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FORTBILDUNG
Reizdarmsyndrom
Meist lässt sich die Diagnose bereits klinisch stellen
Nahezu jeder Fünfte ist irgendwann in seinem Leben vom Reizdarmsyndrom betroffen. Die Ursachen dieser Symptomatik sind nicht geklärt, ihre Implikationen angesichts der Häufigkeit des Auftretens und des vielfach betriebenen Untersuchungsaufwands allerdings immens. Wie der Grundversorger eine symptombasierte Diagnose stellen und die Beschwerden effektiv behandeln kann und welche Alarmsignale er beachten muss, haben britische Gastroenterologen in einem praxisorientierten klinischen Review zusammengefasst.
BMJ
Als Reizdarmsyndrom (inflammatory bowel disease, IBS) wird eine chronische funktionelle Störung des unteren Gastrointestinaltrakts bezeichnet, die durch abdominelle Schmerzen oder Missempfindungen charakterisiert ist, welche mit Veränderungen der Stuhlgewohnheiten einhergehen. Blähungen oder ein Nachlassen der Beschwerden nach Defäkation unterstützen die entsprechende Diagnose. Gemäss den Rom-Kriterien, dem aktuell gültigen Klassifikationssystem für funktionelle gastrointestinale Störungen, wird je nach der vorherrschenden Beschaffenheit des Stuhls eine diarrhö- (IBS-D) von einer obstipationsdominanten Ausprägung (IBS-C, C = constipation) sowie von einer Misch-
form (IBS-M), bei welcher Durchfall und Verstopfung miteinander abwechseln, unterschieden. Bei manchen Patienten ist eine entsprechende Zuordnung allerdings nicht möglich. Eine Reizdarmsymptomatik zählt zu den häufigsten gastrointestinalen Beschwerden, mit denen es Grundversorger oder Spezialisten in der Praxis zu tun bekommen. Die Prävalenz in der Bevölkerung bewegt sich laut Studiendaten zwischen 5 und mehr als 20 Prozent, wobei sich relativ deutliche geografische Unterschiede (Südostasien 7%, Nordeuropa und -amerika je 12%, Südamerika 21%) ausmachen lassen. Dabei ist das IBS-D mit einer gepoolten Häufigkeit von 40 Prozent die dominierende und das IBS-M die seltenere (23%) Erscheinungsform. Personen im Alter unter 50 Jahren sowie Frauen sind vergleichsweise öfter betroffen als ältere Menschen respektive Männer. Da sich bis anhin keine medizinische Therapie etablieren konnte, welche die Störung auf lange Sicht zu kurieren vermag, stellen IBS-bedingte Untersuchungen und Interventionen eine beträchtliche Belastung für die Etats und die Ressourcen der Gesundheitssysteme dar. Die Diagnosestellung sollte daher möglichst anhand symptombasierter klinischer Kriterien und nicht über den Ausschluss zugrunde liegender organischer Erkrankungen mithilfe ausgiebiger Untersuchungen erfolgen. Nachdem das National Institute for Health and Clinial Excellence (NICE) im Jahr 2008 Leitlinien zum Management des IBS publiziert hatte, konnten in der Folgezeit weitere Fortschritte hinsichtlich des Krankheitsverständnisses sowie neuer Therapiemöglichkeiten erzielt werden.
Merksätze
❖ Das IBS tritt häufiger bei jungen Menschen und bei Frauen auf und ist nicht mit einer erhöhten Mortalität assoziiert.
❖ Eine positive Diagnose eines IBS sollte anhand symptombasierter klinischer Kriterien und nicht durch Ausschluss organischer Erkrankungen mithilfe umfassender Untersuchungen erfolgen.
❖ Bestimmte Ausschlussdiäten (FODMAP) sowie körperliche Bewegung sind potenziell hilfreich.
❖ Lösliche Ballaststoffe, krampflösende Wirkstoffe, Antidepressiva, 5-HT-Rezeptor-Antagonisten, Rifaximin, Probiotika sowie einige Phytopharmaka sind allesamt effektiver als Plazebo.
❖ Erst bei Misserfolg der genannten Massnahmen sind psychologische Therapien in Erwägung zu ziehen.
