Transkript
Experimentelle Hirnforschung:
Jonglieren lässt Gehirn anwachsen
Bislang war man davon ausgegangen, dass das Gehirn des erwachsenen Menschen keinen wesentlichen Zuwachs an grauen Zellen mehr erfährt, sondern sich lediglich alters- oder krankheitsbedingt zurückbildet. Wissenschaftler von der Universität Regensburg und der Universität Jena konnten nun erstmals in einer Studie nachweisen, dass sich auch Erwachsenenhirne bei entsprechendem Training noch verändern. Die Untersuchungsergebnisse sind kürzlich in der Zeitschrift «Nature» (2004; 427:311) erschienen. Das Team um den Regensburger Neurologen Arne May liess Erwachsene (Altersdurchschnitt 22 Jahre) drei Monate lang das Jonglieren lernen. Die 12 besten Kandidaten, die drei Bälle mindestens 60 Sekunden lang in der Luft halten konnten, wurden für die Studie ausgewählt. Ihre Hirne wurden vor dem Training, direkt nach dem Training und
nach dreimonatiger Trainingspause mit der Magnetresonanztomografie untersucht und mit den Hirnen untrainierter Probanden verglichen. «Anfangs liessen sich keine wesentlichen Unterschiede in der grauen Substanz der angehenden und der Nicht-Jongleure feststellen», erklärt Dr. May. Nachdem jedoch die eine Gruppe innerhalb von drei Monaten das Jonglieren erlernt hatte, liessen diese Probanden eine deutliche beidseitige Vergrösserung der grauen Substanz im intraparietalen Sulcus erkennen. Dieses Gebiet ist darauf spezialisiert, Bewegungen von Objekten im dreidimensionalen Raum wahrzunehmen. «Nach einer dreimonatigen Trainingspause hatte sich diese Erweiterung teilweise wieder zurückgebildet», erklärt der Studienleiter. Somit konnte ein enger Bezug zwischen diesen strukturellen Veränderungen und dem Erlernen des Jonglierens nachgewie-
sen werden, denn die Kontrollgruppe
zeigte keinerlei Veränderungen in diesem
Bereich. Die Studie belegt also, dass Lern-
prozesse strukturelle Veränderungen in
der Hirnrinde bewirken.
Welche Prozesse dabei auf der mikroskopi-
schen Ebene ablaufen, ist noch unklar.
Hier sollen histologische Untersuchungen
Aufschluss geben. Die Veränderungen im
sichtbaren Bereich könnten von einer Zu-
nahme der Synapsen oder der Neuriten
herrühren. Eine weitere Möglichkeit wäre
die vermehrte Entstehung von Gliazellen
oder Neuronen.
Die beobachteten Veränderungen fanden
weniger im motorischen als vielmehr im vi-
suellen Bereich der Hirnrinde statt, wo es
um das Erfassen von räumlichen Bewe-
gungsabläufen geht.
q
U.B.
Medien q q q Moden q q q Medizin
Randomisierte kontrollierte Studie:
Kognitive Verhaltenstherapie nützt bei Hypochondrie
Hypochondrie ist definiert als anhaltende Furcht oder Überzeugung, an einer nichtdiagnostizierten ernsthaften Erkrankung zu leiden. Das Phänomen kann zu dauerhafter Behinderung und psychischer Not führen und kommt in der ambulanten Praxis nicht selten vor. Arthur J. Barsky und David K. Ahern, Psychiater am Brigham and Women’s Hospital und an der Harvard Universität in Boston, berichten soeben im «Journal of the American Medical Association» von einer Studie, bei der sie randomisiert eine kognitive Verhaltenstherapie in sechs Sitzungen mit einer Kontrollgruppe mit üblicher medizinischer Versorgung verglichen (JAMA 2004; 291: 1464–1470). Teilnehmende waren 80 Patientinnen und
Patienten aus Allgemeinpraxen und 107 weitere, die sich freiwillig auf öffentliche Aufrufe gemeldet hatten. Die Aufnahme stützte sich auf Scores in der Selbstdeklaration in einem Hypochondrie-Fragebogen. Untersuchungen erfolgten bei Beginn sowie nach sechs und zwölf Monaten. Endpunkte waren hypochondrische Überzeugungen, Ängste, Haltungen und somatische Symptome sowie Rollenfunktion und Behinderung. In der Intention-to-treat-Analyse zeigte sich nach sechs Monaten ein konsistentes Muster statistisch und klinisch signifikanter Behandlungseffekte der kognitiven Verhaltenstherapie. Nach zwölf Monaten hatten die Verhaltenstherapie-Patienten
signifikant tiefere Niveaus von hypochon-
drischen Symptomen, Überzeugungen
