Transkript
FORTBILDUNG
Rezidivprophylaxe mit Antipsychotika bei Schizophrenie
Aus einem Review mit Metaanalyse geht hervor, dass eine Erhaltungstherapie mit Antipsychotika bei Schizophreniepatienten das Rezidivrisiko senken kann. Allerdings verringert sich die prophylaktische Wirksamkeit mit zunehmender Behandlungsdauer.
LANCET
Die Schizophrenie ist eine beeinträchtigende Erkrankung, die häufig ein Leben lang andauert. Aus Studien geht hervor, dass etwa 80 Prozent der Betroffenen innerhalb von fünf Jahren einen Rückfall erleiden. Obwohl die Halbwertszeit vieler Antipsychotika nur 24 Stunden beträgt, kommt es häufig erst Monate oder Jahre nach Beendigung der Behandlung zum Rezidiv. Bereits 1995 wurde in einer Übersichtsarbeit ausgeführt, dass eine Erhaltungstherapie mit Antipsychotika die Rezidivraten senkt. Viele Aspekte zur Rezidivprophylaxe sind aber bis anhin nicht geklärt, und in Richtlinien gibt es keine konsistenten Empfehlungen dazu. Sollten Patienten mit einer einzigen akuten Psychose – von denen 20 Prozent keine weitere Episode haben werden – eine Erhaltungstherapie bekommen, und wenn ja, wie lange? In manchen Studien war die Langzeitanwendung von Antipsychotika mit einer erhöhten Mortalität verbunden. In einer anderen Untersuchung wurde dagegen sogar eine reduzierte Mortalität festgestellt, vermutlich weil mit den Medikamenten Suizide verhindert werden konnten. Zudem ist nicht bekannt, ob Depotarzneimittel aufgrund der besseren Compliance zur Rezidivprophylaxe wirksamer sind als orale Medikamente. Auch wurden in
Merksätze
❖ Bei Schizophreniepatienten kann das Rezidivrisiko mit Antipsychotika gesenkt werden.
❖ Die Depotformulierungen von Haloperidol und Fluphenazin weisen dabei die ausgeprägteste Wirksamkeit auf.
❖ Die Effektgrössen verringern sich mit zunehmender Behandlungsdauer.
älteren Reviews keine Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Sedierung oder Spätdyskinesien untersucht. Ob Antipsychotika das funktionelle Ergebnis verbessern, zum Beispiel im Hinblick auf den Beruf oder die Lebensqualität, wurde ebenfalls nicht geprüft. Schliesslich sollte auch die Hypothese der Supersensitivitätspsychose genauer untersucht werden. Hier wird postuliert, dass die Langzeitanwendung von Antipsychotika die Empfindlichkeit der Dopaminrezeptoren erhöht, sodass es beim plötzlichen Absetzen der Medikamente zu einer Rebound-Psychose kommen kann. Stefan Leucht (Technische Universität München) und sein Team untersuchten diese Fragestellungen zur Rezidivprophylaxe mit Antipsychotika im Vergleich zu Plazebo bei Schizophrenie nun in einem neuen Review mit Metaanalyse.
Methoden Die Autoren recherchierten im Spezialregister der Cochrane Schizophrenia Group sowie in PubMed, Embase und ClinicTrial.gov. Ausserdem kontaktierten sie pharmazeutische Unternehmen bezüglich potenziell geeigneter Studien. Für ihre Untersuchung wählten die Autoren randomisierte Studien mit Schizophreniepatienten aus, bei denen die antipsychotische Therapie nach einer Stabilisierungsphase abgesetzt oder fortgeführt worden war. Als primäres Outcome definierten sie ein Rezidiv nach sieben bis zwölf Monaten. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Sicherheit und verschiedene funktionelle Ergebnisse wie die Funktionsfähigkeit im Beruf oder die Lebensqualität. Die Heterogenität der Studien wurde mit Subgruppen- und Metaregressionsanalysen geprüft.