Pathophysiologie Eine einzelne verbindende Ursache für die Beschwerden von IBS-Patienten ist nicht bekannt. Zu den zahlreichen vorgeschlagenen möglicherweise zugrunde liegenden Mechanismen zählen psychische Belastungen und mangelnde Bewältigungsstrategien. Eine beobachtete familiäre Häufung spricht für eine genetische Entstehungskomponente. IBSPatienten zeigen einen gegenüber Gesunden veränderten Dickdarm- und Dünndarmtransport, welcher möglicherweise mit einer veränderten Stuhlform oder -frequenz in Beziehung steht. Die abdominellen Beschwerden lassen sich eventuell auf anormale Stimuli wie etwa eine exzessive Gasproduktion, auf eine viszerale Überempfindlichkeit und eine gestörte zentrale Schmerzverarbeitung zurückführen. Darüber hinaus bestehen Hinweise, dass die Darmflora bei IBS-Patienten verändert ist. Eine chronische Entzündung der Darmschleimhaut wird als weiterer ätiologischer Faktor für das IBS angesehen.
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Kasten:
Alarmsymptome des unteren Gastrointestinaltrakts
❖ Alter ≥ 50 Jahre ohne vorangegangenes Screening auf Kolonkarzinom
❖ familiäre Geschichte eines Kolonkarzinoms ❖ Gewichtsabnahme ❖ rektale Blutungen ❖ neu aufgetretene Veränderungen der Darmgewohnheiten ❖ abdominale Massen ❖ Eisenmangelanämie ❖ Häm-positiver Stuhl
Diagnostik Sofern keine gastrointestinalen Alarmsignale (Kasten) vorliegen, kann die Diagnosestellung bei Patienten, bei denen die erwähnten typischen IBS-Symptome seit längerer Zeit bestehen, auf klinischer Grundlage und ohne invasive Untersuchungen erfolgen. Zu diesem Zweck existiert eine Reihe symptombasierter diagnostischer Parameter, die unter anderen die Manning- und die Rom-Kriterien umfassen. Letztere bilden nach mehrmaliger Überarbeitung (gegenwärtig Rom III) den unter Gastroenterologen derzeit allgemein akzeptierten diagnostischen Standard ab. Ein systematischer Review beziehungsweise eine Metaanalyse von Beobachtungsstudien aus der spezialärztlichen Versorgung ergab allerdings, dass diese Kriterien nicht ausreichend evaluiert wurden und ein IBS nicht genau genug vorhersagen können. Dies ist allerdings in der Grundversorgung, wo diese diagnostischen Parameter noch kaum Anwendung finden und die Diagnose meist auch symptomorientiert hinlänglich exakt gestellt werden kann, von untergeordneter Relevanz. Langzeit-Follow-up-Untersuchungen an positiv diagnostizierten Patienten lassen vermuten, dass es im Zuge eines IBS nur selten zur Entwicklung organischer Erkrankungen kommt und dass die Störung keinen negativen Einfluss auf die Lebenserwartung hat. Diagnostische Tests, auch RoutineBlutuntersuchungen mit CRP-Screening, können somit auf Situationen beschränkt bleiben, wo sich Alarmsignale zeigen. Allenfalls eine serologische Untersuchung zum Ausschluss einer Zöliakie ist angebracht und bei einer Prävalenz dieser Erkrankung von etwa 5 Prozent bei Patienten mit vermutetem IBS auch kosteneffektiv. Ist die Diagnose eines IBS einmal gestellt, ist eine effektive und empathische ArztPatient-Beziehung von entscheidender Wichtigkeit.
