Transkript
FORTBILDUNG
Tiefe HDL-Cholesterin-Spiegel
Was ist zu tun und wie kann man das HDL erhöhen?
Epidemiologisch ist die ungünstige Assoziation zwischen tiefen HDL-Cholesterin-Werten und erhöhter Häufigkeit kardiovaskulärer Ereignisse eindeutig. Therapeutische Interventionen zur Anhebung tiefer HDL-Cholesterin-Spiegel haben in randomisierten Studien aber nicht immer das erhoffte Ergebnis gebracht. Therapiemassnahmen sollten immer Lifestylemodifikation und ein Statin, bei ausgewählten Patienten zusammen mit einem Fibrat, umfassen.
CIRCULATION
Tiefe Konzentrationen von High-density-Lipoprotein (HDL-) Cholesterin sind häufig und klinisch eine Herausforderung, da die Datenlage zum therapeutischen Management alles andere als konsistent ist, schreiben die Autoren in einer Übersicht zum Thema in «Circulation». Als tief respektive zu tief sind HDL-Cholesterin-Werte unter 1,0 mmol/l (< 40 mg/dl) zu betrachten. Dies soll gemäss amerikanischen Erhebungen auf 31 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen in der Wohnbevölkerung zutreffen. Die Empfehlungen von Fach-
Merksätze
O Tiefe HDL-Cholesterinwerte sollten zur Suche nach möglichen sekundären Ursachen Anlass geben.
O Therapeutische Lifestyleänderungen bieten einen generellen Gesundheitsnutzen mit der Möglichkeit eines höheren HDLCholesterinspiegels und einer besseren HDL-Funktionalität.
O Abstinent lebende Individuen mit tiefem HDL-Cholesterin zu täglichem Alkoholkonsum aufzufordern, bleibt spekulativ, für ausgewählte Patienten kommen aber Informationen über die kardiovaskulär günstigen Wirkungen geringer Alkoholmengen in Betracht.
O Vorderhand bleiben Statine die Erstlinientherapie bei Individuen mit tiefen HDL-Cholesterinspiegeln und signifikantem kardiovaskulärem Risiko.
O Fibrate können bei Patienten mit signifikantem kardiovaskulärem Risiko zusammen mit Statinen sinnvoll sein, wenn gleichzeitig das HDL-Cholesterin tief und die Triglyzeride erhöht sind.
organisationen auf beiden Seiten des Atlantiks setzen etwas unterschiedliche Norm- und Zielwerte, immer in Relation zum kardiovaskulären Risiko. Epidemiologische Daten belegen sehr eindeutig eine inverse Assoziation zwischen Plasma-HDL-Cholesterin und HerzKreislauf-Risiko. Demnach entspräche eine Anhebung des HDL-Cholesterins um 1 mg/dl einer 2- bis 3-prozentigen Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse. So weit die Theorie, in der Praxis konnten Studien mit pharmakologischer Intervention zur Erhöhung des HDL-Cholesterin-Spiegels keine eindeutige Reduktion bei den kardiovaskulären Outcomes nachweisen. Seit langem wurde dem HDL-Cholesterin die Rolle des «guten» Cholesterins zugewiesen, und diese Vorstellung stützt sich auf die dabei vermuteten und experimentell belegten Mechanismen. Demnach fördert HDL-Cholesterin den reversen Transport von Cholesterin aus lipidbeladenen Makrophagen zur Leber und von dort die Ausscheidung über die Galle in den Darm. Neben dieser atheroprotektiven Wirkung sind für HDL-Cholesterin weitere günstige, pleiotrope Effekte nachgewiesen, unter anderem Verringerung der Oxidation von Low-density-Lipoprotein (LDL-)Cholesterin, Erhöhung der intrinsischen Stickstoffmonoxid (NO-)Produktion, Reduktion der Expression endothelialer Adhäsionsmoleküle, Hemmung der Gerinnungsfähigkeit und Reduktion der vaskulären Entzündung sowie der inflammatorisch induzierten Apoptose.
