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BERICHT
Vorhofflimmern: die aktuellen Kontroversen
Risikoscores, NOAK, Frequenzkontrolle
Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) Amsterdam, 31. August bis 4. September 2013 Quelle: Symposium «Controverses in atrial fibrillation», ESC und American College of Cardiology, ESC, Amsterdam, 2. September 2013.
Welche Risikoscores eignen sich für Voraussagen von Insult- oder Blutungsrisiko? Ist der Fokus auf Hoch- oder auf Niedrigrisikopatienten zu legen? Bieten alle neuen oralen Antikoagulanzien dieselben Vorteile? Und wie strikt ist die Frequenzkontrolle durchzuführen? Im Rahmen eines Symposiums am ESC 2013 versuchten Experten, diese Fragen möglichst umfassend sowie praxistauglich zu beantworten.
LYDIA UNGER-HUNT
Risikoscores dienen in den meisten Fällen dazu, Patienten mit hohem Risiko für eine bestimmte Erkrankung oder ein Ereignis verlässlich zu identifizieren. Doch im Bereich des Vorhofflimmerns (VHF) sei derzeit ein Umschwenken zu erkennen, berichtet Prof. Dr. Gregory Lip, Kardiologe am City Hospital Birmingham (UK): «Die Aktualisierung der ESC-Guidelines von 2012 hinsichtlich der Risikoabschätzung von VHF-Patienten für Insult und Blutungen sagt klar: Der Fokus sollte statt auf Hochrisikopatienten viel stärker auf der Identifizierung sogenannter ‹echter Niedrigrisikopatienten› liegen.» Niedrigrisikopatienten sind solche mit einem Alter unter 65, idiopathischem Vorhofflimmern – unabhängig vom
Geschlecht – oder einem CHA2DS2VASc-Score von null. «Diese Patienten benötigen keine antithrombotische Therapie.» Für die Einstufung des Insultrisikos bei VHF-Patienten haben sich die Scores CHADS2 beziehungsweise CHA2DS2VASc (kongestive Herzinsuffizienz, Hypertonie, Alter, Diabetes, Stroke, vaskuläre Erkrankung, Geschlecht) als am besten geeignet herausgestellt; bei Einstufung des Blutungsrisikos (grössere/intrazerebrale Blutungen) bei VHFPatienten unter oraler Antikoagulation (OAK) ist hingegen der HAS-BLED einzusetzen (Hypertonie, abnorme Nieren-/ Leberfunktion, Stroke, Blutungsneigung, labile INR, Eldery Drugs). Vom Einsatz des CHADS2 oder CHA2DS2-VASc zur Bestimmung des Blutungsrisikos – derzeit in der Klinik üblich – ist «absolut abzuraten, da diese Scores im Vergleich zu HAS-BLED eine unterlegene prädiktive Leistung erbringen, wie eine Studie gezeigt hat», so Lip (1).
Risiko: alt, weiblich, Insult Die meisten Risikotreiber für ischämischen Insult bei VHF sind bekannt und wurden in einer schwedischen Kohortenstudie mit 182 000 VHF-Patienten bestätigt (2). An vorderster Front steht das Alter (zwischen 65 und 74 ist das Risiko 2,9-fach erhöht, über 75 sogar 5,28-fach); Frauen haben ein um 17 Prozent höheres Risiko; weitere Risikofaktoren sind ein früherer ischämischer Insult, intrakranielle Blutung oder vaskuläre Erkrankung. Nicht erhöht ist das Risiko hingegen bei Herzinsuffizienz oder Schilddrüsenerkrankung. Laut einer weiteren Studie sind ausserdem Übergewicht/Adipositas Risikofaktoren für ischämischen Insult, Thromboembolien oder Tod bei VHFPatienten (3). Ein hoher Alkoholkonsum gilt als Prädiktor für Thromboembo-
lien oder Tod, auch nach Anpassung etablierter klinischer Risikofaktoren (4). «Laut einer weiteren Untersuchung ist auch ein retinaler vaskulärer Gefässverschluss in der Evaluierung des Insultrisikos als früheres thromboembolisches Ereignis einzustufen», berichtet Lip (5).
