Transkript
Starke Opioide in der palliativen Therapie
Neue NICE-Guideline soll Barrieren abbauen
FORTBILDUNG
In Spätstadien von Krebs- oder anderen schweren unheilbaren Erkrankungen steht die adäquate Schmerztherapie im Vordergrund. Einem in dieser Situation indizierten Einsatz starker Opioide stehen oft Unsicherheiten und Vorbehalte aufseiten der Patienten wie zum Teil auch der behandelnden Ärzte im Weg.
BMJ
Fast die Hälfte aller Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen ist hinsichtlich ihrer Schmerzen unterbehandelt. Die Ursachen dafür sind einerseits in einer verbreiteten Zurückhaltung von Klinikärzten zu suchen, starke Opioide zur effektiven Analgesie einzusetzen. Andererseits stehen aber auch die Patienten diesen Medikamenten in Sorge um mögliche Sucht- und Nebenwirkungen – aber auch, weil sie deren Einsatz als vermeintliches Indiz dafür werten, dass ihr
Tod nun wohl kurz bevorstehe – skeptisch und vor allem angstbelastet gegenüber. Mit seiner kürzlich publizierten aktuellen Guideline zum Einsatz starker Opioide zur palliativen Therapie will das britische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) diese bestehenden Barrieren überwinden und dafür sorgen, dass für jeden bedürftigen Patienten ein erfolgreiches Schmerzmanagement realisiert werden kann. Die NICE Guideline Development Group fand unter Klinikern teilweise die Ansicht vor, dass Morphin weniger wirksam sei als andere Opioide; für diese Annahme gebe es jedoch keinerlei Evidenz aus randomisierten Studien. Die neue Leitlinie zum Opioideinsatz umfasst die Behandlung all derjenigen Schwerkranken, die unter mässigen bis starken Schmerzen leiden und bisher entweder noch keine starken Opioide erhalten oder aber mit schwachen Opioiden wie Kodein oder Tramadol keine ausreichende Linderung erfahren haben. Die Aspekte des Schmerzmanagements (inkl. Zweitlinientherapie) oder der Schmerzkontrolle während der letzten Lebenstage (z.B. Liverpool Care Pathway) sind dabei jedoch nicht sämtlich abgedeckt.
Merksätze
❖ Bei Schmerzpatienten wie behandelnden Ärzten bestehen oft Vorbehalte gegenüber einem Opioideinsatz.
❖ Grundlage einer erfolgreichen Schmerztherapie ist die Aufklärung der Patienten (Gespräche, Informationsmaterial) über Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide.
❖ Für die verbreitete Annahme, dass Morphin weniger wirksam sei als andere Opioide, gibt es keinerlei Evidenz.
❖ Zu Beginn der Therapie ist die Opioidstartddosis zwischen Schmerzkontrolle und Nebenwirkungen auszubalancieren.
❖ Je nach Patientenpräferenz kommt in der Erhaltungstherapie orales Morphin als Retardpräparat oder mit sofortiger Freisetzung zum Einsatz.
❖ Sind orale Opioide aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet, kann auf transdermale Pflaster oder subkutanes Morphin umgestellt werden.
