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Die Bedeutung der Kardioversion bei Vorhofflimmern
ARZNEIMITTELBRIEF
Drei neuere Studien schaffen
mehr Klarheit über die ver-
schiedenen Therapieoptionen
beim Vorhofflimmern.
«Die Frequenzkontrolle kann nun als primäre Strategie bei der Therapie des Vorhofflimmerns angesehen werden». Zu diesem Schluss kommt M.E. Cain von der Washington University in seinem Kommentar zu zwei Studien zur Behandlung des Vorhofflimmerns (1). Diese beiden aktuellen Studien und eine weitere aus Deutschland sollen die Gesichtspunkte zur Therapie des Vorhofflimmerns aktualisieren.
AFFIRM-Studie
Die AFFIRM-Studie (3) schloss in den USA 4060 Patienten mit Vorhofflimmern ein. Die Studienpatienten waren 65 Jahre oder älter (im Mittel 69 Jahre). Bei 35 Prozent wurde erstmalig Vorhofflimmern diagnostiziert. Bei 69 Prozent dauerte das Vorhofflimmern länger als zwei Tage, bei 10 Prozent länger als sechs Wochen. Über 70 Prozent der Patienten hatten als Grunderkrankung Bluthochdruck und 38 Prozent koronare Herzkrankheit. Bei 13 Prozent war keine kardiale Erkrankung festzustellen («Lone Atrial Fibrillation»). 75 Prozent hatten eine normale linksventrikuläre Auswurffraktion. Die Patienten wurden zwei Therapiestrategien zugelost. In der RhythmuskontrollGruppe (RG) sollte der Sinusrhythmus wiederhergestellt und erhalten werden. Die
Strategie wurde dabei den behandelnden Ärzten überlassen. Es durfte elektrisch und medikamentös kardiovertiert werden und zum Erhalt des Sinusrhythmus durften Antiarrhythmika verabreicht werden. Zur Auswahl standen Amiodaron, Disopyramid, Flecainid, Morizin, Procainamid, Propafenon, Chinidin, Sotalol, Dofetilid beziehungsweise eine Kombination aus mehreren dieser Substanzen. Eine Antikoagulation (INR 2–3) wurde empfohlen, konnte aber beendet werden, wenn nach erfolgreicher Kardioversion mindestens vier Wochen lang Sinusrhythmus bestand. Bei 70 Prozent wurde sie letztlich während der Studiendauer beibehalten. In der Frequenzkontroll-Gruppe (FG) wurde das Vorhofflimmern akzeptiert. Es wurde eine Ruhefrequenz von maximal 80/min und eine Belastungsfrequenz von maximal 120/min angestrebt. Im Protokoll waren hierzu folgende Substanzen vorgesehen: Betablocker, Kalziumantagonisten (Verapamil oder Diltiazem), Digitalis beziehungsweise eine Kombination dieser Substanzen. Alle Patienten in der FG sollten antikoaguliert bleiben (INR 2–3). Bei 85 Prozent wurde dies lückenlos durchgeführt. Der primäre Endpunkt in der AFFIRM-Studie waren die Sterblichkeit und ein Kombinationsendpunkt von Tod, Schlaganfall, vaskulärer Demenz, Herztod und grösseren Blutungen. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 3,5 Jahre, bis maximal 6 Jahre. Regelmässige Kontrollvisiten waren nur etwa alle sechs Monate vorgesehen. In der FG war nach fünf Jahren etwa ein Drittel der Patienten im Sinusrhythmus. Bei den übrigen wurde immerhin bei 80 Prozent eine zufrieden stellende Frequenzkontrolle erzielt. Bei etwa 15 Prozent blieb die Therapie unbefriedigend.
Merk-
s ä t z e (1)
q Bei kardiopulmonal stabilen Patienten mit neu aufgetretenem Vorhofflimmern muss nicht in jedem Fall ein Sinusrhythmus wiederhergestellt werden. Eine die Frequenz und die Symptome kontrollierende Therapie schafft bei über 80 Prozent dieser Patienten ebenso viel «Lebensqualität» wie die Wiederherstellung des Sinusrhythmus.
q Auch kardiale Dekompensationen und Schlaganfälle sind nicht häufiger, wenn das Vorhofflimmern belassen wird und die Patienten antikoaguliert werden.
Diese Patienten wechselten in die RG und wurden dort zumeist mit Amiodaron behandelt. Bei 5 Prozent wurde als Ultima Ratio eine AV-Knoten-Modifikation mit oder ohne Schrittmacherimplantation durchgeführt. In der RG bestand nach fünf Jahren bei 62 Prozent der Patienten Sinusrhythmus. Die Patienten erhielten mehrheitlich Amiodaron (63%), seltener Sotalol (41%) oder ein Klasse-I-Antiarrhythmikum (44%). Ein Drittel der RG-Patienten wechselte wegen Therapieversagens oder unerwünschter Arzneimittelwirkungen in die FG. So erhielten viele RG-Patienten im Verlauf der Studie auch Digitalis, Betablocker oder einen Kalziumantagonisten. Der primäre Studienendpunkt Tod trat bei zirka 22 Prozent der Patienten innerhalb
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Die Bedeutung der Kardioversion bei Vorhofflimmern
Merk-
s ä t z e (2)
q Sonderfälle, die von den Studien unzureichend erfasst werden, sind jüngere Patienten mit Vorhofflimmern, Patienten mit bedeutsamer kardialer Komorbidität und Patienten mit starkem Leidensdruck. Hier wird man weiterhin primär den Sinusrhythmus anstreben.
