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Fortbildung
Darm, Diabetes und Gewicht
Wie chirurgische Eingriffe die gastrointestinale Hormonbalance verändern
Der Darm ist das grösste endokrine Organ. Seine Hormone spielen in der Regulation des Appetits und der Energiehomöostase eine entscheidende Rolle. Die bariatrische Chirurgie entfaltet zum Teil drastische metabolische Wirkungen, weil die anatomischen Veränderungen einen Einfluss auf den Stoffwechsel gastrointestinaler Hormone haben.
KASPAR BERNEIS
Der Einfluss des Darms und der intestinalen Hormone auf den Diabetes wurde eigentlich erst genauer untersucht, als infolge bariatrischer Eingriffe spektakuläre Gewichtsverluste und die «Heilung» von Diabetes mellitus Typ 2 zu beobachten war. Die anatomischen Veränderungen beeinflussen die Aktivität, die Wirkung und das Verhalten der intestinalen Hormone nach der Nahrungsaufnahme. Die meisten Studien haben gezeigt, dass es bereits innerhalb von Tagen nach der Operation zu einer Normalisierung der Insulinspiegel und zu Euglykämie kommt; dies geschieht lange bevor diese Patienten abnehmen. Unter anderem konnte gezeigt werden, dass es unmittelbar nach einem Magenbypass zu einem deutlich verstärkten Anstieg von Oxyntomodulin (OXM), Glucagonlike peptide 1 (GLP-1) und Peptid YY (PYY) kam. Diese Veränderung war somit ein Ausdruck der Operation selbst und nicht der Gewichtsabnahme. Seit langem kennt man verschiedene Mechanismen, die während und nach der Einnahme einer Mahlzeit ein Sättigungsgefühl erzeugen. Dabei handelt es sich um neuronal vermittelte Signale wie Magendehnung oder um humoral vermittelte Signale durch lokal in der Wand des MagenDarm-Trakts gebildete Hormone wie Cholezystokinin
Merksätze
❖ Der Glukosestoffwechsel wird durch Eigenschaften des Darms, aber auch durch Veränderungen, die pharmakologisch oder chirurgisch am Darm vorgenommen werden, beeinflusst.
❖ Nach bariatrischen Eingriffen wird nicht nur die Absorptionsfläche kleiner, sondern es kommt zu einer Veränderung gastrischer Hormonspiegel, die in einem direkten Zusammenhang zum Glukosestoffwechsel und der Nahrungsaufnahme stehen.
(CCK) oder Enterostatin. Diese Substanzen beeinflussen über periphere und zentrale Rezeptoren Neuronen im Hirnstamm und führen damit zur Beendigung der Nahrungsaufnahme. Diese Kurzzeitregulation des Appetits steuert Grösse und Dauer einer Mahlzeit und bewirkt damit eine Begrenzung der Kalorienzufuhr. Pankreatisches Hormon (PP), CCK, PYY, GLP-1, OXM, Neurotensin und Ghrelin haben alle Einfluss auf den Energiestoffwechsel. Mit Ausnahme von Ghrelin erhöhen diese Hormone die Sättigung und reduzieren die Nahrungsaufnahme.
Cholezystokinin (CCK) CCK war das erste Hormon, dem eine Rolle in der Nahrungsregulation zugeschrieben wurde. CCK wird in einigen Geweben einschliesslich der enterokrinen, sogenannten I-Zellen des Dünndarms hergestellt. Von dort wird es rasch nach einer Mahlzeit in die Zirkulation freigesetzt. CCK führt zu einer Gallenblasenkontraktion, Relaxation des Sphincter Oddi, Stimulation der Somatostatinfreisetzung (dies hemmt die Sekretion der Säurefreisetzung im Magen), Stimulation des Pankreaswachstums und zu Enzymfreisetzung via CCK1-Rezeptoren. Eine dosisabhängige Wirkung von exogenem CCK bei Ratten wurde bereits 1973 durch Gibbs und Kollegen gezeigt. Dieser Effekt war spezifisch auf die Nahrungsaufnahme. CCK hatte hingegen keine Wirkung auf die Wassereinnahme bei dehydrierten Ratten. Dieses Resultat wurde beim Menschen bestätigt: Es konnte gezeigt werden, dass CCK als Infusion zu einer Reduktion der Mahlzeitengrösse und -dauer führte.
