Transkript
FORTBILDUNG
Schilddrüsenhormon-Substitution
Es gilt, die «Wohlfühldosis» zu finden
Bei Patienten, die eine Substitution mit Schild-
drüsenhormon benötigen, richtet man sich, was die
Dosierung angeht, nach dem TSH-Zielwert. Dieser
unterliegt jedoch sehr grossen interindividuellen
Schwankungen. Um den für den jeweiligen Patienten
optimalen TSH-Spiegel herauszufinden, können
Angaben über das physische und psychische Wohl-
befinden weiterhelfen. Darüber hinaus sollten even-
tuelle appetitsteigernde Effekte des Levothyroxins
berücksichtigt werden.
KARL-MICHAEL DERWAHL
Schilddrüsenhormone steigern die Wärmeproduktion des Körpers. Dieser thermogenetische Effekt von Schilddrüsenhormonen ist eng assoziiert mit einem gesteigerten Appetit, einer vermehrten Nahrungsaufnahme und einer Zunahme der Fettmasse, der sogenannten Lipogenese (14). Diese Mechanismen sichern die Energiezufuhr und verhindern so den Gewichtsverlust. Eine Hyperthyreose führt zu einer Erhöhung der basalen Thermogenese und damit des Grundumsatzes. Umgekehrt führt eine Hypothyreose zu einer Verminderung der basalen Thermogenese und des Grundumsatzes (Abbildung 1) (14). Bei der Hyperthyreose wird über eine Steigerung des Appetits und dadurch der Nahrungsaufnahme sowie über eine gesteigerte Lipogenese der Gewichtsverlust begrenzt (11). Dies erklärt die Tatsache, dass Patienten mit einer latenten Hyperthyreose nur selten Gewicht verlieren oder zum Beispiel Patienten nach einer Operation wegen einer hyperthyreoten Knotenstruma unter einer Substitutionstherapie trotz euthyreoter Stoffwechsellage nicht selten über eine Gewichtszunahme klagen (s.u.).
Der optimale TSH-Zielwert In der Therapie der Hypothyreose ist nach Normalisierung der Schilddrüsenhormonparameter T3 und T4 der TSH-Wert der
wesentlichste Parameter für die Beurteilung der Stoffwechsellage. Da sich der Referenzbereich für TSH von 0,3 bis 4,0 mU/l erstreckt, stellt sich bei dieser grossen Spannweite häufig die Frage, welcher TSH-Zielwert für den einzelnen Patienten denn nun angestrebt werden sollte. Dabei besteht in der Regel das Problem, dass die ursprünglichen Schilddrüsenparameter vor der Entwicklung einer Hypothyreose meist nicht bekannt sind. In einschlägigen Lehrbüchern wird häufig als Zielwert in der Therapie mit Schilddrüsenhormonen ein TSH um 1,0 mU/l angegeben. Aber ist dieser Wert für die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Hypothyreosepatienten am günstigsten?
Grosse interindividuelle Schwankungen In einer Population lässt sich eine sehr grosse individuelle Schwankung von normalen Schilddrüsenparametern nachweisen, die, wie oben beschrieben, Niederschlag in sehr weiten Referenzbereichen findet. Sie wird ursächlich auf eine Kombination von genetischen und Umweltfaktoren zurückgeführt (7). Diesen in der Bevölkerung stark variierenden Referenzbereichen stehen relativ geringe Schwankungen bei einzelnen Individuen gegenüber (Abbildung 2).
Psychisches Wohlbefinden und TSH-Wert Während die psychischen Auswirkungen einer manifesten Hypothyreose hinlänglich untersucht wurden, ist in der Substitutionstherapie der Hypothyreose nur wenig über den
Merksätze
■ In der Substitutionstherapie können schon kleine Veränderungen der Levothyroxindosis das Gewicht beeinflussen.
■ Schon geringe Veränderungen der Schilddrüsenfunktionen können den Body-Mass-Index und die Entwicklung einer Adipositas in einer Population bestimmen.
■ Bei Patienten, die unter Levothyroxin an Gewicht zunehmen, sollte man immer nach einer Steigerung von Appetit beziehungsweise Nahrungsaufnahme fragen.
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SCHILDDRÜSENHORMON-SUBSTITUTION
Wärmeproduktion
Hyperthyreose
Fakultative Thermogenese
Wärmeabfuhr
37
Euthyreose Basale Thermogenese
Minimaler Energieumsatz
Hypothyreose
Umgebungstemperatur
37
Abbildung 1: Basale Thermogenese bei Hyper- und Hypothyreose. Während der minimale Energieumsatz weitgehend konstant ist, kommt es bei Hyperthyreose zu einer Erhöhung (links) und bei Hypothyreose zu einer Verminderung der Thermogenese (rechts) und damit des Grundumsatzes unter Ruhebedingungen (mod. nach [14]).
