Transkript
STUDIE REFERIERT
Schizophrenie und bipolare Störung
Teilen beide Erkrankungen eine gemeinsame genetische Ursache?
Merksätze
■ Schizophrenie und bipolare Störung zeigen in einer grossen Familienstudie starke Hinweise auf gemeinsame genetische Ursachen.
■ Die strikte Trennung zwischen den beiden Psychosen ist zu überdenken.
Eine Beobachtungsstudie anhand
eines umfassenden Familienregis-
ters aus Schweden hat die Bei-
träge der Vererbung und der
Umwelt bei der Entstehung dieser
Psychosen untersucht.
THE LANCET
Ob Schizophrenie und bipolare Störung eine gemeinsame Ursache haben, wird kontrovers diskutiert. Dabei reichen die Ansichten von der Vorstellung zweier völlig distinkter Krankheitsentitäten über mögliche komplizierte Erklärungsmuster mit teilweise überlappenden ursächlichen Risiken bis zum Konzept, dass beiden Krankheiten ein identischer Prozess zugrunde liegt. Für eine gemeinsame Ursache sprechen molekulargenetische Studien, die Existenz eines intermediären Phänotyps in Form der schizoaffektiven Störung sowie Hinweise auf ähnliche Endophänotypen bei der Bestimmung der Dichte der weissen Hirnsubstanz. Genomweite Screenings haben eine gewisse Überlappung zwischen Schizophrenie und bipolarer Störung gezeigt, allerdings kamen Metaanalysen dann später zu widersprüchlichen Aussagen. Genetische Studien bieten Hinweise auf eine Überlappung bei der vererbten Empfindlichkeit für die beiden Störungen. Bei solchen Fragestellungen können Zwillings- und Familienstudien weiterhelfen. Die wenigen entsprechenden Untersuchungen deuten eher auf
zwei distinkte Krankheiten. Mit dieser Studie wollten die Autoren die umstrittene Frage anhand eines umfassenden schwedischen Bevölkerungsregisters klären.
Methodik Die Autoren verbanden das Multigenerationenregister, das Informationen über alle Kinder und ihre Eltern in Schweden enthält, mit dem Spitalentlassungsregister, in dem alle psychiatrischen Diagnosen verzeichnet sind. So konnten sie für den Zeitraum von 1973 bis 2004 gut 9 Millionen Individuen aus mehr als 2 Millionen Kernfamilien zwischen 1973 und 2004 eruieren. Die Risiken für Schizophrenie, bipolare Störung und ihre Komorbidität wurden für biologische und Adoptiveltern, Nachkommen, Geschwister und Halbgeschwister der Probanden mit einer der Krankheiten berechnet.
Resultate Verwandte ersten Grades von Probanden mit Schizophrenie (n =35 985) oder bipolarer Störung (n =40 487) hatten ein erhöhtes Risiko für diese Störungen. Halbgeschwister hatten ein signifikant erhöhtes Risiko für Schizophrenie (relatives Risiko [RR] 3,6 für mütterliche und 2,4 für väterliche Halbgeschwister sowie für bipolare Störung ([RR= 4,5 bzw. 2,4]), das aber substanziell tiefer war als dasjenige voller Geschwister (Schizophrenie: RR=9,0; bipolare Störung: RR=7,9). Bei Analyse der Verwandten von Probanden mit bipolarer Störung ergaben sich für alle Beziehungen erhöhte Schizophrenierisiken, sogar einschliesslich der Adoptivkinder mit biologischen Eltern mit bipolarer Störung. Die Vererbbarkeit betrug für Schizophrenie
64 Prozent und für bipolare Störung 59 Prozent. Gemeinsame Umwelteinflüsse waren bei Schizophrenie mit 4,5 Prozent und bei bipolarer Störung mit 3,4 Prozent zwar klein aber substanziell. Die Komorbidität zwischen den beiden psychischen Erkrankungen war vor allem auf gemeinsame additive, genetische Effekte zurückzuführen.
Schlussfolgerung
Wie zuvor genetische Studien zeigt diese
Untersuchung an über 2 Millionen
schwedischen Familien Evidenz für eine
teilweise gemeinsame, genetische Ursa-
che von Schizophrenie und bipolarer
Störung. Diese Ergebnisse stellen somit
die nosologische Dichotomie zwischen
den beiden Psychosen infrage und for-
dern zur Wiedererwägung der distinkten
diagnostischen Entitäten auf.
■
Paul Lichtenstein et al.: Common genetic determinants of schizophrenia and bipolar disorder in Swedish families: a population-based study. Lancet 2009; 373: 234—239.
Interessenkonflikte: keine deklariert
Halid Bas
556 ARS MEDICI 13 ■ 2009