q Bei einer rhythmuskontrollierenden Strategie erspart man den Patienten auch kaum Medikamente; zudem ist mit häufigeren Komplikationen durch die Therapie zu rechnen.
q Ausserdem sollten Patienten mit wiederhergestelltem Sinusrhythmus, zumindest wenn sie schon einmal ein Vorhofflimmern-Rezidiv erlitten haben, dauerhaft antikoaguliert werden, weil die meisten Rezidive asymptomatisch verlaufen und somit häufig nicht diagnostiziert werden.
von fünf Jahren ein. Dieser Endpunkt wurde in beiden Gruppen etwa gleich häufig erreicht (6,8%). Auch die Schlaganfallhäufigkeit war gleich (ca. 1%/Jahr). Hiervon waren meistens Patienten betroffen, bei denen die Antikoagulation beendet worden war. Auch die Ergebnisse aus den Fragebögen zur Lebensqualität und zu kognitiven Fähigkeiten zeigten keine Unterschiede zwischen den beiden Therapiestrategien. Die AFFIRM-Studie fällt wegen der unerwünschten Arzneimittelwirkungen zugunsten der frequenzkontrollierenden Therapie aus. Die Patienten in der RG mussten im Studienverlauf signifikant häufiger ins Krankenhaus (80% vs. 7%), hatten häufiger kritische Herzrhythmusstörungen (12% vs. 2 Torsade-de-Pointes-Tachykardien; 9 vs. 1 Bradykardien) sowie pulmonale (7,3% vs. 1,7%) und gastrointestinale (8% vs. 2,1%) Ereignisse.
RACE-Studie
Die zweite Studie im selben Heft des «New England Journal of Medicine» kommt aus den Niederlanden und trägt das Akronym RACE (4). Es wurden 522 Patienten mit einem Rezidiv von anhaltendem Vorhofflimmern oder -flattern eingeschlossen. Das mittlere Alter betrug 68 Jahre. Die FG (n = 256) wurde, wie in AFFIRM, mit Digitalis, Betablockern oder Kalziumantagonisten behandelt mit dem Ziel einer Ruheherzfrequenz unter 100/min. Hiermit konnten 86 Prozent zufrieden stellend behandelt werden. 11 Prozent litten weiter unter Symptomen und wurden deshalb elektrisch kardiovertiert oder invasiv weiterbehandelt (AV-Knoten-Modifikation, Schrittmacher). Alle Patienten erhielten eine orale Antikoagulation. In der RG (n = 266) wurden alle Patienten zunächst elektrisch kardiovertiert und erhielten danach zur Rezidivprophylaxe Sotalol. Kam es zum Rezidiv, wurde erneut kardiovertiert und mit Flecainid oder Propafenon weiterbehandelt. Bei einem weiteren Rezidiv wurde in der dritten Stufe Amiodaron zum Erhalt von Sinusrhythmus (Erhaltungsdosis: 200 mg/Tag) eingesetzt. Die Therapie mit Sotalol, Flecainid und Propafenon wurde unter stationären Bedingungen und Monitorkontrolle eingeleitet. Alle Patienten erhielten Antikoagulanzien oder, wenn sie unter 65 Jahre alt waren, Acetylsalicylsäure. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 2,3 Jahre. Visiten fanden häufiger als in AFFIRM, nämlich alle drei Monate statt. In der RG hatten am Studienende 39 Prozent einen Sinusrhythmus. Diese im Vergleich zu AFFIRM geringere Erfolgsrate dürfte im Wesentlichen auf der Tatsache beruhen, dass ein Drittel der AFFIRM-Patienten erstmalig Vorhofflimmern hatte, das insgesamt auch kürzer bestand. Dagegen hatten die RACE-Patienten alle bereits ein Rezidiv und waren somit selektiert. Ausserdem waren die RACE-Patienten insgesamt etwas stärker herzkrank (Anamnese mit Herzinsuffizienz 50% vs. 23%). In der FG bestand am Studienende nur bei 10 Prozent Sinusrhythmus; dies wurde bei
der Hälfte durch elektrische Kardioversion wegen intolerabler Symptome erzielt. Wie häufig eine zufrieden stellende Frequenzkontrolle gelang, wird nicht mitgeteilt, und leider gibt es in der Publikation auch keine Angaben zur Lebensqualität. Der primäre kombinierte Studienendpunkt (Tod, Herzinsuffizienz, Thromboembolie, bedrohliche Arrhythmie, Schrittmacherimplantation, Blutung) trat in der RG signifikant häufiger auf als in der FG (22,6% vs. 17,2%). Der Unterschied beruhte im Wesentlichen auf einer Häufung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (5,5% vs. 0,8%), Thromboembolien (7,9% vs. 5,5%) und der Notwendigkeit einer Schrittmachertherapie. Interessanterweise waren Frauen und Hypertoniker besonders häufig von diesen unerwünschten Arzneimittelwirkungen betroffen, was die Autoren damit zu erklären versuchen, dass diese Subgruppen bekannterweise besonders empfänglich sind für erworbene Long-QT-Syndrome. Herzinsuffizienz trat im Studienverlauf häufiger in der RG auf (4,5% vs. 3,5 %). Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil die Prophylaxe der
Handelsnamen der im Text erwähnten Medikamente
(sofern in CH im Handel)
Amiodaron
Chinidin Diltiazem
Disopyramid Flecainid Propafenon Sotalol Verapamil
Amiodaron-Mepha® Cordarone® Escodaron® Kinidin-Duriles® Coridil® 90 retard Diltiazem-Mepha® Dilzem® Escozem® Tildiem® Norpace® Tambocor® Rytmonorm® Sotalex® Sotalol-Mepha® Flamon® Isoptin® Verapam®
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Herzinsuffizienz immer als gewichtiges Argument für eine Kardioversion ins Feld geführt wird.
