Transkript
FORTBILDUNG
Antikoagulation bei Patienten mit Vorhofflimmern
Sorgfältige Risikoabschätzung schützt vor Schlaganfall
Die absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern ist mit
zunehmendem Alter die häufigste Rhythmusstörung.
Patienten sind ohne eine effektive Thrombembolie-
prophylaxe erheblich schlaganfallgefährdet. Bei per-
manentem Vorhofflimmern kommt der sorgfältigen
Risikoabschätzung für die Entscheidung zwischen
oraler Antikoagulation und Thrombozytenaggrega-
tionshemmung eine grosse Bedeutung zu.
F RA N K SA L Z E R, L A Z LO K A RO LY I UND STEFAN G. SPITZER
Die absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern ist die häufigste Rhythmusstörung im klinischen Alltag, die bei 0,4 bis 2 Prozent der Bevölkerung vorkommt. Sie ist für zirka ein Drittel aller Krankenhausaufnahmen wegen einer Rhythmusproblematik verantwortlich. Man schätzt, dass in Europa ungefähr 4,5 Millionen Patienten betroffen sind und in Deutschland bis zu 800 000 (1). Die Prävalenz beträgt bei den unter 60-Jährigen weniger als 1 Prozent, steigt im Alter zwischen 65 und 75 Jahren auf zirka 6 Prozent und darüber auf 8 bis 10 Prozent (2). Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Mortalität ist aufgrund der assoziierten myokardialen Erkrankungen doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung. Krankenhausaufenthalte wegen einer absoluten Arrhythmie haben in den letzten 20 Jahren um 66 Prozent zugenommen. Die Erkrankung verursacht in Europa jährlich Kosten von etwa 13,5 Milliarden Euro. Vorhofflimmern ist aufgrund thrombembolischer Ereignisse mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko assoziiert. Die jährliche Inzidenz hierfür beträgt im Durchschnitt 5 Prozent. Damit ist das Risiko doppelt bis siebenfach erhöht im Vergleich zu Patienten ohne absolute Arrhythmie. In der Framingham-Studie wurden 15 Prozent aller ischämischen zerebralen Insulte auf Vorhofflimmern ohne rheumatische Herzklappenerkrankungen zurückgeführt. Das Risiko nimmt mit steigendem Alter
deutlich zu. Bei den 50- bis 60-Jährigen beträgt es zirka 1,5 Prozent, zwischen 80 und 89 Jahren 23,5 Prozent (3). Die verschlechterte diastolische Leerung des linken Atriums führt bei Vorhofflimmern zur Hämostase und erleichtert die Bildung von Thromben, insbesondere im linken Vorhofohr. Welche Faktoren aber die Embolisation und die nachfolgenden ischämischen Ereignisse begünstigen, ist noch nicht vollständig geklärt. Die genannten Daten machen deutlich, welch grosse Bedeutung einer wirksamen Thrombembolieprophylaxe bei Vorhofflimmern zukommt. Im Folgenden sollen die Möglichkeiten der Thrombozytenaggregationshemmung und Antikoagulation erläutert werden.
Studienlage Seit 1989 wurden mehrere grosse Studien zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern-assoziierten Thrombembolien durchgeführt. In der Copenhagen Atrial Fibrillation, Aspirin and Antikoagulation Study (AFASAK 1) zeigten sich im Vergleich zu Acetylsalicylsäure (ASS) (75 mg) und Plazebo in der Warfaringruppe (INR 2,8–4,2) bei leicht erhöhtem Blutungsrisiko (4) deutlich weniger thrombembolische Komplikationen (2% vs. 5,5%). In der AFASAK-II-Studie konnte die Überlegenheit von Warfarin dosisadaptiert (Ziel INR 2,0–3,0) gegenüber einer fixen niedrig dosierten Warfarindosis, einer Kombination von niedrig dosiertem Warfarin und ASS 300 mg sowie einer ASS 300-mgMonotherapie belegt werden (5).
Merksätze
■ Bei geringem Risiko kann die Behandlung mit ASS ausreichend sein.
■ Erste Wahl in allen anderen Fällen ist die Antikoagulation mit einem INR-adaptierten Cumarinderivat.
■ Für eine Arrhythmiedauer von weniger als 48 Stunden ist keine Thrombembolieprohylaxe — auch bei Kardioversion — notwendig.
