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GESUNDHEITSPOLITIK q POLITIQUE DE LA SANTÉ
Rationalisierung und Rationierung in der stationären Versorgung in der Schweiz – Sparen kostet
GUIDO SCHÜPFER, RETO BABST
Die soziale Krankenversicherung in der Schweiz kennt verschiedene Ebenen der Solidarität (1): 1. Die Solidarität zwischen Kranken und Gesunden als Grundidee der sozialen Krankenversicherung. 2. Die Solidarität zwischen Armen und Reichen, welche über mit Steuermitteln (Bund und Kanton) finanzierte Prämienverbilligungen und Spitalleistungen erreicht wird. 3. Die Solidarität zwischen den Generationen und unterschiedlichen Risiken, welche über den Risikoausgleich zwischen den Krankenversicherungen gewährleistet wird. Der Risikoausgleich wird über Prämien finanziert. Knapp 48 Milliarden Franken wurden 2002 in der Schweiz für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. Davon wurden die meisten Kosten mit 31,5 Prozent von den privaten Haushalten und mit 40,0 Prozent von den Sozialversicherungen getragen. Nur 17,9 Prozent der Kosten übernahm der Staat.
1. Inkongruenz zwischen Leistungskatalog des KVG und Ressourcen Die Kantone sehen sich gezwungen, ihre Steuererträge und Ausgaben ins Gleichgewicht zu bringen. Gemäss Krankenversicherungsgesetz (KVG) sind sie aber auch verpflichtet, bei grundversicherten Patienten in der stationären Versorgung die Kosten dafür mit den Sozialversicherungen zu teilen. Mehr und mehr sehen sich daher Pflegende und Ärzte in der täglichen Arbeit mit den Konsequenzen von kantonalen Sparmassnahmen konfrontiert (2). Dabei werden beispielsweise die Globalbudgets der Spitäler gesenkt, ohne dass an Leistungsauftrag, Leistungskatalog gemäss KVG oder Mengengerüst
Zusammenfassung
Die Ansätze zur Reform der sozialen Krankenversicherung in der Schweiz basieren je nach politischer Couleur auf mehr plan- oder mehr marktwirtschaftlichen Rezepten – eine eindeutige Richtung ist aber derzeit nicht erkennbar. Trotz gleich bleibendem Leistungsauftrag bezüglich Angebot, Menge und Qualität, werden die Mittel für die öffentlichen Spitäler im Rahmen der kantonalen Sparprogramme bei zum Teil sinkenden Preisen (= Tarifen) reduziert. Das Rationalisierungspotenzial beim Personal ist weitestgehend ausgeschöpft, weshalb nun zunehmend eine verdeckte Rationierung einsetzt, da die Politik sich bis anhin nicht zu einer Begrenzung des Leistungskatalogs zu Lasten der Sozialversicherungen als explizite Form der Rationierung durchringen konnte. Diese implizite Rationierung führt zu Qualitätsverlust in der Behandlung der Patienten, zu Burn-out beim Pflegepersonal und zu Frustrationen sowie innerer Kündigung bei den verantwortlichen Kaderärzten. Die bedrohte Qualitäts- und Sicherheitslage erfordert deshalb vom Leistungserbringer Schritte in Richtung einer Qualitätstransparenz zur Monitorisierung der Folgen einer einseitigen, auf Kosten fokussierten Gesundheitspolitik und die Einführung eines integralen Risikomanagements zur Gewährleistung grösstmöglicher Sicherheit für den Patienten in einem System mit beschränkten Ressourcen. Die Ärzte dürfen nicht allein in die Rolle der Rationierer gedrängt werden, sie wollen und können diese Rolle nicht übernehmen. Dies ist Aufgabe der Politik. Verschiedene Lösungsansätze können aus der Falle der verdeckten Rationierung führen: i) explizite Rationierung, ii) Ansätze für eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens in der Schweiz, iii) Restrukturierung der Leistungserbringer unter Berücksichtigung von Skaleneffekten und iiii) Wettbewerb.
