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FORTBILDUNG
Spastizität bei Kindern und Jugendlichen
Motorische Entwicklung fördern durch rechtzeitige integrierte Therapie
Kinder und Jugendliche mit Spastizität infolge nicht progressiver Hirnstörungen bedürfen einer umfassenden Therapie durch ein funktionierendes interdisziplinäres Betreuungsnetzwerk. Eine aktuelle NICE-Guideline gibt evidenzbasierte Empfehlungen zu den physio- und ergotherapeutischen, orthopädietechnischen, medikamentösen und chirurgischen Behandlungsoptionen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Unter dem Begriff «Spastizität» ist eine erhöhte Spannung der Skelettmuskulatur zu verstehen, die auf eine Schädigung der für Bewegung zuständigen Bereiche des zentralen Nervensystems
Merksätze
❖ Kinder und Jugendliche mit Spastiken sollten Zugang zu einem interagierenden Versorgungsnetzwerk von Pflegekräften, Orthopädietechnikern, orthopädischen Chirurgen, Neurochirurgen und Kinderneurologen erhalten.
❖ Therapieprogramme sollten individuell angepasst sein und mögliche Auswirkungen auf den Patienten und seine Familie mitberücksichtigen.
❖ Patienten mit zusätzlichen kognitiven Einschränkungen bedürfen einer besonderen Überprüfung der Therapieumstände und -fortschritte.
❖ Ziele physiotherapeutischer Massnahmen sind die Vermeidung von Schmerzen und Kontrakturen sowie die Teilnahme an Aktivitäten des täglichen Lebens.
❖ Bei Schmerzen, Muskelkrämpfen oder funktioneller Behinderung ist die Gabe von oralem Diazepam oder oralem Baclofen in Betracht zu ziehen.
❖ Lokal begrenzte Spastiken der oberen Gliedmassen oder schmerzhafte Dystonien mit Auswirkung auf die Feinmotorik können mit Botulinumtoxin A behandelt werden.
❖ Durch rechtzeitige chirurgische Massnahmen lassen sich Verschlechterungen des Zustands verhindern und manche Funktionen sogar verbessern.
(ZNS) zurückgeht. Die Spastik ist eine Form der zerebralen Parese, die unbehandelt mit Schmerzen und erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität einhergeht und oft zu Komplikationen führt, welche grössere Operationen erforderlich machen. Die Spastizität bei Kindern ist meist Folge einer vorgeburtlichen oder frühkindlichen Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel, Hirnblutung oder andere Komplikationen. Für die betroffenen jungen Patienten ist die Zuweisung an eine regionale Pflegeeinrichtung wichtig, die sich ihrer individuellen Bedürfnisse annimmt und ihnen Zugang zu einer ganzen Reihe von Massnahmen ermöglicht, mit denen sich die motorische Entwicklung unterstützen lässt. Das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) hat kürzlich erstmals Guidelines zum Management von Spastizität bei Kindern und Jugendlichen mit nicht progressiven Hirnstörungen inklusive Zerebralparese vorgestellt. Angehörige der Guideline Development Group veröffentlichten nun im «British Medical Journal» eine praxisbezogene Zusammenfassung dieser Leitlinien.