Arzt-Patient-Kommunikation Die Grundlage einer erfolgreichen Schmerztherapie bilden gemäss den NICE-Empfehlungen Aufklärung und Information der Patienten durch die behandelnden Ärzte. Nur wenn es den Patienten gelingt, ihre mit der analgetischen Medikation verbundenen Ängste und Zweifel zu überwinden, sind sie in der Lage, die nötige Compliance aufzubringen. Dazu sind ausführliche Arzt-Patienten-Gespräche von Angesicht zu Angesicht sowie gegebenenfalls zusätzlich bereitgestelltes schriftliches beziehungsweise multimediales Informationsmaterial in Form von Faltblättern oder DVD erforderlich. Mit dieser Herangehensweise lassen sich die Schmerzkontrolle messbar verbessern und auch die Nebenwirkungen reduzieren. Im Einzelnen empfiehlt das NICE: ❖ die Patienten nach ihren eventuellen Sorgen hinsichtlich
Suchtpotenzial, Medikamententoleranz und Nebenwirkungen zu fragen sowie nach Ängsten, die Behandlung kündige womöglich die letzten Lebensabschnitte an (die Behandler sollten den Patienten versichern, dass Abhängigkeiten sehr selten sind und Toleranz keinen signifikanten Einfluss auf das Schmerzmanagement hat oder im Bedarf ausufernder Dosen resultiert; oft ist es hilfreich, den Patienten zu erklären, dass die Gabe starker Opioide ausschliesslich wegen der Schmerzen erfolgt und nicht etwa das nahe Lebensende ankündigt);
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Zur Behandlung mittelstarker bis starker akuter und prolongierter Schmerzen zugelassene orale/ transdermale Opioide
Wirkstoff Buprenorphin Fentanyl
Kodein Methadon Morphin
Galenische Form
Präparatname
Tabletten Transdermales Pflaster
Temgesic® Subutex® Transtec®
Tabletten (gegen Durchbruchschmerz)
Transdermales Pflaster
Actiq® Abstral® Effentora®
Fentanyl-Mepha® Matrixpflaster Durogesic® Matrix Fentanyl Sandoz® MAT Fentanyl Spirig® Depotpflaster Matrifen® Depotpflaster
Tabletten Tabletten/Lösung
Codicontin® (retard) Ketalgin® Methadon Streuli®
Tabletten
Lösung Tropfen Tabletten retard
Sevredol® Vilan® Jurnista® Palladon® Oramorph® Hydromorphoni hydrochloridum Streuli® Kapanol® MST® Continus® Sevre-Long® M-retard Helvepharm Palladon®-Retard
Zu Beginn Dosis titrieren Sofern der Patient in der Lage ist, die Medikamente oral einzunehmen, wird empfohlen, zunächst die Startdosis (orales Morphin, je nach Patientenpräferenz als Retardpräparat oder mit sofortiger Freisetzung, plus Notfalldosis Sofortmorphin) unter Berücksichtigung von Schmerzkontrolle und Nebenwirkungen wie folgt zu titrieren: ❖ typische Startdosis: Retardmorphin 20 bis 30
mg/Tag, 2-mal täglich je 10 bis 15 mg, mit 5 mg Sofortmorphin gegen Durchbruchschmerzen (bei Patienten ohne renale oder hepatische Beeinträchtigungen); ❖ Ausbalancieren der Dosis zwischen Schmerzkontrolle und Nebenwirkungen bei regelmässiger Überprüfung; ❖ Spezialistenrat einholen, falls keine Balance nach wenigen Dosisanpassungen oder bei mässigen bis schweren renalen oder hepatischen Beeinträchtigungen.
Erhaltungsphase Kann der Patient die Medikation oral zu sich nehmen und ist eine optimale Balance von Wirkung und Nebenwirkungen erreicht, gelten die folgenden Empfehlungen: ❖ orales Retardmorphin (keine routinemässige
Gabe von transdermalen Morphinpflastern) als Erstlinien-Erhaltungstherapie; ❖ orales Sofortmorphin zur Erstlinien-Notfallbehandlung von Durchbruchschmerzen bei denjenigen Patienten, die orales Morphin zur Erhaltungstherapie bekommen (kein schnell wirksames Fentanyl zur Erstlinien-Notfalltherapie); ❖ falls die Schmerzen weiterhin unkontrollierbar bleiben, Spezialistenrat einholen.