Schlüsselwörter/Key Words: Quality of Care, Rationing of Care, Health Care Economics, Health Care System, Risk Management, Cost Management
etwas geändert wird (Abbildung 1 zur Erläuterung) (3). Typischerweise müssten die Leistungserbringer auf Bugetrestriktionen mit Rationalisierungsmassnahmen reagieren. Für notwendige Investitionen in Prozessverbesserungen fehlt jedoch das Geld (2). Einige Beispiele: Betriebsübergreifende Restrukturierungen im öffentlichen Gesundheitswesen laufen Gefahr, dass Pauschalargumente entweder zu stark gewichtet oder unterbewertet werden. So werden bei drohenden Abteilungsschliessungen je nach Lage Arbeits-
platzverlust, Versorgungssicherheit und Standortattraktivität in den Vordergrund geschoben. Die verborgenen Kosten für eine Weiterführung, wie ungenügende Qualität (Fallzahlen, Heilungsrate, Liegedauer, Komplikationsraten), Prozessineffizienz und die fehlende Strukturqualität (Labor, Röntgen, Anästhesie, Intensivstationen), werden gerne ausgeblendet. Es ist aber auch naiv zu glauben, eine Spitalschliessung sei kostenlos zu haben. Die Patienten müssen an einem andern Ort gleichwohl versorgt werden. Im Weiteren
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sind bei einer Schliessung für Sozialplan und Restrukturierungsmassnahmen beträchtliche Beträge in jedem Fall erforderlich. Die innerbetriebliche Reorganisation kämpft mit ähnlichen Problemen: Gute Projekte können nicht verwirklicht werden, weil die Mittel dafür fehlen: Investitionen in die Prozesseffizienz sind zunächst einmal kostenträchtig (4). Ein Spital, das eine effektive Entlastung der Ärzte und Pflegenden erreichen will, braucht durchgängig organisierte Patientenprozesse und muss seinen Leistungsträgern eine integrale elektronische Patientenakte zur Verfügung stellen. Dieses Vorhaben bringt bei einem Vollausbau eine Arbeitszeitersparnis von 10 bis 30 Prozent der täglichen Arbeitszeit. Kein öffentliches Schweizer Spital verfügt derzeit über diese Werkzeuge, denn die Budgets für diese Rationalisierungsinvestition werden nicht gesprochen, oder es fehlt am Willen zur Umsetzung, am Willen zur gemeinsamen, einheitlichen Lösung, und/oder das dazu notwendige Personal wird nicht bewilligt. Die Finanzierung von Rationalisierungsinvestitionen lässt sich bei ausgewiesener Wirtschaftlichkeit allerdings durch alternative Finanzierungsmodelle realisieren. Gewisse kantonale Träger wehren sich aus haushaltsrechtlichen Gründen gegen ein derartiges Vorgehen oder unterbinden es. Zusammenfassend bewirkt der Spardruck auf die Spitäler eine starke Reduktion der Investitionen. Es gilt aber unseres Erachtens die These: Nur wer sät, kann ernten, und nur wer investiert, kann rationalisieren. Von der kantonalen Politik wird die Situation häufig schöngeredet: So sollen die Kosten öffentlicher Spitäler gesenkt werden, ohne dass die Qualität der Versorgung oder das Dienstleistungsangebot in den öffentlichen Spitälern leidet. Es wird von Seiten der Politiker gefordert: «Prioritäten setzen! Die zur Verfügung stehenden Mittel dort einsetzen, wo sie den grössten Nutzen erzeugen. Dies ist bei beschränkten Ressourcen ein hoch ethisches Gebot!» Bei der konkreten Ausgestaltung wird dann allerdings vornehme Zurückhaltung geübt. Rationalisierungsprogramme und verdeckte Rationierung haben Konsequenzen (Abbildung 1).