Körpertemperatur
40
30
20
10
0 45- 55- 65- 75- 85- 95- 105- 115- 125- 135- 145- 155- 165-
Gesamt-T4 [mmol/l]
Abbildung 2: Geringe Streuung des Gesamt-T4 beim einzelnen Probanden gegenüber der grossen Streuung im Gesamtkollektiv von 15 gesunden Männern, deren T4-Wert monatlich über ein Jahr kontrolliert wurde (mod. nach [2]).
Zusammenhang zwischen dem Zielwert der Schilddrüsenparameter im Referenzbereich und dem Wohlbefinden bekannt. In einer kürzlich veröffentlichten britisch-niederländischen Studie wurde das psychische Wohlbefinden von Patienten unter einer Levothyroxin-Substitutionstherapie analysiert (Saravanan et al. 2006). Dabei fand sich eine enge Korrelation zwischen den freien T4- und TSH-Spiegeln und dem Befindlichkeitsscore. Je niedriger der TSH-Wert beziehungsweise je höher der FT4-Wert lag, umso besser war das Befinden und umso weniger Beschwerden wurden von den Patienten angegeben. Offenbar ist es also sinnvoll, die Höhe der Levothyroxin-Substitutionsdosis vom Wohlbefinden des Patienten abhängig zu machen, um den individuellen optimalen Zielwert für TSH innerhalb des Referenzbereichs zu erreichen.
Gefahr der Gewichtszunahme bei zu niedriger Levothyroxindosis Bereits bei einer subklinischen Hypothyreose liess sich ein signifikant verminderter Grundumsatz nachweisen (16), allerdings nur bei einem TSH-Spiegel von über 5,7 mU/l. Eine erhöhte Körperfettmasse fand sich bei diesen Patienten (noch) nicht. Erst bei einer manifesten hypothyreoten Stoffwechsellage konnte eine Zunahme der Körperfettmasse nachgewiesen werden (12). Bei der Behandlung der Hypothyreose ist auf eine ausreichende Levothyroxinsubstitution zu achten. Dabei ist nicht nur eine subklinische Hypothyreose zu vermeiden, sondern auch der TSH-Spiegel innerhalb des Referenzbereiches adäquat zu senken. Senkungen des TSH-Spiegels innerhalb des Referenzbeziehungsweise Normalbereichs können nämlich zu einer Erhöhung des Grundumsatzes um bis zu 10 Prozent führen (1). Da ungefähr 9 kcal die Fettmasse um 1 g erhöhen, führt nach
In der Schweiz zugelassene Levothyroxinpräparate: Eltroxin®, Eutyhrox®, Tirosint®
Berechnung dieser Autoren eine Verminderung des Grundumsatzes um 75 bis 150 kcal/Tag bei unveränderter Nahrungsaufnahme zu einer Gewichtszunahme von 1 kg innerhalb von fünf bis zehn Jahren. Unter Berücksichtigung der Energiebilanzierung kann dabei eine zu geringe Levothyroxindosis über ein relativ zu hohes TSH über Jahre zu einem signifikanten Anstieg des Gewichts und damit zu Adipositas führen. Dabei ist zu betonen, dass es sich nur um leichte Veränderungen des TSH-Spiegels handelt, wobei die Schilddrüsenhormonspiegel in jedem Fall im Normbereich beziehungsweise Referenzbereich liegen. Da schon kleine Veränderungen des TSH-Spiegels den Grundumsatz und damit perspektivisch das Gewicht beeinflussen, ist davon auszugehen, dass diese Veränderungen auch zu einer höheren Prävalenz der Adipositas in der Bevölkerung führen können. In einer 4082 Personen umfassenden dänischen Populationsstudie (8) konnte eine signifikante Assoziation zwischen dem TSH-Spiegel und dem BMI nachgewiesen werden (Abbildung 3). Innerhalb von sechs Monaten beziehungsweise fünf Jahren nahmen Personen mit einem höheren TSH-Spiegel im Vergleich zu Personen mit einem niedrigeren TSH signifikant mehr an Gewicht zu. Ein umgekehrtes Verhältnis war zwischen dem BMI und den freien T4-Spiegeln nachweisbar: Je geringer das freie T4, umso höher war der BMI. Die Daten dieser Populationsstudie sprechen dafür, dass schon geringe Veränderungen der Schilddrüsenfunktion innerhalb des Normbereichs Einfluss auf die langfristige Gewichtsentwicklung nehmen und eine Bedeutung für die Prävalenz der Adipositas in einer Bevölkerung haben.