Die HDL-Cholesterin-Kontroverse In den letzten Jahren stand die Hypothese, dass der durch HDL-Cholesterin vermittelte Gefässschutz mit therapeutischem Gewinn verbessert werden kann, im Gegenwind negativer klinischer Studien. Zwar hatte das Coronary Drug Project noch Hoffnungen geweckt, denn in der Nachbeobachtung nach dem Studienende entwickelte sich die Überlebensrate über 16 Jahre in der Niacingruppe im Vergleich zur Plazebogruppe günstiger (p = 0,0012). In der prospektiven Erhebung der AIM-HIGH-Studie bei Patienten mit schon sehr gut eingestellten LDL-Cholesterinwerten bewirkte Niacin plus Statin im Vergleich zu Plazebo plus Statin zwar eine durchschnittliche Erhöhung des HDL-Cholesterins um 25 Prozent, die Häufigkeit des Erreichens des primären Studienendpunkts unterschied sich in den beiden Gruppen jedoch nicht. Noch grössere Anhebungen des HDL-CholesterinSpiegels lassen sich mit den neuen Cholesterinester-Transferprotein (CETP-)Hemmern erzielen. Dalcetrapib, ein Vertreter dieser neuen Wirkstoffklasse, enttäuschte jedoch bei Patienten
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FORTBILDUNG
nach akutem Koronarsyndrom, indem er zwar das HDLCholesterin um rund 30 Prozent anhob, aber ohne Einfluss auf rezidivierende kardiovaskuläre Ereignisse blieb. Im Zusammenhang mit den negativen Resultaten klinischer Behandlungsstudien wurde vermutet, dass die heute allgemein praktizierte intensive Statinbehandlung die Therapieantwort auf eine HDL-Cholesterin-Anhebung so weit abschwächen kann, dass sie nicht mehr signifikant ausfällt. Zwar weisen die negativen Therapiestudien je eigene komplizierende Faktoren auf, die definitive Schlussfolgerungen verunmöglichen, trotzdem unterstreichen die negativen Resultate, dass Vorsicht und eine Überprüfung der HDLCholesterin-zentrierten Therapieansätze angezeigt sind, wie die Autoren resümieren. Genetische Analysen haben die kausale Beziehung zwischen LDL-Cholesterin und Atherosklerose untermauert, Studien bei Patienten mit genetischen Mutationen, welche die HDLCholesterin-Spiegel verändern, ergaben jedoch inkonsistente Ergebnisse. Dies galt sowohl für vererbte Veränderungen mit besonders tiefen als auch mit besonders hohen HDLCholesterin-Werten.
Nichtpharmakologische Interventionen Aerobes Training: Zur Anhebung der HDL-CholesterinSpiegel hielt man früher ein sehr hohes Trainingsniveau für notwendig. Inzwischen geht man davon aus, dass auch eine anhaltende, regelmässige körperliche Aktivität mittlerer Intensität das HDL-Cholesterin um 5 bis 10 Prozent anzuheben vermag. Körperliches Training dürfte besonders bei Individuen mit abdomineller Adipositas, tiefen HDL-Cholesterin- und hohen Triglyzeridspiegeln viel nützen. Bis anhin stützen nur Beobachtungsdaten und randomisierte Studien mit kardiovaskulären Surrogatendpunkten die Empfehlung zur Risikoreduktion durch körperliche Aktivität. Gewichtsabnahme: Übergewicht und Adipositas sind eng mit tiefen HDL-Cholesterin- und hohen Triglyzeridwerten korreliert. Nach akutem Gewichtsverlust kann es zu einer bescheidenen Abnahme des HDL-Cholesterins kommen; wenn sich das Gewicht stabilisiert hat, steigen die Werte allerdings wieder etwas an. Dies geschieht unabhängig davon, ob der Gewichtsverlust mit Diät, Training, medikamentös oder chirurgisch erzielt wurde. Gesunde Ernährung: Patienten, die eine Diät mit sehr wenig Fetten einhalten, haben oft tiefere HDL-Cholesterin-Spiegel, allerdings bei ebenfalls erniedrigtem LDL-Cholesterin. Umgekehrt kann eine Ernährung mit sehr hohem Anteil an gesättigten und trans-Fetten höhere HDL-Cholesterin-Werte bewirken, die aber mit einer beeinträchtigten