■ Drei Wochen vor und bis mindestens vier Wochen nach einer Kardioversion sollte eine orale Antikoagulation mit einem INR zwischen 2,0 und 3,0 durchgeführt werden.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1: CHADS2-Score
Tabelle 3: Risikofaktoren für Thrombembolie
Risikofaktor
Punkte
Früherer Schlaganfall 2
Herzinsuffizienz
1
Hypertonie
1
Diabetes mellitus
1
Alter Ն 75 Jahre
1
Low Risk
Moderate Risk
Alter zwischen 65 und 74 Jahren weiblich KHK Thyreotoxikose
Alter Ն 75 Jahre Hypertonie Herzinsuffizienz linksventrikuläre EF Յ 35 Diabetes mellitus
* bei mechanischem Klappenersatz INR Ͼ 2,5
High Risk
früherer Schlaganfall, TIA oder Embolie Mitralklappenstenose Herzklappenersatz*
Tabelle 2: Jährliches Schlaganfallrisiko in Tabelle 2: Abhängigkeit des CHADS-Scores
Tabelle 4: Risikoadaptierte Therapieempfehlung Tabelle 4: zur Thrombembolieprophylaxe
CHADS-Punkte 0 1 2 3 4 5 6
jährliches Schlaganfallrisiko (%) 1,9 2,8 4,0 5,9 8,5 12,5 18,2
Den Vorteil einer INR-adaptierten Warfarintherapie wiesen weitere Studien nach, unter anderem die European Atrial Fibrillation Study (EAFT) (6), die Stroke Prevention in Atrial Fibrillation Study (SPAF 1) (7), das Boston Area Anticoagulation Trial for Atrial Fibrillation (BAATAF) (8), die Canadian Atrial Fibrillation Anticoagulation Study (CAFA) (9) und die Stroke Prevention in Nonrheumatic Atrial Fibrillation (SPINAF) (10). In einer Metaanalyse dieser Studien war das Blutungsrisiko um den Faktor 1,7 erhöht (11). Bei einer Thrombembolieprophylaxe mittels INR-adaptierten Cumarinderivaten werden im Vergleich zu ASS bei 1000 Patienten mit einer Behandlung über einem Jahr einerseits 23 Schlaganfälle vermieden, andererseits neun schwere Blutungen verursacht (11).
Vorgehen in der Praxis Risikostratifizierung bei chronischem Vorhofflimmern Im aktuell angewandten sogenannten CHADS2-Score (Cardiac Failure, Hypertension, Age, Diabetes, Stroke [ϫ 2]) addieren sich in einem Punktesystem die Risikofaktoren zu einem Wert, der das jährliche Risiko eines Patienten mit Vorhofflimmern für einen Schlaganfall ausdrückt, wenn keine Antikoagulation eingeleitet wird (Tabelle 1). Beispielsweise werden bei 100 Patienten mit einem CHADS2-Score von 0 ohne Antikoagulation zwei Patienten pro Jahr einen Schlaganfall erleiden, mit einem Score
Risikokategorie
keine oder «low risk»-Risikofaktoren
ein Risikofaktor aus der Kategorie «moderate risk»
ein Risikofaktor «high risk» oder > 1 Risikofaktor aus der Kategorie «moderate risk»
Empfohlene Therapie ASS 81—325 mg ASS 81—325 mg oder Cumarin (INR 2,0—3,0) Cumarin (INR 2,0—3,0)
von 6 dagegen 18 (Tabelle 2). In der Normalbevölkerung ohne Vorhofflimmern beträgt die jährliche Inzidenz 1 Prozent. Diese Daten wurden bei Patienten im Alter zwischen 65 und 95 Jahren erhoben. Welche Rolle dieser Score bei jüngeren Patienten spielt, ist derzeit noch unklar. Weiterhin darf er bei Patienten mit Klappenerkrankungen, insbesondere einer Mitralklappenstenose, nicht verwendet werden. Hier sollte auf jeden Fall eine Antikoagulation mit Cumarinderivaten eingeleitet werden. Aufstellung weiterer Risikofaktoren zur Entscheidungshilfe über die Einleitung einer Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung zeigt Tabelle 3.
Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung? In der Metaanalyse der genannten Studien führte eine Antikoagulation mit INR-adaptierten Cumarinderivaten zu einer effizienten Prophylaxe gegen ischämische als auch hämorrhagische zerebrale Ereignisse. Die Risikoreduktion betrug 61 Prozent gegenüber Plazebo (12). Hochrisikopatienten für Hämorrhagien waren ausgeschlossen. Die optimale Protektion vor thrombembolischen Ereignissen liegt zwischen einem INR von 2,0 und 3,0. Der niedrigste effiziente Wert sollte für Patienten mit einem hohen Blutungsrisiko, insbesondere bei älteren, angestrebt werden. Bei sorgfältiger Einstellung und Überwachung des INR sowie eines Hypertonus beträgt die Inzidenz von intrazerebralen Hämorrhagien heutzutage 0,1 bis 0,61. Somit bietet eine Antikoagulation den derzeit optimalen Schutz.