Ergebnisse Die Autoren identifizierten 116 Ergebnisberichte zu 65 Studien mit 6493 Patienten (60% Männer), die im Zeitraum zwischen 1959 und 2011 erstellt worden waren. Dabei handelte es sich um 63 randomisierte Studien sowie 2 offene Untersuchungen ohne Vergleichsmedikation. Die durchschnittliche Teilnehmerzahl betrug 47 (30–121), und die durchschnittliche Studiendauer erstreckte sich auf 26 Wochen (1,75–156). 31 Studien wurden mit stationären und 27 mit ambulanten Patienten durchgeführt. In 4 Untersuchungen war das klinische Setting nicht erkennbar. Die Patienten waren durchschnittlich 40,8 (SD 9,3) Jahre alt und litten seit 13,6 (SD 8,8) Jahren an Schizophrenie. Die Dauer der Stabilitätsphase betrug im Durchschnitt 36 Wochen (SD 56). 15 Studien wurden von der Industrie gesponsert, die anderen von öffentlichen oder nicht genannten Sponsoren.
ARS MEDICI 15 ■ 2012
781
FORTBILDUNG
Kasten:
Antipsychotika zur Rezidivprophylaxe
❖ Chlorpromazin (Chlorazin®) ❖ Fluphenazin (Dapotum®) ❖ Haloperidol (Haldol®) ❖ Quetiapin (Seroquel® und Generika) ❖ Paliperidon (Invega®, XeplionV) ❖ Ziprasidon (nicht im AK der Schweiz)
Als Medikamente wurden Einzelsubstanzen (siehe Kasten) oder Antipsychotikakombinationen angewendet. Die Dosierung erfolgte flexibel mit einem durchschnittlichen Chlorpromazinäquivalent von 459 mg (SD 247; 180–1425). Bei den meisten Studien wurden die Antipsychotika abrupt abgesetzt, nur in 11 wurde auch ein Ausschleichen über durchschnittlich 28 Tage (SD 20,82) untersucht. Nach einem Jahr hatte die Erhaltungstherapie mit Antipsychotika die Rückfallraten im Vergleich zu Plazebo signifikant gesenkt (Medikamente 27% vs. Plazebo 64%). Unter Antipsychotika wurden weniger Patienten (erneut) stationär behandelt als unter Plazebo (10% vs. 26%), allerdings mussten insgesamt nur weniger als ein Drittel in ein Behandlungszentrum eingeliefert werden. Eine begrenzte Evidenz aus der Metaanalyse weist auf eine bessere Lebensqualität unter Antipsychotika hin. Zudem kam es zu weniger aggressiven Handlungen im Vergleich zu Plazebo (Medikamente 2% vs. Plazebo 12%). Im Hinblick auf Anstellungsverhältnisse und die Mortalität lagen zu wenige Daten vor, um signifikante Unterschiede zwischen beiden Gruppen identifizieren zu können. Unter Antipsychotika legten mehr Patienten an Gewicht zu als unter Plazebo (16% vs. 9%), und es litten auch mehr Patienten unter motorischen Störungen (16% vs. 9%) oder Sedierung (13% vs. 9%). Im Hinblick auf die Effektgrössen beobachteten die Wissenschaftler eine beträchtliche Heterogenität. Subgruppenanalysen zeigten, dass das Rückfallrisiko nicht signifikant von der vorherigen Anzahl der Episoden, einer Remission, der Dauer der Stabilitätsphase vor Studienbeginn und auch nicht von Medikamenten der ersten oder der zweiten Generation oder der Zuordnungsmethode zu einer bestimmten Behandlung beeinflusst wurde. Abruptes oder allmähliches Absetzen von Antipsychotika veränderte das Rezidivrisiko ebenfalls nicht. Depotpräparate reduzierten Rückfälle deutlicher (RR 0,14, 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,21–0,41) als orale Medikamente (RR 0,46; 95%-KI 0,37–0,57; p = 0,03), wobei die Depotformulierungen von Haloperidol (RR 0,14; 95%-KI 0,04–0,55) und Fluphenazin (RR 0,23; 95%-KI 0,14–0,39) die ausgeprägteste Wirksamkeit aufwiesen. In der Metaregression verminderte sich der Unterschied zwischen aktiver Medikation und Plazebo mit zunehmender Studiendauer.