Therapie Diäten/Lebensstil: Eine ballaststoffreiche Kost ist theoretisch in der Lage, die Transportgeschwindigkeit des Darms bei IBS-Patienten zu erhöhen. Ein Cochrane-Review von 12 randomisierten kontrollierten Studien konnte allerdings einen entsprechenden Nutzen durch Ballaststoffe nicht belegen. Eine andere Metaanalyse liess dagegen in 6 derselben 12 untersuchten Studien mit dem dort eingesetzten löslichen Ballaststoff Isphagula (Flohsamen) eine im Vergleich zu Plazebo signifikante Symptombesserung erkennen. Diese
vermeintlich widersprüchlichen Resultate lassen sich aber höchstwahrscheinlich mit der unterschiedlichen Wahl von Endpunkten zur gepoolten Datenauswertung erklären. Eine neuere Studie aus der Grundversorgung konnte ebenfalls einen signifikanten Effekt für Isphagula zeigen. In jüngster Zeit hat die potenzielle Rolle, die fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole (FODMAP; hoher Gehalt in Äpfeln, Kirschen, Pfirsichen/Nektarinen, in künstlichen Süssstoffen, in den meisten laktosehaltigen Nahrungsmitteln, in Hülsenfrüchten sowie Broccoli und [Rosen-]Kohl) bei der Entwicklung einer RDS-Symptomatik spielen, vermehrtes Interesse auf sich gezogen. Eine Crossover-Studie konnte den positiven Effekt einer Low-FODMAPDiät auf typische IBS-Beschwerden nachweisen. Auch für eine glutenfreie Diät existieren positive Studiendaten. Eine Steigerung der körperlichen Aktivität sowie die Patientenschulung sind ebenfalls in der Lage, die Symptomatik positiv zu beeinflussen. Plazebo: Scheinmedikamente können beim IBS eine hohe Ansprechrate erzielen (fast 40% in einer Metaanalyse von 73 Einzelstudien). Sogar bei offener Gabe eines Plazebo «zur Förderung geistig-körperlicher Selbstheilungsprozesse» zeigte sich bei der Hälfte der Studienteilnehmer ein günstiger Effekt auf die IBS-Beschwerden, der signifikant grösser war als ohne jedwede Behandlung. Krampflösende Wirkstoffe konkurrieren mit Acetylcholin an postganglionären parasympathischen Nervenendigungen und inhibieren so die Kontraktion glatter Muskelzellen. Auch Pfefferminzöl hat krampflösende Eigenschaften, indem es die Relaxation glatter Muskeln über eine Kalziumkanalblockade vermittelt. Die Effektivität solcher Substanzen zur Linderung abdomineller Beschwerden konnte in zwei aktuellen Metaanalysen belegt werden. Otilonium, Cimetropium, Hyoszin und Pinaverium (Dicetel®) waren allesamt wirksamer als Plazebo, allerdings unter Inkaufnahme häufigerer Nebenwirkungen. Pfefferminzöl dagegen zeigte sich in vier plazebokontrollierten Studien in spezialärztlichen Praxen als ausgesprochen nebenwirkungsarm. Antidepressiva: IBS-Patienten leiden in stärkerem Ausmass unter Angst- und Depressionssymptomen als Personen ohne entsprechende Beschwerden. Antidepressiva haben sich als effektiv zur Behandlung chronischer Schmerzzustände herausgestellt. Sie verändern die gastrointestinale Transportzeit und sind offensichtlich auch beim IBS wirksam. Sowohl trizyklische Antidepressiva wie auch selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) haben sich in zwei Metaanalysen von ebenfalls an Patienten in der spezialärztlichen Versorgung durchgeführten Studien als gegenüber Plazebo überlegen erwiesen. Ein gewisses Risiko bei Einsatz dieser Substanzklasse ist jedoch nicht gänzlich auszuschliessen. 5-HT-Rezeptor-Antagonisten sind in der Lage, bei IBSPatienten Verkrampfungen der glatten Muskulatur zu lösen, abdominelle Beschwerden zu lindern und die Änderungen der Darmgewohnheiten positiv zu beeinflussen. Alosetron, ein 5-HT3-Rezeptor-Antagonist, ist in den USA nur für weibliche Patienten mit schwerem IBS-D zugelassen. In einer Metaanalyse zeigte sich die Substanz zwar insgesamt effektiv, jedoch zum Teil assoziiert mit ischämischer Kolitis und schwerer Verstopfung. Prucaloprid (Resolor®), ein hochselektiver 5-HT4-Agonist, wird bis anhin erfolgreich zur