Ghrelin Ghrelin ist ein orexigenes Peptid, welches hauptsächlich durch A/X-Zellen des Magenfundus hergestellt wird. Bioaktiv hat es ausgeprägte orexigene Wirkungen über ZNS-vermittelte Wirkungen. Zusätzlich moduliert Ghrelin die Pankreasfunktion und ist somit integriert im Glukosestoffwechsel und der Energiehomöostase. Beim Menschen wurde gezeigt, dass eine exogene Ghrelingabe zu einer Reduktion der Glukose-stimulierten Insulinsekretion und Glukoseaufnahme in der Peripherie führt. Die Auswirkungen bariatrischer Eingriffe auf Ghrelin werden kontrovers diskutiert, wahrscheinlich auch bedingt durch unterschiedliche operative Techniken.
Glucagon-like peptide 1 (GLP-1) GLP-1 ist ein Produkt des Präproglukagongens. Es wird als Reaktion auf Nahrung und einen neurohumoralen Stimulus
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der proximalen Regionen des Dünndarms von den L-Zellen des Ileums sowie von Kolon und Pankreas sezerniert. GLP-1 führt zur Sättigung und entfaltet «Inkretin»-Wirkungen, indem es die Expression von Genen verstärkt, welche die Betazellfunktion und -proliferation verstärken und zu einer Reduktion der Zellapoptose führen. GLP-1 unterdrückt die Alphazellsekretion, indem es die Glukagonsekretion hemmt. Des Weiteren können auch zentrale Wirkungen von GLP-1 eine Rolle bei der Ernährung und Glukosehomöostase spielen. Die meisten Studien konnten einen erhöhten GLP-1-Spiegel nach diversen bariatrischen Eingriffen zeigen. Der Anstieg von GLP-1 war jeweils auch assoziiert mit einer substanziellen Verbesserung des Diabetes nach dem bariatrischen Eingriff. Anhand von Tierversuchen lässt sich vermuten, dass GLP-1 trophische Wirkungen auf die Betazellen des Pankreas hat.
Peptid YY (PYY) PYY ist ein Peptidhormon, welches in den L-Zellen des distalen Gastrointestinaltrakts hergestellt und nach Nahrungsaufnahme freigesetzt wird. PYY unterdrückt den Appetit und hat regulatorische Wirkungen auf das Körpergewicht und die Glukosehomöostase. Es wurden zwei verschiedene Formen dieses Hormons beschrieben: PYY1-36 und PYY3-36. Da sowohl GLP-1 wie auch PYY durch die L-Zellen des distalen Dünndarms sezerniert werden, ist es auch keine Überraschung, dass der postoperative Verlauf dieser Hormone parallel ist.
Pankreatisches Hormon (PP) PP wird nach Nahrungsaufnahme von Pankreas und Kolon freigesetzt. Es hat wie PYY auch eine anorexigene Wirkung. Während einige Studien einen postoperativen Anstieg von PYY zeigten, konnten andere dies nicht bestätigen. Wichtig ist jedoch, dass die Freisetzung von PYY nach Nahrungsaufnahme erhöht ist und es unabhängig von seinen Wirkungen auf Nahrungsaufnahme und Körpergewicht die insulininduzierte Aufnahme von Glukose in periphere Gewebe erhöht. Erhöhtes postoperatives GLP-1 und PYY liefern also eine gute Erklärung für die günstige Wirkung der bariatrischen Chirurgie auf Gewicht und Diabetes.
Neurotensin Neurotensin ist ein anorexigenes gastrointestinales Peptid, welches hauptsächlich nach Fetteinnahme durch jejunale N-Zellen freigesetzt wird. Dieses Peptid stimuliert die Pankreassekretion und Kolonmotilität und senkt die gastrische Sekretion.