erhalten, beispielsweise bei Patienten, die nur eine Episode
erlebt hatten, oder bei Patienten in Remission. Allerdings
liess die Wirksamkeit der Prophylaxe mit der Zeit nach.
Zudem muss der Nutzen einer Erhaltungstherapie gegen po-
tenzielle Nebenwirkungen abgewogen werden.
Die Ergebnisse der Metaanalyse weisen darauf hin, dass
Antipsychotika möglicherweise ihre Wirksamkeit mit der
Zeit verlieren. In Studien, die nur bis zu einem Jahr andauer-
ten, war dieser abnehmende Wirksamkeitsunterschied
zwischen Medikamenten und Plazebo jedoch noch nicht zu
beobachten. Die Reduzierung der Effektgrösse über die Zeit
könnte auf mehrere Ursachen zurückzuführen sein. Dazu
gehören potenzielle Unterschiede der Charakteristika von
Patienten, die an Kurz- und Langzeitstudien teilnehmen, oder
eine abnehmende Compliance bei Patienten, die eine aktive
Medikation erhalten hatten.
Auch wenn die prophylaktische Wirksamkeit der Anti-
psychotika durch schnelles oder allmähliches Absetzen der
vorherigen Medikation nicht beeinflusst wurde, empfehlen
die Autoren generell ein langsames Ausschleichen, da mögli-
cherweise die analytischen Methoden der Metaanalyse nicht
empfindlich genug gewesen sein könnten, um entsprechende
Unterschiede festzustellen. Zudem könnte eine Supersensiti-
vitätspsychose im Zusammenhang mit abruptem Absetzen
von Medikamenten einen gewissen Anteil der abnehmenden
Wirksamkeit von Antipsychotika erklären.
Dass mit Antipsychotika eine Reduzierung der Aggressivität
erreicht werden kann, halten die Autoren für ein bedeutsa-
mes Ergebnis. Denn aggressive Handlungen akut erkrankter
Patienten tragen zu deren Stigmatisierung bei und können
zudem fatale Folgen für den Betroffenen und sein Umfeld
haben.
Die Zusammenfassung verschiedener Antipsychotika zu
einer Arzneimittelklasse erscheint den Autoren richtig, da die
Wirksamkeitsunterschiede zwischen einzelnen Medikamen-
ten gering sind, mit der potenziellen Ausnahme von Clozapin
(Clopin®, Leponex®), dem wirksamsten Antipsychotikum.
Zu dieser Substanz lagen jedoch keine Studien vor. Medika-
mente wie Amisulprid (Solian® und Generika), Olanzapin
(Zyprexa® und Generika) oder Risperidon (Risperdal® und
Generika), die eher beim akuten Schub wirksam sind, trugen
nicht zur Effektgrösse im Hinblick auf das primäre Outcome
bei. Insgesamt stellten die Wissenschaftler mit Ausnahme
der lang wirksamen Formulierungen von Haloperidol und
Fluphenazin auch in ihrer Studie keine bedeutsamen Wirk-
samkeitsunterschiede fest.
❖
Petra Stölting
Quelle: Stefan Leucht et al.: Antipsychotic drugs versus placebo for relapse prevention in schizophrenia: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2012; 379: 2063–2071.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben Honorare und andere Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
Diskussion Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass eine Erhaltungstherapie mit Antipsychotika das Rezidivrisiko bei allen Schizophreniepatienten bis zu zwei Jahre lang senken kann. Dieser Effekt blieb auch in den wichtigsten Untergruppen
782
ARS MEDICI 15 ■ 2012