Behandlungsgrundsätze Kinder und Jugendliche mit Spastiken sollten Zugang zu einem interagierenden Versorgungsnetzwerk erhalten, das auf lokaler oder regionaler Ebene im Umgang mit solchen Patienten erfahrene Heilberufler, pädiatrische, krankenpflegerische, physio- und ergotherapeutische Fachkräfte sowie Orthopädietechniker, orthopädische Chirurgen, Neurochirurgen und Kinderneurologen bereitstellt. Eventuelle Behandlungen durch Personen, die nicht diesem Netzwerk angehören, sollten vorab im Sinne einer integrierten und effektiven Versorgung durch das Netzwerk geplant und abgestimmt sein. Alle betroffenen jungen Patienten sind unmittelbar nach Diagnose einem geeigneten Angehörigen des Versorgungsnetzwerks zuzuführen. Managementprogramme sollten nicht nur individuell und in Absprache mit dem Patienten, dessen Angehörigen und Pflegenden angepasst sein, sondern auch mögliche Auswirkungen auf den Patienten und seine Familie mitberücksichtigen. Ausserdem sollten die Patienten individuell angepasste Informationen und Anschauungsmaterial sowie Beratung und Unterstützung hinsichtlich ihres jeweiligen Entwicklungspotenzials erhalten. Patienten mit zusätzlichen kognitiven Einschränkungen bedürfen einer besonderen Überprüfung der Therapieumstände und -fortschritte. Behandlungserfolge, aber auch eine Verschlechterung oder sekundäre Auswirkungen der Spastik sowie notwendige
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Kasten 1:
Mögliche Indikatoren einer Hüftverschiebung
❖ Schmerzen in der Hüfte ❖ klinisch relevante Differenz der Beinlängen ❖ Verschlechterung der Hüftabduktion oder der Hüftbewegungsspanne ❖ steigender Muskeltonus in der Hüfte ❖ Verschlechterung des Sitzens oder Stehens ❖ zunehmende Schwierigkeiten bei der Perinealpflege und -hygiene
Änderungen der Therapieziele sind stets zu dokumentieren und im Team zu besprechen. Besonderes Augenmerk ist auf eventuelle Anzeichen von Hüftdeformationen (Kasten 1) zu legen.
Physiotherapie Physiotherapeutische Massnahmen sollten stets auf die individuellen Bedürfnisse und Ziele massgeschneidert sein und auf die Vermeidung von Schmerzen und Kontrakturen sowie die Teilnahme an Aktivitäten des täglichen Lebens abzielen. Patienten und Angehörige sind zu ermutigen, die jeweiligen Übungen in den Alltag einzubauen. Gegebenenfalls sind spezielle Massnahmen zu erwägen wie etwa Rund-um-die-Uhr-Strategien des Haltungsmanagements, Muskelaufbautraining oder «Active-use»-Therapieformen, bei denen über eine zeitlich begrenzte Bewegungseinschränkung nicht betroffener Gliedmassen die motorischen Fertigkeiten verbessert werden sollen.
Orthesen Auch Orthesen sind an die jeweiligen Bedürfnisse des Patienten und an die Behandlungsziele, wie etwa die Verbesserung der Haltung, des Gangbilds oder der Armfunktion, sowie hinsichtlich einer Schmerzlinderung und einer Verzögerung oder Verhinderung von Hüftverschiebungen oder der Entwicklung von Kontrakturen individuell anzupassen. Falls die Orthesen über Nacht zum Einsatz kommen, muss darauf geachtet werden, dass sie keine Verletzungen verursachen oder den Schlaf des Kindes stören.
Orale Medikamente Wenn die Spastik Beschwerden oder Schmerzen auslöst oder zu Muskelkrämpfen oder funktioneller Behinderung führt, ist die Gabe von oralem Diazepam oder oralem Baclofen in Betracht zu ziehen. Diazepam ist immer dann zu empfehlen,
Kasten 2:
Gross-Motor-Function-Klassifikationssystem
Stufe I: Gehen ohne Einschränkungen Stufe II: Gehen ohne Hilfsvorrichtungen Stufe III: Gehen mit Hilfsvorrichtungen Stufe IV: limitierte Eigenmobilität Stufe V: auch mit Hilfsvorrichtungen stark limitierte Eigenmobilität
wenn ein schneller Wirkungseintritt (etwa bei Schmerzkrisen) erreicht werden soll. Baclofen ist dagegen besser geeignet, um einen anhaltenden Langzeiteffekt zu erzielen. Orales Diazepam ist zunächst in einer Nachtdosierung zu verabreichen. Falls die Wirkung nicht befriedigend ausfällt, kann die Dosis erhöht oder eine zusätzliche Tagesdosis gegeben werden. Die orale Baclofenbehandlung sollte man mit einer geringen Dosis beginnen und während etwa 4 Wochen schrittweise steigern, um einen optimalen therapeutischen Effekt zu erzielen. Bei klinischem Benefit und Verträglichkeit können beide Wirkstoffe kontinuierlich weiter verabreicht werden. Mindestens alle 6 Monate oder jeweils bei Anpassung des Managementprogramms ist allerdings ein Aussetzen der Medikation zu erwägen; dies sollte ausschleichend erfolgen. Bei nicht ausreichender Wirkung der Einzelsubstanz über 4 bis 6 Wochen können Diazepam und Baclofen anschliessend auch in Kombination gegeben werden. Im Falle dystoniebedingter schwerer Beeinträchtigungen von Körperhaltung und -funktion oder starker Schmerzen kommt neben Baclofen auch der Einsatz weiterer oraler Medikamente wie Trihexyphenidyl oder Levodopa in Betracht.