Die «Hindgut»-Hypothese Einer der Schlüsselmechanismen hinter dem Gewichtsverlust und der verbesserten metabolischen Situation ist eine erhöhte «Hindgut»-Stimulation, das heisst die Stimulation distaler Darmabschnitte, welche durch einen veränderten Nahrungstransport und eine gesteigerte Freisetzung von GLP-1 und PYY nach Magenbypass erfolgt. Gemäss «Hindgut»-Hypothese spielen distale Darmabschnitte bei Gewichtsverlust und hinsichtlich metabolischer Wirkungen eine essenzielle Rolle. Eine entsprechende Operation bewirkt eine veränderte und verkürzte gastointestinale Passage und eine Zunahme unvollständig verdauter Nahrung im distalen Darm, was zu
einer Überstimulation der spezialisierten L-Zellen führt. Die beiden L-Zell-Darmhormone GLP-1 und PYY haben eine anorektische Wirkung und vermitteln den Gewichtsverlust. Zusätzlich haben beide Peptide eine Wirkung auf den Glukosestoffwechsel, vor allem GLP-1, welches nach Nahrungsaufnahme zu einer erhöhten Ausschüttung von Insulin führt und die Glukagonsekretion hemmt.
Bariatrische Chirurgie auch für Schlanke? Die Tatsache, dass bariatrische Eingriffe eine so eminente Wirkung auf den Diabetes haben, hat natürlich auch eine Folgefrage aufkommen lassen: Würde ein solcher Eingriff auch bei nur mild oder gar nicht übergewichtigen Patienten mit Typ-2-Diabetes erfolgreich sein? Möglich wäre es, denn bis zu einem BMI von 30 korreliert der Grad der Insulinresistenz mit dem Grad der Adipositas. Über einem BMI von 30 hingegen steigt die Insulinresistenz bei weiterer Gewichtszunahme deutlich weniger stark an.
Darm, Glukosestoffwechsel und bariatrische Chirurgie
Exemplarisch sind die Veränderungen des Glukosestoff-
wechsels und Diabetes nach bariatrischen Eingriffen. Zum
einen wird die Absorptionsfläche kleiner, zum anderen
kommt es zu einer Veränderung gastrischer Hormonspiegel,
die in einem direkten Zusammenhang zum Glukosestoff-
wechsel und der Nahrungsaufnahme steht. Durch Verände-
rungen der gastrointestinalen Hormone kommt es im Prinzip
von einem Tag auf den nächsten zu einem völlig neuen Ess-
verhalten, primär noch mechanistisch bedingt durch kleine-
res Magenvolumen und reduzierte Absorptionsfläche. Die
wesentliche Rolle spielt jedoch der Darm als «vorgelagerte
Zunge», welche unserem Hirn Sättigung und Hunger signa-
lisieren kann. Durch die anatomischen Veränderungen kann
es in kürzester Zeit zu markanter Veränderung des Glukose-
stoffwechsels und Diabetes kommen.
Die Erfahrung zeigt, dass Patienten, welche vor der Opera-
tion beispielsweise ein 2-Spritzen-Schema brauchen, häufig
schon am Tag nach der Operation nicht mehr insulinbedürf-
tig sind. Die Veränderungen des Körpers, der Schmerzemp-
findung, der Mobilität und der Lebensenergie werden von
vielen wie ein zweites Leben empfunden. Das kann beglü-
ckend sein, aber auch neue Herausforderungen bedeuten,
Ängste auslösen und Partnerschaften unter Druck setzen.
Das Übergewicht, welches einiges ausbalanciert hat, fällt weg
und alte Bewältigungsstrategien (Coping-Mechanismen)
funktionieren teilweise nicht mehr.
So hat der Darm nicht nur eine Wirkung auf den Diabetes,
sondern eine weit reichende Wirkung auf die Physis und Psy-
che des Patienten und seiner Umgebung.
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PD Dr. med. Kaspar Berneis Leitender Arzt Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung Universitätsspital Zürich E-Mail: kaspar.berneis@usz.ch
Interessenkonflikte: keine
Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag am 33. Winterthurer Fortbildungskurs 2011.
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