HDL-Funktionalität einhergehen. Verarbeitete Kohlenhydrate mit hohem glykämischem Index können zu tieferem HDL-Cholesterin und zu gesteigerten Entzündungsprozessen mit höherem kardiovaskulärem Risiko führen. Somit bleiben auch unter dem HDL-Cholesterin-Blickwinkel die allgemeinen Empfehlungen zu einer gesunden Ernährung vernünftig. Rauchverzicht: Raucher scheinen um 5 bis 10 Prozent tiefere HDL-Cholesterin-Werte aufzuweisen. Rauchverzicht führt zu einem HDL-Cholesterin-Anstieg von etwa 4 mg/dl (0,1 mmol/l) ohne Auswirkungen auf die anderen Lipide. Alkoholkonsum: Ein täglicher Drink kann das HDL-Cholesterin um zirka 2 mg/dl (0,05 mmol/l) anheben. Mässiger
Alkoholkonsum (1–2 Drinks/Tag für Männer und 1 Drink/ Tag für Frauen) war in Beobachtungsstudien mit günstigeren kardiovaskulären Outcomes assoziiert. Bisher abstinent lebende Individuen mit tiefem HDL-Cholesterin zu täglichem Alkoholkonsum aufzufordern, bleibt spekulativ, für ausgewählte Patienten kommen aber Informationen über die günstigen Wirkungen geringer Alkoholmengen auf Herz und Gefässe in Betracht.
Pharmakologische Interventionen Niacin (Nikotinsäure, Vitamin B3) kann in einer Dosierung von 1 bis 2 g pro Tag die HDL-Cholesterin-Spiegel um 15 bis 30 Prozent anheben. Neuere Studien, in denen Niacin zusammen mit Statinen verabreicht wurde, konnten keinen Einfluss auf kardiovaskuläre Ereignisse dokumentieren. Dies galt sowohl für retardiertes Niacin in der AIM-HIGH-Studie als auch für retardiertes Niacin plus Laropiprant als Flushhemmer in HPS-2 THRIVE. Weder Niacin allein noch Niacin plus Laropiprant (Tredaptive®) sind in der Schweiz noch im Handel. Fibrate senken die Triglyzeride und heben gleichzeitig das HDL-Cholesterin um 10 bis 20 Prozent an. Dieser Effekt kommt über die Aktivierung des Peroxisom-Proliferatoraktivierten Rezeptors alpha (PPAR-alpha) zustande. Ein zusätzlicher Nutzen durch Kombination von Fibraten mit einer Statinbehandlung bleibt bis heute unbewiesen. So führte im Lipidarm der grossen ACCORD-Studie die Kombination von Fenofibrat mit Simvastatin nicht zu einer Verbesserung beim primären kardiovaskulären Endpunkt. In der Statinära könnte sich ein Nutzen der Fibrate auf jene Gruppe von Patienten beschränken, die signifikant tiefe HDL-CholesterinWerte bei gleichzeitig erhöhten Triglyzeriden aufweisen. Fibrate können in Kombination mit Statinen selten das Myopathie- und Rhabdomyolyserisiko erhöhen. Dies trifft eher auf Gemfibrozil (Gevilon®) als auf Fenofibrat (Lipanthyl®) zu. Die Kombinationstherapie ist bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung nur mit Vorsicht einzusetzen. Statine haben sich sowohl in der kardiovaskulären Primärals auch in der Sekundärprävention als effektiv erwiesen. Statine heben die HDL-Cholesterin-Spiegel in mässigem Ausmass (5–10%) an. Der Effekt ist dosis- und wirkstoffabhängig etwas verschieden, Rosuvastatin (Crestor®) scheint das HDL-Cholesterin etwas stärker anzuheben als die anderen Statine in ihren Höchstdosierungen. Orale Antidiabetika: Typ-2-Diabetes und Insulinresistenz sind allgemein mit einer atherogenen Dyslipidämie (tiefes HDL-Cholesterin, erhöhte Triglyzeride und kleine, dichte LDL-Partikel) assoziiert. Medikamente, welche die glykämische Kontrolle verbessern, können direkt oder indirekt auch die HDL-Cholesterin-Werte günstig beeinflussen. Pioglitazon (Actos® oder Generika), das PPAR-gamma und bis zu einem gewissen Grad auch PPAR-alpha aktiviert, kann das HDLCholesterin mässig anheben. Ob auch die neueren GLP1-Mimetika und Gliptine kardiovaskuläre Outcomes über Lipidveränderungen günstig beeinflussen, ist derzeit noch offen.