Welche OAK für welche AF-Patienten? Von der Einstufung des Risikos zur Therapie: Für welche Patienten mit Vorhofflimmern sollten die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) die Therapie der ersten Wahl sein? Laut Prof. Dr. Michael D. Ezekowitz, Kardiologe aus Villanova, USA, stehen vier Gruppen im Fokus. «Die erste Gruppe der Patienten sind ‹New onset›-AF-Patienten. Eine der Debatten hier dreht sich um die Frage, ob diese Patientengruppe einer Kardioversion zu unterziehen ist und ob diese früh oder erst nach mehrwöchigem Abwarten zum Einsatz kommen sollte.» Die zweite Gruppe umfasst die unter Warfarin «schlecht kontrollierten» Patienten. «Derzeit ist die ‹schlechte Kontrolle› allerdings extrem vage definiert», kritisiert der Experte. Drittens gibt es «eine überraschend grosse Anzahl» von Patienten, die nach wie vor mit ASS zur Insultprävention behandelt werden. «Hier stimmen Gregory Lip und ich sicher überein: ASS ist ein Plazebo mit Blutungsneigung, Ärzte fühlen sich besser, wenn sie es verschreiben, aber wahrscheinlich schaden wir damit.» Vierte und letzte Gruppe sind die Patienten, die unter Warfarin gut kontrolliert sind, mit einem INR von anhaltend zwischen 2 und 3. «Auch bei dieser an sich zufriedenen Gruppe ist die verminderte Rate intrazerebraler Blutungen ein starkes Argument für den Einsatz der NOAK», betont der Kardiologe.
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Studiendaten der NOAK Dabigatran 110 mg führt zu einer starken Senkung von Blutung und Insult mit einer sehr geringen Erhöhung der Myokardinfarktrate (6); die 150-mgDosierung – «meiner Meinung nach die bessere Dosierung» – zeigt eine bessere Senkung der Rate des ischämischen Insults und ausserdem eine 74-prozentige Verminderung hämorrhagischer Insulte. Zu beachten sind erhöhte Raten gastrointestinaler Blutungen (Ausmass: 6 zusätzliche Blutungen pro 1000 Patienten pro Jahr). Rivaroxaban wiederum (20 mg) zeigte versus Warfarin eine Nichtunterlegenheit für Effektivität und für Sicherheit, zu beobachten war eine Reduktion hämorrhagischer Insulte sowie intrakranieller Blutungen; auch hier gibt es erhöhte Raten gastrointestinaler Blutungen (7). Bezüglich Apixaban berichtet Ezekowitz über ein «wichtiges Ergebnis» des Sicherheitsaspekts (8): «Apixaban führt versus ASS zu einer Verminderung des Insultrisikos und ist hinsichtlich grösserer Blutungen ebenso sicher wie ASS.» Die Schlussfolgerung des Experten: «Alle neuen oralen Antikoagulanzien sind besser als Warfarin; Millionen Patienten werden von dieser signifikanten Insultreduktion profitieren. Unsere Herausforderung besteht jetzt darin, klinische Trials in die Praxis umzusetzen.»
