Transkript
STUDIE
Primärprävention von Neuralrohrdefekten
Welchen Einfluss haben die Empfehlungen zur Folsäure-Supplementierung?
Eine Nahrungsergänzung mit Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten wird bereits
Merksätze
seit den Neunzigerjahren des letzten Jahr-
hunderts empfohlen. Ein Trendwechsel bei
der Inzidenz lässt sich indes nicht feststellen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Empfehlungen für die Einnahme von Folsäure zur Primärprävention von Neuralrohrdefekten existieren seit 1992 und wurden zuerst in den USA und England implementiert. Die Nahrungsergänzung mit dem B-Vitamin vor dem Zeitpunkt der Konzeption reduziert das Risiko für eine Spina bifida und andere Neuralrohrdefekte um schätzungsweise 80 Prozent oder mehr, wie verschiedene Studien bestätigten. Weltweit kommen pro Jahr zirka 300 000 Neugeborene mit Geburtsdefekten auf die Welt. Betroffen sind vor allem die kinderreichen Entwicklungsländer, wo nahezu eines von vier Kindern an den Folgen eines Geburtsdefektes stirbt. Folsäure ist kostengünstig, einfach und sicher in der Anwendung, weshalb viele Organisationen und Behörden zu einem präventiven Einsatz raten. Die Empfehlungen zur Anwendung variieren. Sie reichen von gesunder Ernährung und zusätzlicher Folsäure-Supplementierung bis zu einer allgemeinen Anreicherung von Mehl mit Folsäure. Letzteres wird bis anhin nur in wenigen Staaten wie in den USA und Kanada mit Erfolg praktiziert.
Unveränderte Inzidenz
Ob die alleinige Empfehlung (ohne Anreicherung von Mehl) ebenfalls zu einer Reduktion von Neuralrohrdefekten führt, war Gegenstand der vorliegenden Studie. Diese schloss 13 Geburtenregister, vornehmlich aus europäischen Staaten, ein, die Informationen über Fälle von Anenzephalie und Spina bifida bei Lebend- und Totgeburten sowie bei Schwangerschaftsabbrüchen zwischen 1988 und 1998 enthielten. Die Autoren kalkulierten die Inzidenz von Neuralrohrdefekten während der gesamten Studienperiode, des Zeitraumes vor und nach 1992
■ Weltweit kommen pro Jahr zirka 300 000 Neugeborene mit Geburtsdefekten auf die Welt.
■ Folsäure ist kostengünstig, einfach und sicher in der Anwendung.
■ Die Inzidenz von Neuralrohrdefekten war in den meisten Ländern stabil. Auch nach der Publikation randomisierter Studien zur Folsäure-Prävention 1992 gab es keine Änderungen im Trend.
■ Die Autoren empfehlen eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure und eine bessere Implementierung von Empfehlungen zur Folsäure-Anwendung.
sowie vor und nach Einführung der nationalen Empfehlungen zur Folsäure-Prävention. Unter den insgesamt mehr als 13 Millionen registrierten Geburten waren 8636 Fälle von Anenzephalie oder Spina bifida aufgetreten. Wie die Autoren zeigen konnten, war die Inzidenz von Neuralrohrdefekten in den meisten Ländern stabil. Dabei gab es keine Unterschiede in den Trends vor und nach 1992. Auch die Abgabe nationaler Empfehlungen führte zu keinen nennenswerten Änderungen. Die Autoren nahmen an, dass – abhängig von der Effektivität der Folsäure-Supplementierung – seit 1993 zwischen 1287 und 3861 Fälle von Neuralrohrdefekten in den eingeschlossenen Staaten hätten vermieden werden können.
Warum blieben die Empfehlungen erfolglos?
Am ehesten trifft wohl die Antwort zu, dass die Empfehlungen nicht bei einer ausreichend grossen Gruppe Frauen zu einer anhaltenden Verhaltensänderung geführt haben und daher ohne messbaren Effekt geblieben sind. Laut unpublizierten Daten von Botto und Bianchi scheint die Einnahme von Folsäure in Europa generell sehr niedrig zu sein. Nur in den Niederlanden und in Grossbritannien, wo die Regierungen die Durchführung von Kampagnen zum Einsatz von Folsäure unterstützen, hat
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die Anwendung zugenommen. Unklar ist auch, ob unter
Berücksichtigung kultureller, sozialer und ökonomischer Fak-
toren mit der Empfehlung allein überhaupt eine Reduktion von
Neuralrohrdefekten erreicht werden kann. Dagegen spricht die
Beziehung zwischen der Primärprävention, dem ökonomi-
schen Status und dem Ausbildungsstand.
In diesem Kontext bietet die Anreicherung von Mehl eine von
sozialen und ökonomischen Barrieren unabhängige Möglich-
keit, die Bevölkerung mit Folsäure zu versorgen. In Ländern, wo
diese Methode bereits angewandt wird, wurde bereits nach kur-
zer Zeit eine Zunahme der Folsäure-Spiegel im Blut festgestellt.
Auch wenn die Reduktion von Neuralrohrdefekten geringer
ausfällt als durch die Supplementierung mit Folsäure, so war
schon nach kurzer Zeit eine Abnahme der Inzidenz zu beob-
achten.
Betrachtet man die Ergebnisse dieser Studie im Zusammenhang
mit den jährlich 130 Millionen Geburten weltweit, so hätten seit
Anfang der Neunzigerjahre vermutlich Tausende von Neural-
rohrdefekten vermieden werden können. Aus diesem Grunde
empfehlen die Autoren eine schnelle Umsetzung der Mehlan-
reicherung und eine bessere Implementierung von Empfehlun-
gen zur Folsäure-Anwendung.
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☞LINK
Bei uns setzt sich die «Stiftung Folsäure Offensive Schweiz» für eine bessere Versorgung mit Folsäure ein: www.folsaeure.ch
Lorenzo Botto et al.: International retrospective cohort study of neural tube defects in relation to folic acid recommendations: are the recommendations working? BMJ 2005; 330: 571.
Regina Scharf
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keinerlei Verbindungen zu pharmazeutischen Firmen mit Interessen auf dem in der Originalpublikation diskutierten Gebiet.
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