Neue auf HDL ausgerichtete Medikamente Trotz einiger Rückschläge bleiben verschiedene auf HDL zielende Wirkstoffe in klinischer Entwicklung. Dazu gehören CETP-Hemmer wie Evacetrapib und Anacetrapib, welche
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die HDL-Cholesterin-Spiegel massiv (132 resp. 138%) anheben, bei gleichzeitiger Senkung des LDL-Cholesterins um zirka 40 Prozent. Die direkte Infusion von rekonstituiertem HDL oder rekombinantem Apolipoprotein-A-I (Milano) konnte in experimentellen Studien den reversen Cholesterintransport fördern und atherosklerotische Plaques stabilisieren. Weitere Ansatzpunkte sind orale Therapien, die zu einer erhöhten Produktion von Apolipoprotein-A-I führen. Agonisten am Leber-XRezeptor (LXR) oder Hemmer der mikro-RNA (miR-33) führen zu einer Upregulation der Transporter, die einen Efflux von Cholesterin aus Makrophagen und damit einen gesteigerten reversen Cholesterintransport bewirken.
Neue Konzepte Für die Forschung ist die Komplexität des HDL-Stoffwechsels weiterhin ein reizvolles Gebiet. Zwischen den zirkulierenden HDL-Partikeln bestehen substanzielle Unterschiede in den biologischen und chemischen Eigenschaften. Eine bessere Phänotypisierung könnte zu besseren Prädiktoren des kardiovaskulären Risikos führen, welche die simple Messung der HDL-Cholesterin-Konzentration zukünftig ersetzen könnten. Zurzeit sind auch verschiedene Tests in Entwicklung, welche die HDL-Funktion quantifizieren sollen.
Managementstrategie bei tiefen HDL-Cholesterin-Werten
Tiefe HDL-Cholesterin-Werte sollten zur Suche nach mög-
lichen sekundären Ursachen Anlass geben. Diese können
etwa zirkulierende Paraproteine bei hämatologischen
Neoplasien sein, ferner verschiedene genetische Anomalien,
die mit sehr tiefen (< 10 mg/dl [0,2 mmol/l]) HDL-Choleste-
rin-Werten einhergehen. Auch verschiedene Medikamente
können tiefe HDL-Cholesterin-Werte hervorrufen, beispiels-
weise Anabolika, antiretrovirale Wirkstoffe in der HIV-The-
rapie, Betablocker und Immunsuppressiva. Eine chronische
Lebererkrankung kann über eine geringere Apolipoprotein-
synthese alle Cholesterinsubfraktionen reduzieren. Tiefe
HDL-Cholesterin-Spiegel werden auch bei akuten Entzün-
dungszuständen häufig beobachtet.
Vorderhand bleiben Statine die Erstlinientherapie bei Indi-
viduen mit tiefen HDL-Cholesterin-Spiegeln und signifi-
kantem kardiovaskulärem Risiko.
Therapeutische Lifestyleänderungen bieten einen generellen
Gesundheitsnutzen mit der Möglichkeit eines höheren HDL-
Cholesterin-Spiegels und einer besseren HDL-Funktionalität.
Fibrate können bei Patienten mit signifikantem kardiovas-
kulärem Risiko zusammen mit Statinen sinnvoll sein, wenn
gleichzeitig das HDL-Cholesterin tief und die Triglyzeride
erhöht sind.
O
Halid Bas
Khera AV, Plutzky J: Management of low levels of high-density lipoprotein-cholesterol. Circulation. 2013; 128: 72–78. doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.000443
Einer der Autoren der Originalpublikation (P.J.) ist Berater bei den Firmen Abbott, Merck, Roche/Genentech.
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