Globalbudget
Leistungsauftrag
Verdeckte Rationierung
Wartelisten Ressourcen
Qualität
Abbildung 1: Inkongruenz zwischen Leistungsauftrag und Ressourcen
Rationalisierungsmassnahmen und verdeckte anstelle einer offenen Rationierung führen beim Personal zu Überlastung, Burn-out und Demotivation. Der Mangel an qualifiziertem Pflegefachpersonal und die damit verbundene Einbusse an Pflegequalität und Patientensicherheit, der Kostendruck im Gesundheitswesen und der hohe Prozentsatz an Burn-outSymptomen bei Pflegefachpersonen sind problematische und besorgniserregende Entwicklungen (5–9). Verschiedene Charakteristika von Patienten, wie schwere infektiöse Komplikationen (Pneumonien, Urininfekte) und Mortalität, lassen sich in Beziehung zum Verhältnis von Anzahl Patienten pro Pflegefachpersonal, Arbeitszufriedenheit und Burn-out-Rate des Personals setzen (10). Diese Schlussfolgerungen lassen sich mit mehreren Studien aus den USA belegen. Es zeigte sich eine starke Assoziation zwischen den Stellenplänen für qualifiziertes diplomiertes Pflegefachpersonal und dem Behandlungsergebnis (Outcome) bei chirurgischen und medizinischen Patienten sowie in der Intensivmedizin. Verschiebt sich beispielsweise die Relation Patient – Pflegefach-
person von 5:1 auf 7:1, so steigt die Burnout-Rate und die Arbeitsunzufriedenheit beim Pflegefachpersonal signifikant an. Es wird vermutet, dass eine Verschlechterung der Patienten- zur Pflegefachpersonenzahl von 4:1 auf 8:1 zu 5 zusätzlichen Todesfällen pro 1000 Patienten und Jahr führt. Grundsätzlich lassen sich diese Schlussfolgerungen für die Schweiz jedoch nur vermuten, aber nicht beweisen. Die entsprechenden Studien fehlen (11).
2. Folgen der Sparprogramme: Implizite statt explizite Rationierung Die Notwendigkeit der Kommunikation einer offenen Rationierung wird von einigen Politikern zwar erkannt, aber nicht umgesetzt (Modelle zur Rationierung: Tabelle 1). Die Begrenzung der Mittelzufuhr (z.B. Globalbudgetkürzungen) für öffentliche Spitäler führt daher zwingend zu einer verdeckten (impliziten) Rationierung (Abbildung 1). Die Effekte der knappen Mittelzufuhr durch die Kantone werden durch die gelösten Preise (eingefrorene Tarife, Schlechterstellung beim Tarmed) und arbeitsrechtliche Änderungen (Arbeitszeitregelungen für Assistenzärzte) noch
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Tabelle 1: Mögliche Rationierungsmodelle
q Diagnosebezogen (z.B. Oregon-Modell)
q Patientenbezogen (Profit, Alter, Mitschuld …)
q Wirkungsbezogen (zusätzliche gewonnene Lebensjahre)
q Geldbezogen (Budget pro Person)
verschärft, und es drohen längere Wartelisten und Qualitätseinbussen als Folgen einer impliziten Rationierung (3). Wer Kosten senken will, muss sich deshalb der expliziten und impliziten Folgen für Qualität, Sicherheit und Wartelisten bewusst werden. Die Entscheidung, ob und welche Versorgung ein Patient erhält, muss zunehmend aufgrund ökonomischer Faktoren und nicht mehr nach medizinischen Gesichtspunkten gefällt werden. Der Leidensdruck in den öffentlichen Spitälern nimmt zu, ist aber mit dem privaten Sektor nicht vergleichbar: Es gibt keine Liquiditätsprobleme, keine Nachlassstundung, keinen unmittelbaren Markt und keinen Konkurs, der ein öffentliches Spital zum Handeln zwingt. Die Sparmassnahmen der Kantone machen eine öffentliche Debatte zur Rationierung im Gesundheitssystem, zumindest aber in der stationären Versorgung erforderlich. Auch eine explizite Rationierung, das heisst eine Begrenzung des Leitungskatalogs zu Lasten der sozialen Krankenversicherung, ist notwendig, wenn dem System nicht weitere Finanzierungsquellen erschlossen werden können. Es kann aber nicht angehen, über neue Spitalfinanzierungsmodelle die öffentlichen Spitäler zu gefährden, welche rund 80 Prozent der stationären Versorgung erbringen. Das KVG hat mit Einführung ab 1.1.1996 dazu geführt, dass sich die öffentlichen Spitälern vermehrt darum bemühten, ihre Kosten zu senken, ihre Effizienz zu steigern, durch Vernetzung mit ambulanten und stationären Leistungserbringern in Behandlungspfaden die Fallzahlen zu er-
höhen und so ihre Kompetenz zu optimieren. Wird durch die neue Spitalfinanzierung der KVG-Spitalmarkt neu für private Spitäler frei geöffnet, wird diese Leistung der letzten Jahre zerschlagen, und der Markt muss sich neu ausrichten beziehungsweise ordnen. Die Früchte von acht Jahren Arbeit nach Einführung des KVG werden so hinfällig. Die Qualität der Spitalversorgung wird für Jahre zurückgeworfen respektive gefährdet.
