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Johanniskraut bei depressiven Störungen
Eine Alternative bei leichter bis mittelschwerer Erkrankung*
CHRISTIAN VANONI
Viele Patienten sind gegen-
über einer Behandlung mit
Psychopharmaka skeptisch
eingestellt und bevorzugen
pflanzliche Therapien. Im Fol-
genden wird der Stellenwert
von Johanniskraut-Extrakten
bei depressiven Störungen
diskutiert.
Einleitung Viele Patienten bevorzugen pflanzliche Therapien, häufig in der Vorstellung, dass so genannt «natürliche, biologische» Produkte unbedenklicher in der Anwendung sind als synthetisch hergestellte Präparate. Pflanzliche Antidepressiva gehören heute zu den am häufigsten verwendeten und verschriebenen Heilpflanzenprodukten. Vor allem die Johanniskraut-Präparate sind die wissenschaftlich am besten erforschten pflanzlichen Präparate, die auf dem Markt erhältlich sind. Dennoch ist in der Schulmedizin ihr Stellenwert noch immer kontroversen Meinungen ausgesetzt. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass viele
* Nach einem Vortrag gehalten anlässlich der 4. Davoser Tage, 18.–20. März 2004.
Studien mit diesem Präparat in der Vergangenheit methodologisch mangelhaft waren und die Resultate eine evidenzbasierte Medizin nicht überzeugen konnten. Mehrere veröffentlichte Mitteilungen über unerwünschte Folgen der Behandlung mit Johanniskraut-Extrakten in Kombination mit anderen Medikamenten haben die Ärzteschaft noch zusätzlich verunsichert und die Unbedenklichkeit pflanzlicher Produkte in Frage gestellt (1).
Johanniskraut – geschichtlicher Überblick
Bereits Dioskurides hat Johanniskraut und seine heilenden Eigenschaften beschrieben. In der Folge wird es vor allem als Heilmittel «gegen Hexen und Geister» angepriesen. 1525 berichtet Paracelsus über die Behandlung von «Melancholie und Übererregbarkeit» mit Johanniskraut. Noch 1988 werden in «Heilpflanzen» dem Johanniskraut «wundheilende, energiespendende, schmerzstillende, blutreinigende, bluterfrischende, zusammenziehende, nervenstärkende, beruhigende und krampflösende Eigenschaften» attestiert. Seit 1980 wird Johanniskraut in klinischen Studien wissenschaftlich auf antidepressive Eigenschaften hin untersucht. Unter den entsprechenden Phytopharmaka ist der Johanniskraut-Spezialextrakt LI 160 zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Depression wissenschaftlich und klinisch am umfangreichsten dokumentiert. Es ist aber zu erwähnen, dass auch für andere Johanniskraut-Extrakte, deren Zusammensetzung im Vergleich zum geprüften Extakt einen unterschiedlichen Gehalt an Hyperforin, Hypericinen, Flavonoiden et cetera aufweisen, ebenfalls kontrollierte Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen (Tabelle, s. Seite 436). Ob eines der Präparate hinsichtlich der kli-
Merk-
s ä t z e (1)
q Klinische Studien zeigen insgesamt eine konsistente Überlegenheit von JohanniskrautExtrakten gegenüber Plazebo und eine mit den Erfolgsraten der übrigen Antidepressiva vergleichbare Wirksamkeit bei leichten bis mittelschweren Depressionen.
q Johanniskraut-Präparate zeichnen sich im Vergleich zu anderen Antidepressiva durch eine geringe Anzahl von Therapieabbrüchen und eine niedrige Rate unerwünschter Effekte aus.
nischen Wirksamkeit überlegen ist, lässt sich mangels direkter Vergleichsstudien nicht sagen. Allgemein darf gesagt werden, dass nur hoch dosierte JohanniskrautPräparate mit genügend Wirkstoffgehalt angewendet werden sollten. So ist eine Tagesdosis von 900 mg Johanniskraut-Spezialextrakt mit einem Gehalt von 2000 bis 3000 µg Gesamt-Hypericin zu empfehlen, um eine deutliche antidepressive Wirkung zu erzielen.
