Transkript
EDITORIAL
Angenommen, in Ihre Praxis kommt ein Medizinstudent mit der Bitte, ihm ein Stimulans zu rezeptieren, um
die eine oder andere Nacht fürs Examen durchbüffeln zu können. Hielten Sie es für richtig, den Wunsch erfüllen zu dürfen, oder würden Sie eher eine adäquate Schlafhygiene empfehlen? Mit Ersterem stünden Sie nicht allein da: In den Laboren und Büros ist Gehirndoping längst gang und gäbe, und die Diskussion über das Für und Wider von «cognitive enhancers» ist seit geraumer Zeit voll entbrannt (1–3). Die Frage, wie sich dies auf angehende und auf fertige Ärzte auswirkt, greift nun ein Artikel im «Student BMJ» auf (4). Darin werden auch philosophische Ansätze zitiert, die ernsthaft Parallelen ziehen wollen zwischen solchen Substanzen und modernen technischen Errun-
besten Familien» muss der Tag nicht erst gehen, damit Johnny Walker kommt. Doch wehe dem, der das «40-prozentige Gleichgewicht» verliert: Ihn treiben die Fliehkräfte der kollektiven Verdrängung selbst ins Abseits. Und es ist nur scheinbar paradox, dass dies heute, wo zwischen Subkultur und Anpassertum kaum noch eine Trennlinie verläuft, vielleicht mehr denn je gilt. Denn die Triebfeder für den Griff zur Droge hat sich im Lauf der Zeit verändert: Galt dem (noch nicht süchtigen) User früher der Rauschzustand als Selbstzweck oder gar als bewusstseinserweiternde Erfahrung, mit der er sich von gesellschaftlichen Normen bewusst abgrenzen wollte, geht es jetzt darum, sich mittels diverser Uppers und Downers überhaupt oder noch besser auf soziale Gegebenheiten und Anforderungen «einzustellen», deren Massgeblichkeit im individuellen Fall doch eher hinterfragt werden müsste. Der Rausch von einst ist blosser Betäubung gewichen. Alles ist erlaubt, solange
Der entfesselte Geist
genschaften wie Internet oder Smartphone. Aber nicht in dem Sinn, dass Letztere inzwischen selbst als Droge taugten, sondern dahingehend, dass beides gleichermassen den Geist seine natürlichen Grenzen überwinden lasse – die des Schädelknochens (durch die elektronischen Gadgets) und die auf der inneren Ebene (durch Modafinil, Dextroamphetamin, Donezepil, Methylphenidat etc.) ... «Die Nobelscene träumt vom Kokain, und auf dem Schulklo riecht’s nach Gras; der Apotheker nimmt Valium und Speed, und wenn es dunkel wird, greifen sie zum Glas.» Dass das Bedürfnis nach den kleinen Helfern nicht auf «Randgruppen» beschränkt, sondern zentral in der Gesellschaft verankert ist, besang Herbert Grönemeyer in seinem Lied «Alkohol» bereits 1984 – zu einer Zeit, als Otto Normalbürger beim Stichwort «Drogenmissbrauch» noch mit dem Finger auf langhaarige, verwahrloste, meist junge Menschen zeigen konnte, die er auf den Bahnhofsvorplätzen herumlungern sah. Inzwischen lässt sich jeglicher Befindlichkeit – mit oder ohne Rezept – im wahren Wortsinn substanziell begegnen, und selbst «in den
man funktioniert. Wer jedoch nicht mehr «klarkommt», verliert schnell die Teilhabe an Erfolg und Macht und damit oft auch sich selbst, weil er sich meist allein darüber definiert. Perfekt funktionieren – das sollen heutzutage besonders die kleinsten Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe: Kinder können und dürfen – ADHS hin oder her – ihren natürlichen Freiheits- und Bewegungsdrang immer weniger ausleben. Mittlerweile etwa 6 Prozent von ihnen erhalten auch hierzulande ungeachtet der Nebenwirkungen, des Abhängigkeitspotenzials sowie fehlender Langzeitstudien regelmässig Methylphenidat. Aber wer früh genug das transzendentale Potenzial eines Smartphones kennengelernt hat, der wird genauso rasch zu schätzen wissen, sein beschränktes Hirn mit «smart drugs» nach Belieben auch von innen heraus entfesseln zu können ...
Ralf Behrens
1. Greely H et al., Nature 2008; 456: 702–705. 2. Förstl H, Nervenarzt 2009; 80(7): 840–846. 3. Lakhan SE, Kirchgessner A, Brain Behav 2012; 2(5): 661–677. 4. Lad M, Harrison N, Stud BMJ 2012; Sep 13, 2012.
ARS MEDICI 23 ■ 2012 1257