3. Beschränkung des Leistungskatalogs Nicht Kostensenkungsprogramme und neue Finanzierung, sondern eine Begrenzung des Leistungskatalogs zu Lasten der Sozialversicherungen ist erforderlich. Vor rigorosen Sparmassnahmen wie Spitalschliessungen als ultimativer Form der Angebotsbeschränkung schrecken kantonale Gesundheitsdirektoren jedoch zurück, denn dies wird in der Regel politisch nicht überlebt. Die Agenten der Gesundheitspolitik auf dem eidgenössischen
Tabelle 2: Kriterien für echte Kosteneinsparungen
Nachhaltigkeit Keine Risikoselektion Keine Kostenverschiebung in andere Bereiche Beschränkung auf das Notwendige (Kernkompetenzen) Kosten-Nutzen-Überlegungen: bessere Effizienz, bessere Effektivität
Parkett sehen sich ausser Stande, den Leistungskatalog zu Lasten der Krankenversicherungen und der Kantone einzugrenzen, vielmehr werden immer neue Finanzierungsmodalitäten diskutiert (12). Dem umfangreiche Katalog der durch die obligatorische Grundversicherung kantonal oder gar extrakantonal zu übernehmenden Leistungen sind die Kantone ohne Kompetenz ausgeliefert. Das Ver-
Tabelle 3: Was macht die Dienstleistungen des guten, öffentlichen Spitals aus?
Qualität Vernetzung im Spital (Generalisten und Spezialisten unter einem Dach) Vernetzung mit zuweisenden Spitälern und Zuweisern Vernetzung zu übergeordneten Zentrumsspitälern Vernetzung mit den ambulanten Dienstleistern im Kanton Fallzahlen Lehre und Forschung, Ausbildung
Angebot Breites Spektrum und in der Tiefe kompetent Angebot für alle, schwierige Fälle ungeachtet der Finanzkraft des Patienten Umfassende Notfalldienstleistung rund um die Uhr
Ausbildung Sichert den Ausbildungsstandort Schweiz Sicherung des Nachwuchses bei Ärzten, Pflege- und medizinisch- technischem Personal
Service public Hauptziel ist die qualitativ optimierte Grundversorgung in einem breiten Spektrum für alle, unabhängig von gewinnorientiertem Handeln
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Rationalisierung und Rationierung in der stationären Versorgung in der Schweiz – Sparen kostet
Tabelle 4:
Anforderungen an ein erfolgreiches öffentliches Spital
q mehr Effizienz*
q mehr Integration zwischen Leistungserbringern
q standardisierte Daten-Sets
q Korrekturen für Fallrisiken
q IT-Investionen
q Performance-abhängige Managementverantwortlichkeit
* Rolle der Ausbildung muss in diesem Zusammenhang thematisiert werden.
trauen der Patienten darf nicht durch eine verdeckte Rationierung aufs Spiel gesetzt werden. Dieses Vertrauen kann nur durch transparente Zugangsregeln und Versorgungsrichtlinien erreicht werden. Diese Spielregeln sind von der Politik zu fordern! Nötig ist also eine gesellschaftliche Diskussion über eine explizite Begrenzung des Leistungsangebots.
4. Restrukturierung der Leistungserbringer (Tabellen 2 bis 4) Eine aufsehenerregende Studie stellte vor kurzem fest, dass aus rein versorgungstechnischer Sicht die rund 240 Akutspitäler der Schweiz auf rund 45 Standorte zur reduzieren seien. Diesem Postulat liegt die Annahme zugrunde, dass Skaleneffekte zu Kostensenkungen und Qualitätsverbesserungen führen. Der Zusammenhang zwischen dem Behandlungsvolumen pro Institution und/oder Leistungserbringer und dem Behandlungsergebnis (Outcome) ist ja auch durch viele Studien gestützt worden, jedoch nicht gänzlich unbestritten (13–30). Unstrittig bleibt jedoch, dass für die Aus- und Weiterbildung ein bestimmtes Patientenaufkommen nötig ist, um die individuelle Lernkurve der auszubildenden Fachärzte möglichst rasch zu einem Plateau zu entwickeln (31). Unabhängig von dieser Studie werden sich die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für die
öffentlichen Spitäler weiter verschärfen. Deshalb sind kurz- und mittelfristige Massnahmen im Qualitäts- und Risikomanagement durch die Institutionen selbst oder deren Träger erforderlich (32–34). Diese können und müssen die Leistungserbringer in den nächsten Jahren rasch umsetzen. Reformen mit Einführung neuer Anreizsysteme (z.B. eine Diagnosis Related Group [DRG]-basierte Fallfinanzierung statt Tagespauschalen) brauchen aufgrund der unterschiedlichen Interessen der Finanzierer der stationären Behandlung (Krankenkassen und Wohnortkanton) einen mittel- bis langfristigen Realisierungshorizont.