Popularität von Phytopharmaka
Eine Umfrage aus dem Allensbacher Archiv zeigt anhand einer Umfrage in der Bevölkerung 1997, dass 80 Prozent der Befragten die Nebenwirkungsrate von Phytopharmaka als gering erachten, was im Vergleich zu chemisch definierten Präparaten mit 13 Prozent auf eine erhebliche
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Johanniskraut bei depressiven Störungen
Popularität und Bereitschaft zur Einnahme verfahren anders zusammensetzen, weswe-
von Phytopharmaka hinweist. Die gleiche gen sich die verschiedenen Johanniskraut-
Arbeit zeigt, dass rund 60 bis 80 Prozent Präparate in der Wirkung unterscheiden
der Befragten Anwender von Phyto- können. Man nimmt an, dass Hypericum-
pharmaka sind, unabhängig von Ge- Extrakte eine Monoamin-Wiederaufname-
schlecht, Schulbildung und Alter.
hemmung (NA, 5HT, DA) bewirken. Sie ver-
Phytotherapie ist eine beliebte und vom ändern offensichtlich den Na+- und Ca++-
Arzt in allen Belangen ernst zu nehmende Austausch durch neuronale Membranen.
medikamentöse Therapie.
Die Änderung des Na+- und Ca++-Gradients
der Membran bewirkt einerseits die Block-
Vermuteter antidepressiver Wirkmechanismus von Johanniskraut
ade des Rücktransportprozesses und andererseits die vermehrte Freisetzung von Transmittern (Exozytose) aus den Nervenendigungen in den synaptischen Spalt.
Hypericum-Extrakte sind Wirksubstanzge- Man nimmt an, dass andere Transmitter
mische, welche sich je nach Extraktions- wie GABA, L-Aspartat, L-Glutamat, welche
die neuronale Exzitabilität und
intersynaptische Signalübertagung
regulieren, ebenfalls am Wirkme-
chanismus beteiligt sind. Einige
weitere, experimentell nachge-
wiesene Wirkungen von Hype-
ricum-Extrakten auf neuronale
Strukturen und Prozesse, die kli-
nisch relevant sein können, sind
die Modulation von Ligand
(NMDA, AMPA)-gebundenen Ionen-
Kanälen, die Mobilisierung von
intrazellulärem Ca++ und die
Blockade von exzessivem Ca++-In-
flux sowie eine Aktivierung von
Abbildung 1: Kumulative Darstellung der Mediane des Schweregrades (Skala 0–3) der einzelnen Symptome nach drei und sechs Wochen Therapie (Herzbeschwerden erscheinen nicht in der Abbildung, da der Median zu allen Zeitpunkten 0 betrug).
signalregulierender Proteinkinase – der Schlüsselkomponente in der Regulation der Genexpression. Auch eine Modulation der Zytokin(Interleukin-6)-Expression wird
diskutiert. Es kann somit gesagt
werden, dass sich der antidepres-
sive Effekt von Hypericum-Extrak-
ten von konventionellen Antide-
pressiva durch teilweise andere,
allerdings noch nicht völlig ver-
standene Wirkmechanismen dif-
ferenziert. Die Erforschung der
Wirkmechanismen von Hypericum-
Extrakten und die Identifizierung
von Hyperforin als eines der
aktiven Wirkprinzipien hat eine
rationale Grundlage für ihre the-
rapeutische Anwendung in der
Abbildung 2: Mittelwert und 95%-Vertrauensintervalle des Gesamtscores der Depressivitätsskala (von Zerssen) nach drei und sechs Wochen Therapie.
Depression ergeben. Aufgrund der vielfältigen Wirkungen von Hypericum-Extrakten auf neuro-
Merk-
s ä t z e (2)
q Das Nebenwirkungsprofil unterscheidet sich von den Nebenwirkungsprofilen chemisch definierter Antidepressiva. So fehlen jegliche kardiotoxischen und kardiovaskulären Effekte. Anticholinerge Effekte, Sexualstörungen und Gewichtszunahme treten kaum auf. Johanniskraut-Extrakte zeigen auch bei Überdosierung keine systemische Toxizität. Das Risiko der Fototoxizität in den üblichen therapeutischen Dosen ist gering.
q Arzneimittelinteraktionen können in Kombination mit anderen Medikamenten auftreten, welche vom Leberenzymsystem CYP-3A4 abgebaut werden. Der therapeutische Effekt der Komedikation kann vermindert werden, wodurch ernst zu nehmende Probleme auftreten können.
q Das Interaktionspotenzial ist aber nicht spezifisch oder typisch für Johanniskraut-Extrakte, sondern charakteristisch unter anderem für viele Psychopharmaka.
nale Prozesse und Hirnstrukturen haben diese möglicherweise andere, nicht nur antidepressive, therapeutische Eigenschaften.