PAFAC-Studie
Eine dritte wichtige Studie kommt aus Deutschland und der tschechischen Republik. Sie heisst PAFAC (5) und ist bislang nach unserer Kenntnis noch nicht in einer angesehenen Zeitschrift veröffentlicht, sondern nur auf Kongressen vorgestellt worden; deshalb gehen wir nur kurz auf die Ergebnisse ein. In diese prospektive Studie wurden 848 Patienten nach erfolgreicher Kardioversion von Vorhofflimmern eingeschlossen. Sie erhielten zur Rezidivprophylaxe entweder Sotalol (n = 383) oder Chinidin/Verapamil (Cordichin; n = 377) oder Plazebo (n = 88). Primärer Studienendpunkt waren Tod oder ein Rezidiv des Vorhofflimmern. Es kam im aktiven Studienteil zu 12 Todesfällen; davon wurden 9 auf Arrhythmien zurückgeführt (plötzlicher Herztod, Kammerflimmern, Bradykardie). Alle Todesfälle traten in den Antiarrhythmika-Gruppen auf. Nichttödliche Arrhythmieereignisse (Synkopen, Torsade-de-Pointes-Tachykardien, Kammertachykardien bzw. -flimmern)
fanden sich etwa gleich häufig in den drei Gruppen (Plazebo: 3,4%, Sotalol: 4,1%, Chinidin/Verapamil: 3,2%). Torsade-dePointes-Tachykardien wurden aber nur unter Sotalol beobachtet (6). Auch in dieser Studie findet sich also ein klarer Hinweis darauf, dass die medikamentöse Rezidivprophylaxe nicht ungefährlich ist und dass Sotalol – möglicherweise mehr als andere Antiarrhythmika – proarrhythmische Effekte hat und daher heute nicht mehr als erste Wahl bei Vorhofflimmern gilt. Das Besondere an PAFAC ist, dass alle Patienten einen kleinen EKG-Recorder erhielten, mit dessen Hilfe täglich ein EKG über ein Telefon an das Studienzentrum übermittelt wurde. So konnten über 190 000 Tele-EKG ausgewertet werden. Es zeigten sich bei 67 Prozent der Patienten Vorhofflimmern-Rezidive bei einem mittleren Nachbeobachtungszeitraum von 250 Tagen. Das bemerkenswerteste Ergebnis war, dass 70 Prozent dieser Rezidive völlig asymptomatisch verliefen, also ein Zufallsbefund waren. Dieses Ergebnis stellt die Erfolgsquoten vieler bisheriger Studien zur Rezidivhäufigkeit von Vorhofflimmern sehr in Frage und erklärt wahrscheinlich auch, warum es trotz ver-
meintlichem Sinusrhythmus gehäuft zu
Schlaganfällen kommt, wenn die Antiko-
agulation abgesetzt wird.
q
Literatur: 1. Cain, M.E.: N. Engl. J. Med. 2002; 347: 1822. 2. AMB 2000; 34: 89. 3. Wyse, D.G. et al.: AFFIRM (= Atrial Fibrillation Follow-Up Investigation of Rhythm Management). N. Engl. J. Med. 2002; 347: 1825. 4. Van Gelder, C. et al.: RACE (= RAte Control versus Electrical Cardioversion for persistent atrial Fibrillation). N. Engl. J. Med. 2002; 347: 1834. 5. Fetsch, T., et al.: (PAFAC = Prevention of Atrial Fibrillation After Cardioversion). Eur. Heart J. 2002; 23 Abstr. Suppl.: 3461. 6. Vester, E.G. et al.: Eur. Heart J. 2002; 23 Abstr. Suppl.: 2527.
Dieser Beitrag erschien zuerst in «Der Arzneimittelbrief» 9/2003. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber D. von Herrath und W. Thimme.
Interessenkonflikte werden in der Originalpublikation nicht deklariert.
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