz und Leber abtasten, um abzuklären, ob diese vergrössert sind.
ARS MEDICI: Was möchten Sie den Hausärzten in Bezug auf Morbus Gaucher mit auf den Weg geben? Rohrbach: Morbus Gaucher ist eine Krankheit, die man mit gutem Erfolg und guter Prognose therapieren kann. Dank dieser Therapie haben viele Patienten mit Morbus Gaucher eine normale Lebensqualität und sind durch die Krankheit nicht eingeschränkt. Es ist aber wichtig, dass man frühzeitig die Diagnose stellt und gerade die schweren Komplikationen an den Knochen verhindert. Man sollte versuchen, daran zu denken: Anämie, Organvergrösserung und merkwürdige Schmerzen am Knochen – das könnte Morbus Gaucher sein. O
Das Interview führte Renate Bonifer.
Wir danken Frau Dr. Saskia Karg, wissenschaftliche Koordination «radiz», Kinderspital Zürich, für die Vermittlung des Gesprächs. «radiz» steht für «Rare Disease Initiative Zürich», klinischer Forschungsschwerpunkt für seltene Krankheiten, Universität Zürich.
Seltene Krankheit? Häufiges Problem!
Sind weniger als 1 von 2000 Personen betroffen, spricht man von einer seltenen Krankheit. Zirka 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung sind von einer der rund 7000 bekannten seltenen Krankheiten betroffen – was den Begriff «selten» relativiert und uns veranlasst hat, auch über seltene Krankheiten in ARS MEDICI zu berichten. Bisher erschienen: O Primäre Ziliendyskinesie,
ARS MEDICI 11/2013, S. 586–589 O Lokalisierte Sklerodermie –
selten, aber therapiebedürftig, ARS MEDICI 2/2014, S. 97
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