Oxycodon
Oxycodon/Naloxon Pethidin Tapentadol Tramadol
Tilidin
Kapseln/Lösung Tabletten retard Tabletten retard Tabletten Tabletten Tabletten mit kontrollierter Freisetzung Tropfen
Oxynorm® Oxycontin® Targin® Pethidin Streuli® Palexia® Tramactil® Uno
Valoron®
❖ mündliche und schriftliche Informationen über Indikationen, Effektivität, Wirkungseintritt, Nebenwirkungen und sichere Lagerung der Medikamente bereitzustellen;
❖ über Kontaktmöglichkeiten ausserhalb der Dienstzeit, Follow-up und weitere Verschreibungen zu informieren;
❖ regelmässige Überprüfungen der Schmerzkontrolle und der Nebenwirkungen anzubieten.
Was tun, wenn orale Opioide nicht geeignet sind? Orale Opioide können bei Patienten mit Schluckproblemen, bei beeinträchtigter oraler Absorption oder bei instabilen Schmerzen ungeeignet sein. In diesen Fällen wird Folgendes empfohlen: ❖ bei Nichteignung oraler Opioide und stabilen
analgetischen Erfordernissen transdermale Pflaster mit den geringsten Anschaffungskosten in Erwägung ziehen (ggf. unterstützt durch fachärztliche Beratung); ❖ Vorsicht bei der Berechnung von Wirkstoffäquivalenten für transdermale Pflaster (12-µgFentanylpflaster entspr. 45 mg oralem Morphin tgl.; 20-µg-Buprenorphinpflaster entspr. 30 mg oralem Morphin tgl.); ❖ bei Nichteignung oraler Opioide und instabilen analgetischen Erfordernissen ein subkutanes Morphin mit den geringsten Anschaffungskosten in Erwägung ziehen (ggf. unterstützt durch fachärztliche Beratung).
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Mögliche Nebenwirkungen besprechen
Zu den häufigen unerwünschten Wirkungen der Opioid-
behandlung zählen Verstopfung, Übelkeit und Schläfrigkeit.
Hier empfehlen die NICE-Guidelines im Einzelnen folgendes
Vorgehen mit entsprechender Aufklärung der Patienten:
❖ Verstopfung tritt bei fast allen Patienten auf, die starke
Opioide einnehmen, daher sind grundsätzlich Laxanzien
zu verschreiben und effektiv dosiert regelmässig einzuneh-
men. Die Behandlung ist zeitaufwendig, und Therapietreue
ist wichtig, daher sollte die abführende Medikation vor
dem Wechsel auf ein anderes starkes Opioid optimiert
werden.
❖ Übelkeit kann zu Beginn der Behandlung mit starken
Opioiden oder nach Dosissteigerungen auftreten, ist aber
sehr wahrscheinlich vorübergehend. Falls sie persistiert, ist
eine antiemetische Behandlung einzuleiten und vor dem
Wechsel auf ein anderes starkes Opioid zu optimieren.
❖ Schläfrigkeit/Konzentrationsstörungen können zu Beginn
der Behandlung mit starken Opioiden oder nach Dosisän-
derungen auftreten und sind meist vorübergehend (warnen
Sie den Patienten vor der Beeinträchtigung beim Arbei-
ten/Autofahren). Bei Patienten mit entweder persistieren-
den oder moderaten bis schweren zentralnervösen Neben-
wirkungen ist bei ausreichender Schmerzkontrolle eine
Dosisreduktion oder bei nicht ausreichender Analgesie der
Wechsel auf ein anderes Opioid in Erwägung zu ziehen.
Sind die Nebenwirkungen trotz optimierter Therapie
unkontrolliert, ist fachärztlicher Rat einzuholen.
❖
Ralf Behrens
Michael I Bennett et al.; On behalf of the Guideline Development Group: Prescribing strong opioids for pain in adult palliative care: summary of NICE guidance. BMJ 2012; 344: e2806.
Interessenlage: Die Autoren geben folgende Interessenkonflikte an: Das National Collaborating Centre for Cancer wurde für diese Zusammenfassung beauftragt und finanziert durch das National Institute for Health and Clinical Excellence. MB hat in den vergangenen drei Jahren, aber nicht, während die Guideline erarbeitet wurde, Vortragshonorare von Cephalon und Gr̈unenthal erhalten.
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