Transkript
EDITORIAL
Angenommen, Sie wären in Döttingen zu Hause, in Böttstein oder in Hettenschwil. Oder vielleicht in Buttenried,
in Bernau, in Däniken oder in Gretzenbach. Und Sie lebten dort mit Ihren kleinen Kindern zusammen. Wahrscheinlich hätten Sie die folgende Meldung dann schon gehört: In unmittelbarer Nähe eines Kernkraftwerks zu wohnen, erhöhe bei Kindern unter fünf Jahren nicht das Risiko, an Leukämie oder einem Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken, so das Ergebnis einer am 12. September im «British Journal of Cancer» veröffentlichten Fallkontrollstudie (1). Taugte diese Botschaft, Sie zu beruhigen? Vermutlich ja. Wobei ebenfalls anzunehmen ist, dass Sie auch zuvor nicht sonderlich aufgeregt gewesen wären. Sagen wir mal so: Ihnen wäre nur erneut bestätigt worden, wovon Sie ohnehin überzeugt waren. Wen derlei Nachrichten
Ein ursächlicher Zusammenhang bleibt bis anhin ungeklärt und folglich der Erkenntnisgewinn klein und der Interpretationsspielraum gross. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Forschung zum Spielball der Interessen verkommen kann, lieferte jüngst auch die Diskussion um die möglicherweise krebsauslösende Strahlung von Mobiltelefonen. Der Schwachpunkt der Studien hier wie dort ist neben dem Problem, alle anderen möglichen Einflussfaktoren hinlänglich zu berücksichtigen, ihre geringe statistische Aussagekraft: Hirntumoren wie auch Leukämie im Kindesalter sind glücklicherweise sehr seltene Erkrankungen und die auswertbaren Fallzahlen daher meist schlichtweg zu niedrig. Letzteres räumen denn auch die Autoren der jüngsten britischen Leukämiestudie ein. Wie viele seriöse Wissenschaftler vor ihnen plädieren sie angesichts der widersprüchlichen Datenlage dafür, weiter Fragen zu stellen und Antworten zu suchen. Dazu wären jedoch vor allem breiter und länderübergreifend angelegte Projekte vonnöten.
Aktenzeichen AKW ... ungelöst
nicht zu beruhigen oder zu überzeugen vermögen, der wird wohl längst aus Hettenschwil, Buttenried oder Gretzenbach weggezügelt sein. So einfach ist das. Denn die Fronten sind klar, seit Jahrzehnten. Da kann einer schreiben, was er will. Neu ist das ja in der Tat alles nicht: Nachdem zunächst in den Siebzigerjahren im niedersächsischen Lingen, kurz darauf im britischen Sellafield und Anfang der Neunzigerjahre in der Elbmarsch nahe dem 2011 stillgelegten Atommeiler Krümmel erhöhte Leukämieraten bei Kindern auffällig geworden waren, löste in mehreren europäischen Ländern eine Studie die andere ab – nicht selten politischen Interessen verpflichtet oder einschlägig mitfinanziert. Mal liess sich aus den erhobenen Daten eine Korrelation zwischen der Anzahl der Leukämiefälle und der Nähe des Wohnorts der erkrankten Kinder zur Atomanlage ableiten, dann wieder nicht – das eine wie das andere, je nach Lagerzugehörigkeit, nachfolgend jeweils vehement kritisiert.
Wer dazu neigt, die einfachsten Thesen zu protegieren, solange sie das eigene Weltbild stützen, den erreichen solche Mahnungen freilich nicht. Doch relevant ist nicht, welcher Lesart man nun eher zugetan ist. Sondern es geht darum, der Verantwortung für die Kinder gerecht zu werden. Einer Verantwortung, die dem Erwachsenen daraus erwächst, die Konsequenzen seines Tuns und Lassens zumindest theoretisch überschauen zu können. Dies betrifft sowohl die Entscheidung, was für Geräte er sich täglich für wie lange ans Ohr halten mag, als auch die, welche Industrieanlagen er in seiner Nachbarschaft dulden möchte. Und es gilt unabhängig davon, ob er nun in Döttingen, in Däniken oder in Dübendorf wohnt ...
Ralf Behrens
1. Bithell JF et al.: Leukaemia in young children in the vicinity of British nuclear power plants: a case-control study. Br J Cancer, 12 Sep 2013, doi:10.1038/bjc.2013.560.
ARS MEDICI 19 I 2013
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