Botulinumtoxin A In speziellen, auch durch nicht progressive Hirnschädigungen verursachten Fällen von lokal begrenzten Spastiken der oberen Gliedmassen oder bei Dystonien, die Schmerzen bereiten oder sich negativ auf die Feinmotorik auswirken, kann über den Einsatz von Botulinumtoxin A nachgedacht werden. Die Patienten und ihre Angehörigen müssen vor Beginn einer solchen Behandlung aber über mögliche seltene, aber ernste Nebenwirkungen wie Schluck- und Atemschwierigkeiten aufgeklärt werden.
Intrathekales Baclofen Tritt unter nicht invasiver Medikation keine oder nur eine unzureichende Besserung der durch die Spastik oder die Dystonie bedingten Schmerzen oder Muskelkrämpfe ein, ist eine kontinuierliche pumpengesteuerte intrathekale Gabe von Baclofen in Erwägung zu ziehen. Gleiches gilt bei durch die orale Therapie ungelösten Problemen hinsichtlich Haltung, Funktion oder Pflege. Am meisten profitieren hier Patienten mit moderaten oder schweren Problemen der motorischen Funktion oder mit bilateraler Spastizität, die sowohl Arme als auch Beine betrifft. Die intrathekale Therapie sollte stets unter Kontakt zu einem spezialisierten neurochirurgischen Zentrum durchgeführt werden und eingebunden sein in ein regelmässiges Follow-up durch das betreuende Netzwerk.
Orthopädische Chirurgie Chirurgische Massnahmen gelten als wichtige Ergänzungen zu anderen Interventionen. Ihre rechtzeitige Anwendung kann eine Verschlechterung des Zustands verhindern oder die Funktionen sogar verbessern. Bei radiologischen Anhaltspunkten für Wirbelsäulen- oder Hüftfehlstellungen oder bei begrenzter Funktion der Gliedmassen, die auf Fehlhaltungen oder auf von Muskelverkürzungen, Kontrakturen oder Knochendeformationen verursachte Schmerzen zurückgeht, sollte ein orthopädischer Chirurg hinzugezogen werden. Gleiches gilt, wenn Gliedmassenfehlstellungen Schwierigkeiten bei der Hauthygiene bereiten oder wenn die Patien-
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ten unter dem kosmetischen Bild der oberen Extremitäten erheblich leiden.
Selektive dorsale Rhizotomie Die selektive dorsale Rhizotomie ist eine mikrochirurgische Operation, durch welche die für die Übertragung der Spastik verantwortlichen Anteile der Nervenwurzeln durch kleine Kunststofffolien isoliert werden. Diese Massnahme kommt bei Patienten infrage, deren Grad der Behinderung der Stufe II oder III des Gross-Motor-Function-Klassifikationssystems (Kasten 2) entspricht. Auswahl und Behandlung der Patienten sollten durch ein multidisziplinäres, speziell ausgebildetes und im Umgang mit Spastizität erfahrenes Team erfolgen.
Die Irreversibilität dieser Massnahme, die bekannten Kom-
plikationen sowie die Unsicherheiten bezüglich des Langzeit-
Outcomes sind sowohl mit den Kindern als auch mit ihren
Eltern und Pflegenden zu besprechen.
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Ralf Behrens
Moira A Mugglestone et al.: Spasticity in children and young people with non-progressive brain disorders: summary of NICE guidance. BMJ 2012; 345: e4845.
Interessenkonflikte: Zwei der Autoren wurden für die Arbeit an dieser Publikation durch das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) unterstützt. Ein Autor war Mitglied eines Ärzteberatungsgremiums der Firma Medtronic, bevor er zum Vorsitzenden der NICE Guideline Development Group berufen wurde. Weitere Interessenkonflikte bestanden nicht.
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