Therapeutische Effizienz
Die Ergebnisse einer eigenen Anwendungsbeobachtung* aus einer Allgemeinpraxis (2) werden durch zahlreiche kontrollierte Studien bestätigt, welche eine gute Wirksamkeit des JohanniskrautExtraktes LI 160 bei leichten und mittelschweren Depressionen belegen. Es traten wenig Nebenwirkungen auf und die
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auch unter anderer Medikation treten kaum auf. Johanniskraut-Extrakte
zu beobachten.
zeigen auch bei Überdosierung keine sys-
So dürfen Hypericum-Extrakte, temische Toxizität. Das Risiko der Fototo-
welche die wissenschaftlichen Kri- xizität in den üblichen therapeutischen
terien der Wirksamkeit erfüllen, Dosen ist gering.
unter Berücksichtigung allgemei-
ner pharmakologischer Grundsätze bei leichten und mittel-
Interaktionen
schweren Depressionen aufgrund Relative Risiken hat eine Therapie mit
der wissenschaftlichen Dokumen- Johanniskraut-Extrakten vor allem in der
tation und der klinischen Er- Selbstmedikation und in einer unbeauf-
fahrung als wirksam erachtet sichtigten Kombination mit anderen Medi-
Abbildung 3: Einfluss des Alters auf den Zustand der depressiven Verstimmung der Patienten im Verlauf der Therapie.
werden. Nebenwirkungsprofil
kamenten, welche von CYP-3A4 – einem Enzym aus der oxidativen P-450-Leberenzym-Familie – abgebaut werden. Die Metabolisierung von rund 50 Prozent aller
Das Nebenwirkungsprofil von Medikamente läuft über dieses Enzym-
Patientencompliance war gut. So nahmen Hypericum-Extrakten unterscheidet sich system ab. Es besteht ein potenzielles Pro-
nach sechs Wochen noch zwei Drittel der von den Nebenwirkungsprofilen sowohl blem, das besonders bei Langzeitein-
Patienten ihre Medikamente ein. Dies ist der klassischen Trizyklika als auch der nahme relevant werden kann und bei
im Vergleich mit epidemiologischen Stu- neueren Antidepressiva. So fehlen jegli- jeder Verordnung beachtet werden sollte.
dien, die zeigen, dass nach vier Wochen che kardiotoxischen und kardiovaskulären Deswegen muss vor der Verordnung eines
bereits zwei Drittel der Patienten ihre Psy- Effekte. Anticholinerge Effekte (Mund- Hypericum-Extraktes durch den Arzt eine
chopharmaka nicht mehr einnehmen, ein trockenheit, Miktionsstörungen, Sedation), saubere Medikamentenanamnese erho-
sehr gutes Resultat. Der Schweregrad Sexualstörungen und Gewichtszunahme ben werden. Eine eventuelle Verschrei-
(Skala 0–3) nahm bei allen Symptomen im
Verlauf der Therapie ab. Eine kumulative
Darstellung der Mediane der einzelnen
Symptome zeigt, dass die Besserung in den ersten drei Wochen am stärksten ausfiel. Während nach sechs Wochen bei den
Tabelle: Auswahl an handelsüblichen JohanniskrautPräparaten in der Schweiz
Symptomen Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und Ruhelosigkeit keine zusätzliche Verbesserung mehr erfolgte, konnte eine weitere Verminderung der Symptome Verstimmung, Schwitzen, Magen-Darm-Beschwerden, Herzbeschwerden Ein- und Durchschlafstörungen beobachtet werden (Abbildung 1). Der Mittelwert des Gesamtscores der Depressivitätsskala (von Zerssen) war nach drei Wochen von 22,0 auf 11,1 gesunken, und nach sechs Wochen auf 8,6 (Abbildung 2). Die 95Prozent-Vertrauensintervalle zu Beginn der Therapie und nach drei Wochen sind nicht überlappend und deuten darauf hin, dass die Änderung in den ersten drei Wochen bereits statistisch signifikant ist (p < 0,05). Die Altersklasse der über 60-Jährigen zeigte erst nach sechs Wochen Behandlung ein deutliches Ansprechen (Abbildung 3). Dieses Phänomen eines späten Handelsname Handelsform Hyperiforce® HyperiMed® Hyperiplant® Hyperval® Jarsin® 300 Lucilium® 425 eco natura ReBalance® Remotiv® Solevita® 425 Tabl. 40–74 mg Tabl. 40–74 mg Filmtabl. 