Frequenzkontrolle: strikt versus weniger strikt Nicht ganz so eindeutig scheint die Datenlage hingegen bei der Frage der Frequenzkontrolle bei Vorhofflimmern zu sein, wie Dr. Isabelle van Gelder, Kardiologin am University Medical Centre in Groningen (NL), erläutert – denn das optimale Ausmass der Frequenzkontrolle wird nach wie vor diskutiert. Ihre Datenanalyse stützt die Kardiologin im Wesentlichen auf zwei Studien:
AFFIRM und RACE. In der AFFIRMStudie setzten amerikanische Forscher eine strikte Frequenzkontrolle ein, um einen Ruhepuls < 80 beziehungsweise einen moderaten Belastungspuls von < 110 Schlägen pro Minute zu erhalten (9). Primärer Endpunkt war die Gesamtmortalität. Ergebnis: keine signifikanten Unterschiede bei Beobachtung der unterschiedlich erreichten Ruheund Belastungspulse. In der niederländischen Studie RACE unter Leitung von van Gelder selbst war das Ziel lediglich ein Puls < 100 (10). Eine Posthoc-Analyse dieser beiden Studien zeigte keinen Unterschied der Gesamtmortalität der beiden Studienpopulationen. Weniger strikte Kontrolle nicht unterlegen «Die nachfolgende RACE-II-Studie sollte daher unsere Hypothese bestätigen, dass die weniger strikte Kontrolle im Vergleich zur strikten Kontrolle nicht unterlegen ist», berichtet van Gelder (11). Untersucht wurden jeweils 300 Patienten pro Gruppe. Es zeigte sich, dass mehr Patienten in der weniger strikten Gruppe die Herzfrequenzzielwerte erreichten als unter strikter Kontrolle (98 vs. 67%). Im primären Endpunkt (kardiovaskuläre Mortalität und Herzinsuffizienz) wurde kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen beobachtet; die Häufigkeit von Symptomen und Nebenwirkungen war in beiden Gruppen ähnlich. Die Zusammenfassung der Expertin: «Es scheint uns sinnvoll, die Therapie des Vorhofflimmerns mit einem weniger strikten Protokoll zur Frequenzkontrolle einzuleiten, also etwa als Ziel einen Ruhepuls von < 110 Schlägen pro Minute anzupeilen. Bei anhaltender Symptomatik oder Tachykardiomyopathie trotz weniger strikter Kontrolle ist ein strengeres Regime zu empfehlen, das den Ruhepuls < 80 und den Belas- tungspuls < 110 Schläge pro Minute bringen sollte.» O Lydia Unger-Hunt Literatur: 1. Roldán V, Marín F, Fernández H et al.: Predictive value of the HAS-BLED and ATRIA bleeding scores for the risk of serious bleeding in a «real-world» population with atrial fibrillation receiving anticoagulant therapy. Chest 2013; 143: 179–184. 2. Friberg L, Rosenqvist M, Lip GY.: Evaluation of risk stratification schemes for ischaemic stroke and bleeding in 182 678 patients with atrial fibrillation: the Swedish Atrial Fibrillation cohort study. Eur Heart J 2012; 33 (12): 1500–1510. 3. Overvad TF, Rasmussen LH, Skjøth F et al.: Body mass index and adverse events in patients with incident atrial fibrillation. Am J Med 2013, doi: 10.1016/j. amjmed.2012.11.024. 4. Overvad TF, Rasmussen LH, Skjøth F et al.: Alcohol intake and prognosis of atrial fibrillation. Heart 2013; 99 (15): 1093–1099. 5. Christiansen CB, Lip GY, Lamberts M et al.: Retinal vein and artery occlusions: a risk factor for stroke in atrial fibrillation. J Thromb Haemost 2013; 11 (8): 1485–1492. 6. Connolly SJ, Ezekowitz MD, Yusuf S et al.: RE-LY Steering Committee and Investigators: Dabigatran versus warfarin in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med 2009; 17 (361): 1139–1151. 7. ROCKET AF Study Investigators: Rivaroxaban-once daily, oral, direct factor Xa inhibition compared with vitamin K antagonism for prevention of stroke and Embolism Trial in Atrial Fibrillation: rationale and design of the ROCKET AF study. Am Heart J 2010; 159: 340–347. 8. Connolly SJ, Eikelboom J, Joyner C et al.: AVERROES Steering Committee and Investigators: Apixaban in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med 2011; 364: 806–817. 9. Wyse DG, Waldo AL, DiMarco JP et al.: Atrial Fibrillation Follow-up Investigation of Rhythm Management (AFFIRM) Investigators: A comparison of rate control and rhythm control in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med 2002; 347: 1825–1833. 10. Van Gelder IC, Hagens VE, Bosker HA et al.: Rate Control versus Electrical Cardioversion for Persistent Atrial Fibrillation Study Group: A comparison of rate control and rhythm control in patients with recurrent persistent atrial fibrillation. N Engl J Med 2002; 347: 1834–1840. 11. Van Gelder IC, Groenveld HF, Crijns HJ et al.: RACE II Investigators: Lenient versus strict rate control in patients with atrial fibrillation. N Engl J Med 2010; 362: 1363–1373. 84 ARS MEDICI 2 I 2014