und Verhaltensweisen (p < 0,001) und Ge- sundheitsängsten (p = 0,009). Auch die Beeinträchtigung der sozialen Rollenfunk- tion und des Alltagslebens war signifikant geringer. Nicht statistisch beeinflusst blie- ben hypochondrische somatische Sym- ptome. Die spezifisch zur Veränderung hypochondrischen Denkens und zur Re- strukturierung hypochondrischer Über- zeugungen konzipierte, kurze kognitive Verhaltenstherapie scheint also einen lang anhaltenden Nutzen zu erbringen, schlies- sen die Autoren. q H.B. 292 A R S M E D I C I 7 q 2 0 0 4 Medien q q q Moden q q q Medizin Patienten mit behandelter, «maskierter» Hypertonie: Selbstmessung des Blutdrucks hat bessere prognostische Aussagekraft Referenzmethode für den Blutdruck ist die Messung mit der auskultatorischen Methode anlässlich von Konsultationen beim Arzt. Unzählige Studien kommen überein, dass ein 10 mmHg-Anstieg beim systolischen oder ein 5 mmHg-Anstieg beim diastolischen Druck das durchschnittliche kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko um 40 Prozent und das Mortalitätsrisiko für ischämische Herzerkrankungen um 30 Prozent steigert. Interventionsstudien, wiederum mit derselben Referenzmethode, konnten Risikoreduktionen nachweisen. Wenig bekannt ist bisher über den prognostischen Wert zu Hause vom Patienten mit automatischen Geräten gemessener Blutdrücke. Eine französische, von der Firma Aventis finanziell unterstützte Studie ist dem nachgegangen (Guillaume Bobrie et al., JAMA 2004; 291: 1342–1349). Die Autoren rekrutierten eine Kohorte von 4939 Patienten mit behandelter Hypertonie, die weiter von ihren Hausärzten betreut wurden. Das mittlere Alter betrug 70 Jahre, knapp die Hälfte waren Männer. Diese Kohorte wurde über im Mittel 3,2 Jahre beobachtet. Als unkontrolliert galt die Hypertonie bei Werten von mindestens 140/90 mmHg bei Messung in der Praxis und von 135/85 mmHg zu Hause. Primärer Endpunkt war die kardiovaskuläre Mortalität, sekundäre Endpunkte bildeten Gesamtmortalität sowie die Kombination von kardiovaskulärer Mortalität, nichttödlichem Herzinfarkt und Hirnschlag, transient ischämischer Attacke, Hospitalisation wegen Angina pectoris oder Herzversagen sowie Koronareingriffen. Am Ende des Follow-ups war der klinische Status für 99,9 Prozent der Patienten bekannt. Die Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse betrug 22,2 pro 1000 Patientenjahre. Für die BD-Selbstmessung zu Hause entsprach jeder 10 mmHg-Anstieg systolisch einer Erhöhung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse um 17,2 Prozent (95%-Konfidenzintervall: 11,0%–23,8%) und jeder 5 mmHg-Anstieg beim diastolischen Druck einer Risikoerhöhung um 11,7 Prozent (95%-KI: 5,7%–18,1%). Im Gegensatz dazu entsprach denselben BDAnstiegen bei den Messungen in der Arztpraxis – eigenartigerweise – kein signifikanter Anstieg des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse. In einem Modell mit mehrfachen Variablen benutzten die Autoren diejenigen Patienten mit kontrollierter Hypertonie (Messung zu Hause und in der Praxis im Zielbereich) als Referenz. Dann hatten Patienten mit unkontrollierter Hypertonie (beide Messwerte zu hoch) ein etwa doppelt so hohes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Hazard Ratio 1,96 [95%-KI: 1,27–3,02]). Das Risiko war ähnlich hoch für Patienten mit «maskierter» Hypertonie (gemeint sind normale Praxis-BD-Werte bei erhöhten Heim-BDWerten): Hazard Ratio 2,06 (95%-KI: 1,22–3,47). Patienten mit erhöhten PraxisBD-Werten bei gleichzeitig normalen BDWerten zu Hause (Weisskittelhypertonie) hatten demgegenüber ein tieferes kardiovaskuläres Risiko (Hazard Ratio 1,18 [95%KI: 0,67–2,10]). In ihrer Diskussion stellen die Autoren fest, dass in dieser Kohortenstudie bei behan- delten über 60-jährigen Hypertonikern die zu Hause selbst gemessenen BD-Werte die Prognose hinsichtlich kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität besser vorhersagten als die in der Praxis gemessenen. Zudem erlaubte in dieser Studie die BDSelbstmessung die Charakterisierung einer spezifischen Untergruppe von Patienten, bei denen die in der Praxis gemessenen Werte für gute BD-Kontrolle sprechen, deren Heimmessungen aber eine nicht ausreichende therapeutische BD-Senkung belegen und deren Risiko demjenigen einer unkontrollierten Hypertonie entspricht. Dies betraf 9 Prozent der Kohorte. q H.B. Auf Seite 305 lesen Sie eine Studie, die sich mit dem Einfluss der Selbstmessung des Blutdrucks auf die therapeutische Kontrolle der Hypertonie befasst. Die Ergebnisse bilden zu den hier mitgeteilten Erkenntnissen einen reizvollen Kontrast, der doch mehr Fragen offen lässt als hilfreiche Antworten bietet. Forderung nach evidenzbasierter Chirurgie Chirurgen sind zwar in TV-Serien und bunten Blättern die «Halbgöt- ter in Grün», aber auch sie können sich inzwi- schen dem Begehren nach Belegen für die Richtigkeit ihrer Thera- pieentscheide nicht mehr ganz entziehen. Lesen Sie dazu den Bei- trag «Auf dem Weh zur evidenzbasierten Chir- urgie auf Seite 301f. in diesem Heft. q A R S M E D I C I 7 q 2 0 0 4 293