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ANTIKOAGULATION BEI PATIENTEN MIT VORHOFFLIMMERN
Acetylsalicylsäure ASS verhindert in geringerem Umfang einen Schlaganfall. In der gleichen Metaanalyse lag die Risikoreduktion lediglich bei 19 Prozent. Bei Patienten mit Vorhofflimmern ist ASS wahrscheinlich effektiver zur Prävention nicht kardioembolisch bedingter ischämischer zerebraler Insulte. Je höher das Risiko für kardioembolische Ereignisse, desto ineffektiver erweist sich ASS. Eine Kombination aus Antikoagulation und Thrombozytenaggregationshemmung zeigt keinen Vorteil gegenüber einer Monotherapie mit Cumarinen. Jedoch erhöht sich bei älteren Patienten das Risiko für intrazerebrale Blutungen. Eine alleinige Therapie mit ASS (81–325 mg) ist insbesondere im Alter < 75 Jahren bei Fehlen von zusätzlichen Risikofaktoren (Tabelle 3) oder bei nur einem vorhandenen «moderate risk factor» ausreichend. Für Patienten mit Vorhofflimmern und stabiler koronarer Herzerkrankung bietet eine INR-adaptierte Cumarintherapie ausreichenden Schutz sowohl gegen ischämische zerebrale als auch gegen kardiale Ereignisse. Nach PTCA und Stent ist die fortlaufende Therapie mit Thienopyridinen essenziell zur Verhinderung einer Stentthrombose. Die zusätzliche Gabe von ASS zur Kombination aus INR-adaptierter Cumarintherapie und Clopidogrel erhöht daher lediglich das Blutungsrisiko, ohne eine weitere Absenkung des Stentthromboserisikos zu bewirken. Im Falle einer notwendigen Unterbrechung der Antikoagulation aufgrund einer Koronarangiografie sollte diese so schnell wie möglich wiederaufgenommen und der Ziel-INR von 2,0 bis 3,0 erreicht werden. Ohne erneutes koronares Ereignis nach Stentimplantation kann Clopidogrel neun bis zwölf Monate nach akutem Koronarsyndrom, beziehungsweise nach Implantation eines «drug-eluting»-Stents, ansonsten bereits nach vier Wochen unter Beibehaltung der INRadaptierten Cumarintherapie abgesetzt werden. Eine Kombinationstherapie aus ASS und Clopidogrel ist keine Alternative zur Antikoagulation, sie schützt nicht ausreichend gegen Tod aufgrund vaskulärer Ereignisse, Schlaganfall, Embolie und Myokardinfarkt. Die ACTIVE-W-Studie wurde wegen der besseren Wirkung von Cumarinpräparaten abgebrochen (13). Heparin Gewichtsadaptiertes Heparin wird heutzutage zur Überbrückung bis zum Erreichen einer ausreichenden INR oder nach Absetzen einer Cumarintherapie vor operativen Eingriffen eingesetzt. Hierbei bietet niedermolekulares Heparin aufgrund seiner pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften deutliche Vorteile gegenüber unfraktioniertem Heparin. Muss eine Antikoagulation wegen einer Intervention unterbrochen werden, kann dies nach der derzeitigen Datenlage bis zu einer Woche ohne zusätzliche Heparingabe geschehen, wenn Risikofaktoren wie mechanische Herzklappen oder vorangegangene Schlaganfälle, TIA oder embolische Ereignisse fehlen. In diesen Fällen oder bei einer längerfristig notwendigen Unterbrechung der Cumarintherapie sollte eine Heparinapplikation erfolgen. Eine Übersicht über die aktuellen Empfehlungen zur Thromb- embolieprophylaxe bei permanentem Vorhofflimmern der ACCIAHA/ESC aus dem Jahr 2006 zeigt Tabelle 4 (14). Bei neu aufgetretenem oder paroxysmalem Vorhofflimmern besteht bei einer Dauer von weniger als 48 Stunden ein gerin- ges Thrombembolierisiko. Eine orale Antikoagulation oder Thrombozytenaggregationshemmung ist innerhalb dieses Zeitraums auch für eine geplante Kardioversion nicht notwen- dig. Nach einer Kardioversion sollte eine Antikoagulation mit einem Ziel-INR zwischen 2,0 und 3,0 eingeleitet und bei stabi- lem Sinusrhythmus gemäss den Leitlinien für mindestens vier Wochen fortgesetzt werden (11). Da ein nicht unerhebliches Risiko für klinisch asymptomatische Vorhofflimmerepisoden fortbesteht, erscheint eine längere Fortführung der Antikoa- gulation von zum Beispiel sechs Monaten sinnvoll. Die Ent- scheidung über eine Beendigung der therapeutischen Anti- koagulation sollte in Abhängigkeit von Ergebnissen einer Holter-EKG-Registrierung getroffen werden. Ist die Dauer des Vorhofflimmerns unbekannt oder besteht dieses länger als 48 Stunden und ist eine medikamentöse oder elektrische Kar- dioversion geplant, sollte vorher eine effektive Antikoagulation für mindestens drei Wochen bestehen. Alternativ kann unmit- telbar vorher eine transösophageale Echokardiografie zum Thrombenausschluss durchgeführt werden. Eine alleinige Thrombozytenaggregationshemmung ist in Zusammenhang mit einer Kardioversion unzureichend. ■ Korrespondenzadresse: Dr. med. Frank Salzer Praxisklinik Herz und Gefässe Forststrasse 3, D-01099 Dresden E-Mail: frank.salzer@praxisklinik-dresden.de Interessenkonflikte: keine deklariert Literatur auf Anfrage beim Verlag: info@rosenfluh.ch. Diese Arbeit erschien zuerst in «Notfall & Hausarztmedizin» 4/2007. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren. ARS MEDICI 12 ■ 2008 535