5. Eine grundlegende Reform des Schweizerischen Gesundheitswesens durch eine Verlagerung des Fokus von der Kosten- auf die Nutzenseite Die derzeitigen Reformbemühungen für das schweizerische Gesundheitswesen lassen keine klare Richtung erkennen und lassen sich wohl treffend als hektischen Stillstand beschreiben. Planwirtschaftliche und Wettbewerbselemente halten sich die Waage. Unabhängig von den realisierten Lösungen werden Fragen beantwortet werden müssen (Tabelle 3). Öffentliche Spitäler werden als Kostentreiber plakatiert. Der durch erhöhte Kosten gestiftete Nutzen wird aber ausgeklammert, fällt er doch ausserhalb des Versorgers an. Eine Reform müsste diesen Fragen Rechnung tragen. Sind die Versicherer nicht nur für die Heilungskosten, sondern auch für die sozialen Folgen wie Erwerbsausfall verantwortlich, dürfte sich deren Blickwinkel auf die Nutzenstiftung von Behandlungen auch auf eine gesamtwirtschaftlichen Perspektive erweitern. Das komplexe Beziehungsgeflecht von Rahmenbedingungen und zunehmend dirigistischer Einflussnahme durch Bund, Kantone und Versicherer fokussiert auf die Kostenseite der Leistungserbringer und blendet die volkswirtschaftliche Betrachtung der Nutzenstiftung völlig aus. Damit wird mittel- und langfristig eine Wandlung der öffentlichen Gesundheitsdienstleister zu modernen, effizient geführten und funktionie-
renden Unternehmen mit noch höherem volkswirtschaftlichen Nutzen verhindert. Das Instrument der Spitalliste muss deshalb wesentlich gestärkt werden: 1. Als wichtigstes Selektionskriterium, um
eine Institution auf der Liste aufzuführen, muss ihre Vernetzung mit den anderen kantonalen oder überregionalen Institutionen gelten. 2. Diese muss den Nachweis erbringen, dass sie für die von ihr angebotenen Dienstleistungen genügende Fallzahlen hat (auf Stufe Klinik) und dass sie für die von ihr angebotenen Dienstleistungen genügend qualifiziertes Personal mit genügenden Fallzahlen (Stufe Personal) hat. Sie muss den Nachweis erbringen, dass sie qualitativ und finanziell innerhalb des Benchmarks gleichgestellter Spitäler Dienstleistungen erbringen kann.
6. Heilt der Wettbewerb unser Gesundheitssystem? Öffentliche Spitäler müssen Versorgungsleistungen im Sinne eines «Service public» für alle Kategorien von Patienten anbieten. Dabei wird der gleiche Zugang zum Gesundheitssystem, mit bestmöglicher Qualität und Sicherheit für alle Patientengruppen, gewährleistet (35). In der Regel werden bestimmte Kategorien von Patienten nur in öffentlichen oder öffentlich subventionierten Spitälern behandelt: Personen mit starken, meist chronischen Gesundheitseinschränkungen, Patienten mit unterdurchschnittlichen Einkommen, niedrigem Bildungsniveau und/oder geringer Sprachkompetenz sowie Polyblessierte, deren Versorgung nicht kostendeckend, aber äusserst aufwändig ist. Die Behandlung dieser oft komplexen Pathologien scheint amerikanischen Studien zufolge in so genannten Not-for-ProfitSpitälern gegenüber For-Profit-Spitälern klar besser zu sein (36–39). Diese Aspekte sind in der Schweiz allerdings bis jetzt noch nie untersucht worden. Eine Reform der Spitalfinanzierung darf deshalb nicht dazu führen, dass ungleiche Leistungen gleich bezahlt werden. Es geht auch um die Frage, wie mit finanziell unattraktiven, beispielsweise überproportional teuren
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Rationalisierung und Rationierung in der stationären Versorgung in der Schweiz – Sparen kostet
Versicherungsnehmer Patient
Aufgeklärter Patient
Qualitätstransparenz Marktpreise
Preistransparenz Vertragsfreiheit
Leistungserbringer z.B. Spital
LeistWuenttgebenwuenrdbQuumaliPträetis,