Individuelle Zielbereiche finden Wie oben bereits erörtert, ist der Normal- oder Referenzbereich für die Schilddrüsenparameter T3, T4 und TSH sehr gross. Es ist also wichtig, für jeden Patienten individuell, zum Beispiel nach einer subtotalen Schilddrüsenreduktion oder bei einer Hypothyreose nach Radiojodtherapie, Zielbereiche innerhalb
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des Referenzbereichs für die Schilddrüsenparameter zu definieren. Die Festlegung der Zielwerte innerhalb des Referenzwerts für den einzelnen Patienten sollte unter dem Gesichtspunkt des physischen und psychischen Wohlbefindens erfolgen. In der Substitution mit Schilddrüsenhormonen ergeben sich dabei zwei wesentliche Probleme: ■ Die individuellen euthyreoten Schilddrüsenwerte vor einer
Erkrankung sind meist nicht bekannt. ■ Eine Störung der Schilddrüsenfunktion kann zu Adap-
tationsmechanismen (z.B. veränderte Essgewohnheiten) führen, die nach Behandlung der Schilddrüsenerkrankung wieder verändert werden müssen.
A BMI kg/m2
27
TSH und BMI
26
25
24
23
< 0,4 0,4—0,99 1,0—1,99 n = 170 n = 1140 n = 1886 2,0—3,6 n = 720 > 3,6 S-TSH n = 166 mU/l
B TSH und Gewichtszunahme in 6 Monaten kg 2,4 2,0 1,6 1,2 0,8 0,4
< 0,4 0,4—0,99 1,0—1,99 n = 170 n = 1140 n = 1886 2,0—3,6 n = 720 > 3,6 S-TSH n = 166 mU/l
Das erste Problem ist dann nicht sehr gravierend, wenn nicht nur der Referenzbereich für die Schilddrüsenparameter, sondern gleichermassen auch das Wohlbefinden des Patienten in der Substitutionstherapie mit Schilddrüsenhormonen berücksichtigt wird («Wohlfühldosis für Schilddrüsenhormone»). Dabei sollten allerdings Über- oder Unterdosierungen in den Bereich der latenten Hyper- oder Hypothyreose vermieden werden. Ferner sollte die Anpassung der optimalen Dosis bei multimorbiden Patienten, zum Beispiel mit einer koronaren Herzkrankheit, in kleineren Schritten über viele Wochen erfolgen.
Gewichtszunahme unter einer Levothyroxin-
substitution
In der Praxis kann das zweite Problem für eine erhebliche
Unzufriedenheit des Patienten sorgen. Nicht selten stösst ein
Patient, der unter einer Levothyroxin-Substitutionstherapie
über eine Gewichtszunahme klagt, auf Unverständnis, wenn
die gemessenen Schilddrüsenparameter im Referenzbereich
liegen. In seltenen Fällen kann sogar eine auf Patientenwunsch
hin induzierte weitere Erhöhung der Schilddrüsenhormon-
dosis zu einer weiteren Gewichtszunahme führen.
Dieses Paradoxon erklärt sich über die appetitsteigernde
Wirkung von Schilddrüsenhormonen, die zu einer vermehrten
Nahrungsaufnahme und einer Zunahme der Lipogenese
führt (11). Dieser biologisch sinnvolle Mechanismus einer
Appetitsteigerung soll dem Gewichtsverlust bei manifester
Hyperthyreose entgegenwirken. Bei Patienten, die unter einer
Substitutionstherapie mit Levothyroxin über eine Gewichts-
zunahme klagen, handelt es sich meistens um einen Zustand
nach Operation oder Radiojodtherapie wegen einer Hyper-
thyreose.
Bei Patienten mit einer Gewichtszunahme unter Levothyroxin
ist es deshalb wichtig, nicht die Zunahme des Gewichts mit
einer Steigerung der Levothyroxindosis zu beantworten, son-
dern zunächst anamnestische Veränderungen des Appetits
und der Nahrungsaufnahme zu ergründen und gegebenenfalls
diätetische Hinweise zu geben.
■
Literatur unter: www.allgemeinarzt-online.de/downloads/literaturliste.html
C TSH und Gewichtszunahme in 5 Jahren kg
6 5 4 3 2 1 0
< 0,4 0,4—0,99 1,0—1,99 n = 170 n = 1140 n = 1886
2,0—3,6 n = 720
> 3,6 S-TSH n = 166 mU/l
Abbildung 3: Beziehung zwischen BMI, Serum-TSH und Gewichtszunahme innerhalb von 6 Monaten bzw. 5 Jahren (mod. nach 8)
Prof. Dr. med. Karl-Michael Derwahl Klinik für Innere Medizin und Institut für klinische
Forschung und Entwicklung (IKFE) St. Hedwig Kliniken
Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité Universität Berlin, Berlin-Mitte D-10115 Berlin
Interessenlage: Der Autor führt in seinem Institut regelmässig klinische Studien (Phase 1—4) durch.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 7/2008. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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