300 mg Drag. 250 mg Drag. 300 mg Kaps. 425 mg Drag. 250 mg Drag. 250 mg Kaps. 425 mg Firma/Vertrieb Bioforce AG Bioforce AG Schwabe Pharma AG Novartis Consumer Health Medichemie Bioline AG Ecosol AG Zeller Medical AG Max Zeller Söhne AG Permamed AG Tägliche Dosierung 3 x 1 Tabl. 3 x 1 Tabl. 2–3 x 1 Tabl. 2 x 1 Drag. 3 x 1 Drag. 1–2 x 1 Kaps. 2 x 1 Drag. 2 x 1 Drag. 1–2 x 1 Kaps. Kassenzulässig Nein Ja Ja Ja Ja Ja Ja Nein Ja Wirkungseintrittes ist bei älteren Leuten 436 A R S M E D I C I 9 q 2 0 0 4 FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE Johanniskraut bei depressiven Störungen bung soll pharmakologischen Grundsätzen, welche auch für chemisch definierte Präparate gelten, entsprechen. Dosisanpassungen einer Komedikation können zu Beginn und bei Beendigung der Hypericum-Therapie erforderlich werden. Generell wird der therapeutische Effekt der Komedikation, aufgrund einer Induktion des CYP-3A4, durch Hypericum-Extrakte vermindert. Dies betrifft unter anderem Ciclosporin, Antikoagulanzien, Indinavir, Irinotecan, Östrogene und Psychopharmaka. Als absolut kontraindiziert gilt zurzeit die Kombination von Johanniskraut-Präparaten mit Ciclosporin (Immunosuppressivum) und Indinavir (HIV-Proteasenhemmer). Die Kombination mit niedrig dosierten Östrogenpräparaten (Mikropille: Ethinylestradiol ≤ 30 µg) kann zu Zwischenblutungen führen. Der antikonzeptionelle Effekt der Anti-Baby-Pille dürfte aber nicht betroffen sein, womit sich ein Absetzen des Präparates nach Absprache mit der Patientin nicht unbedingt aufdrängt. Bei der Komedikation mit Digoxin, Antikonvulsiva, Theophyllin, Chemotherapeutika, Methadon et cetera empfehlen sich Plasmaspiegel-Kontrollen. Bei antikoagulierten Patienten muss die Prothrombin-Zeit entsprechend engmaschig kontrolliert werden. Bei der Anwendung von Johanniskaut-Präparaten in Kombination mit anderen Psychopharmaka sollen auch vermehrt auftretende Nebenwirkungen beobachtet werden. Durch ein gezieltes Patientenmanagement sowie entsprechende Information und Beratung bei Risikopatienten können Interaktionsprobleme grundsätzlich vermieden werden. Hypericum-Extrakte dürfen unter Beachtung der Regeln der Schulmedizin als unkritisch in der Anwendung, wirksam und bei den Patienten als beliebt angesehen werden. Fazit Pflanzliche Antidepressiva auf der Basis von standardisierten Johanniskraut-Ex- trakten gehören zu den wissenschaftlich am besten erforschten pflanzlichen Präpa- raten und zu den am häufigsten verwen- deten und verschriebenen Heilpflanzen- produkten. Nach dem heutigen Stand des Wissens und der Evidenz für klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit können die standardi- sierten Johanniskraut-Extrakte insgesamt als kostengünstige Antidepressiva für leichte bis mittelschwere Depressionen mit einem positiven Nutzen-Risiko-Ver- hältnis bezeichnet werden. Sie haben in der Behandlung von leichten bis mittel- schweren Depressionen in der Praxis ihren Stellenwert als Alternative zu syntheti- schen Antidepressiva (3, 4). q 1. Delini-Stula A., Lorenz J., HolsboerTrachsler E.: Pflanzliche Antidepressiva – Der aktuelle Stand des Wissens. Schweiz Med Forum 2, 48: 1146–54, 2002. 2. Vanoni Ch. und Holsboer-Trachsler E.: Die antidepressive Wirksamkeit des Johanniskrautextraktes LI 160. Eine Anwendungsbeobachtung in einer Allgemeinpraxis. Ars Medici, Heft 5, 277–281, 2000. 3. Holsboer-Trachsler E. und Vanoni Ch.: Depression & Schlafstörung in der Allgemeinpraxis, 2. Auflage 1999, Verlag MCG, Medical Congress GmbH. 4. Holsboer-Trachsler E. und Vanoni Ch.: Depression in der Praxis, 1. Auflage 2003, Socio-medico Verlag GmbH. Weiterführende Literatur auf Anfrage beim Verfasser. Dr. med. Christian Vanoni Allgemeine Medizin FMH Postfach 4013 Basel E-Mail: christian.vanoni@unibas.ch Interessenkonflikte: * Die Studie wurde von der Firma Medichemie finanziell unterstützt. A R S M E D I C I 9 q 2 0 0 4 437