WLeetitsbtuewngeernb uunmdPQreuias,lität
Versicherer
Abbildung 2: Wettbewerb im Gesundheitswesen
Fällen umgegangen wird? Regelungen dürfen nicht dazu führen, dass ein Teil der Leistungserbringer Aufnahme- und Notfallversorgungspflicht hat, der andere Teil der Leistungserbringer sich aber auf ein lukratives und gut strukturiertes Patientensegment zurückziehen kann und dabei gleichzeitig aus der Grundversicherung gleich entschädigt wird (40). Wer in Zukunft öffentlich subventioniert wird, sollte nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Pflichten haben. Finanzierer stehen aber nur schon bei der Kostendefinition vor erheblichen Problemen. Die Komplexität bei der Definition von Leistungen und Qualität steigt aber nochmals erheblich. Eine Wettbewerbslösung für das schweizerische Gesundheitssystem müsste diese Fragen aber eindeutig klären, damit Wettbewerb nicht ausschliesslich auf Kostenbasis, sondern auch anhand von Qualitäts- und Effektivitätskriterien stattfindet. Die Abbildung 2 fasst die Erwartungen an den Wettbewerb im Gesundheitswesen zusammen. Der Aufwand, in Märkten fairen Wettbewerb aufrechtzuerhalten, darf nicht unterschätzt werden! Das faire Funktionieren einer Börse beispielsweise als klar
definierte Form eines Marktes erfordert ein komplexes und umfangreiches Regelwerk, das teuer ist (41, 42). Die Transaktionskosten für die Aufrechterhaltung eines fairen Wettbewerbs im schweizerischen Gesundheitswesen sind derzeit unbekannt und dürfen auf keinen Fall unterschätzt werden. Es ist billig, Wettbewerb zu fordern und sich über dessen Ausgestaltungskosten nichts zu äussern.
7. Schlussfolgerungen Enge Budgets führen zu Personaleinsparungen mit Zunahme der entsprechenden organisatorischen Risiken, der Gefahr von Qualitätseinbussen und einer Zugangsverschlechterung in Form von längeren Wartelisten. Zur Sicherung einer patientengerechten und aktuellen Behandlung sind vor diesem Hintergrund Programme zu entwickeln, welche den Zusammenhang von Rationalisierung respektive Rationierung und Qualitäts- und Sicherheitseinbussen transparent machen. Die Kantone als Mitfinanzierer der stationären Versorgung sehen sich gezwungen, ihre Haushalte auszugleichen (1, 12). Das Gesundheitswesen ist für sie ein erheblicher Kostenblock. Wenn sie dessen Kos-
ten reduzieren müssen, führt dies zu einer verdeckten Rationierung, da viele Rationalisierungspotenziale bereits ausgenutzt sind (Abbildung 1). Die Risiken einer verdeckten Rationierung dürfen nicht bei den Leistungserbringern bleiben (3, 43)! Politisch ist aber zu klären, welche Leistungen von der Sozialversicherung nicht übernommen werden, wenn dem Gesundheitssystem nicht weitere Mittel zufliessen sollen. Der Leistungskatalog muss dann auf der Basis der zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt werden. Eine Reform des Gesundheitswesens sollte Anreizsysteme schaffen, welche die einseitige Kostenfokussierung zugunsten einer gesamtwirtschaftlichen Nutzenorientierung der Versicherer begünstigt. Falls trotzdem der Wettbewerb als Reformmittel der Wahl obsiegt, sollte dieser nicht allein auf der Kostenbasis, sondern auch aufgrund von Qualitätskriterien in den Bereichen Indikation, Struktur, Prozesse und Outcome ausgetragen werden. q
Die Literaturhinweise können beim Verlag angefordert werden, auch via E-Mail: info@rosenfluh.ch
Dr. Guido Schüpfer, MBA HSG Research Fellow
Department of Cardiac ICU University of Gent Hospital
B-9000 Gent
Korrespondenzadresse: PD Dr. Reto Babst
Departementsvorsteher Chirurgie Kantonsspital Luzern 6000 Luzern 16
E-Mail: reto.babst@ksl.ch
Interessenkonflikte: keine
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