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Behandlung chronischer idiopathischer Obstipation eingesetzt und könnte sich nach entsprechender Prüfung auch bei IBS-C als hilfreich erweisen. Anti-/Probiotika: Antibiotika können die bakterielle Zusammensetzung des Darmtrakts verändern und damit auch IBS-Symptome kurzfristig positiv beeinflussen. Das nicht absorbierbare Antibiotikum Rifaximin wurde in den USA in zwei plazebokontrollierten Studien an mehr als 1200 IBSPatienten entsprechend gestestet und für nachhaltig wirksam befunden. Nebenwirkungen waren dabei unter dem Verum nicht häufiger aufgetreten als mit Plazebo. Was die Wirkung von Probiotika angeht, existieren zum Teil Hinweise auf antiinflammatorische Eigenschaften und eine Linderung der viszeralen Hypersensitivität. Eine umfangreiche Metaanalyse über 18 Studien zum Vergleich von verschiedenen Probiotika versus Plazebo bei IBS ergab zwar nicht durchweg homogene Daten zur Wirksamkeit, doch im Allgemeinen erwiesen sich die bakteriellen Zubereitungen als gegenüber Plazebo im Vorteil, und unter den einzelnen Bakterienstämmen zeichnete sich speziell für Bifidobakterien ein positiver Trend ab. Psycho-/Verhaltenstherapie: Ein aktueller Cochrane-Review bescheinigt den diversen psychologischen Behandlungsansätzen nur eine geringe Wirksamkeit. Laut einer anderen Metaanalyse zeigten die kognitive Verhaltenstherapie, die Hypnotherapie, die Multikomponenten- sowie die dynamische Psychotherapie dagegen mehr oder weniger positive Einflüsse auf IBS-Symptome; allerdings waren die Patienten im Kontrollarm der meisten untersuchten Studien jeweils keinerlei Therapie zugewiesen worden, sodass möglicherweise ein Plazeboeffekt im Behandlungsarm vorlag und der beobachtete Benefit von daher überschätzt wurde. In der Gesamtschau der vorliegenden Studiendaten erscheinen psychologische Interventionen zwar potenziell von Nutzen, jedoch sind diese Therapieformen zeitintensiv und eventuell am ehesten bei Patienten angeraten, bei denen eine konventionelle Behandlung versagt.
Alternative Therapien: In mehreren randomisierten, kontrol-
lierten Studien an IBS-Patienten in China konnte eine
Akupunkturbehandlung bessere Erfolge erzielen als die Phar-
makotherapie. Unklar ist jedoch, ob ein solches Ergebnis
mit einer entsprechenden Erwartungshaltung chinesischer
Patienten zusammenhängt.
Phytopharmaka wie STW 5 (Iberogast®) und Johanniskraut
wurden ebenfalls in kontrollierten Studien auf ihre Wirk-
samkeit bei IBS untersucht. STW 5, eine Mischung verschie-
dener pflanzlicher Extrakte, erwies sich dabei als überlegen
gegenüber Plazebo, während sich mit Johanniskraut kein
Nutzen ergab.
Neue Behandlungsoptionen: Derzeit befindet sich eine Reihe
von neuen Substanzen zur Behandlung des IBS in der
Entwicklung. Lubiproston und Linaclotid stimulieren die
Flüssigkeitssekretion im Darm und beschleunigen den intes-
tinalen Transport. Bereits seit längerer Zeit erfolgreich bei
chronischer idiopathischer Obstipation eingesetzt, konnten
beide Wirkstoffe nun auch bei IBS-C positive Ergebnisse
erzielen. Lubiproston ist inzwischen in den USA für diese
Indikation zugelassen. Weitere zurzeit erprobte Ansätze um-
fassen die Gabe von Gallensäurebindern (z.B. Colesevalam)
beziehungsweise -transporthemmern und Pankreasenzymen.
Solche neuen Therapieformen, die gezielter auf den Gast-
rointestinaltrakt wirken, werden eventuell künftig in der
Lage sein, IBS-Symptome zu lindern, ohne systemische
Nebenwirkungen zu verursachen.
❖
Ralf Behrens
Ford AC, Talley NJ: Irritable bowel syndrome. BMJ 2012; 345: e5836.
Interessenkonflikte: ACF erhielt Vortragshonorare von Shire Pharmaceuticals. NJT war als Berater tätig für RRYx, Astellenas Pharma, Boehringer Ingelheim, ConCERT Pharma, Forest, Ironwood Pharma, Janssen, Johnson & Johnson, Pfizer, Procter and Gamble, Prometheus, Salix Pharma, Sanofi-Aventis, Theravance, Doyen, Care Capital, Edusa Pharma, Falk, Meritage Pharma, NicOx, Novartis, Shire, Tranzyme, UptoDate, XenoPort und Zeria, hat Vortragshonorare erhalten von Abbott, Focus Medical, Accreddit Ed, Astra Zeneca, Salix und Ironwood, hält Patente für Biomarker mit Prometheus sowie separat und erhielt Forschungszuwendungen von Falk, Forest, Janssen und Takeda.
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