Transkript
INTERVIEW
«In der Schweiz gibt es keine vergleichbare Organisation, die akademische, nicht profitorientierte Krebsforschung betreibt»
Vincent Gruntz über Visionen, Herausforderungen und die besondere Rolle der SAKK
Seit September 2024 leitet Vincent Gruntz die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK). Nach einer Karriere in der Pharmaindustrie bringt er eine neue Perspektive in die Organisation, die seit 60 Jahren eine zentrale Rolle in der schweizerischen Krebsforschung spielt. Im Interview spricht er über seine Motivation, die grössten Herausforderungen in der klinischen Krebsforschung und seine Vision für die Zukunft der SAKK.
(Foto: zVg)
Zur Person
Vincent Gruntz Vincent Gruntz ist seit September 2024 CEO der SAKK. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer von Novartis Onkologie Schweiz. Er lebt mit seiner Familie in der Schweiz und setzt sich leidenschaftlich für die klinische
Krebsforschung ein.
Herr Gruntz, was hat Sie bewogen, die Position des CEO bei der SAKK zu übernehmen? Vincent Gruntz: Beruflich war ich an einem Punkt, an dem mir klar war, was mir in meinen bisherigen Rollen zuletzt gefehlt hat: Die Möglichkeit, in einer Organisation zu arbeiten, in der man schnell einen wesentlichen Impact haben kann, und das in einem Bereich, der mir am Herzen liegt: Die bessere Behandlung von Krebspatienten ist mir schon lange ein Anliegen. Ich habe die SAKK schon als Geschäftsführer von Novartis Onkologie als unglaublich spannende Organisation wahrgenommen, die eigentlich noch viel mehr könnte – und das hat mich gereizt. Die SAKK ist aus mehreren Gründen einzigartig: Wir haben einen staatlichen Leistungsauftrag, ein nationales Netzwerk und sind eine Forschungsinstitution von nationaler Bedeutung. Gleichzeitig sind wir klein und agil genug, um etwas zu bewegen, Entscheidungen schnell umsetzen zu können und neue Ideen anzugehen – etwas, das in den Strukturen von «Big Pharma» oft nicht möglich ist. Persönlich ist die Verankerung der SAKK in der Schweiz für mich ein wichtiger Aspekt gewesen. Ich habe eine Organisation gesucht, die international vernetzt, aber lokal fest verankert ist. Ich sehe meine Familie und mich in der Schweiz.
Decken sich Ihre Eindrücke mit Ihren Vorstellungen? Meine ersten Eindrücke haben meine Erwartungen sogar übertroffen. Ich habe ein hoch
motiviertes Team angetroffen, das nicht durch Titel oder Gehälter, sondern durch die Sache selbst angetrieben wird. Das habe ich in meinen letzten Jahren in der Pharmaindustrie in dieser Form nicht erlebt. Auch die Geschwindigkeit, mit der wir auf neue Herausforderungen oder Ideen reagieren können, beeindruckt mich immer wieder. Dazu kommt die Zusammenarbeit mit der Onkologen-Community in der Schweiz. Diese Ärzte sind in der Regel pragmatische Macher mit einem hohen Sinn für Dringlichkeit – etwas, das ich sehr schätze.
Vor welchen Herausforderungen steht die SAKK aktuell? Die grösste Herausforderung ist die massive Unterfinanzierung der klinischen Forschung – allgemein in der Schweiz und wahrscheinlich auch weltweit. Es gibt ein enormes Ungleichgewicht zwischen den Mitteln, die in die Grundlagenforschung fliessen, und jenen, die für klinische Forschung bereitgestellt werden. Ein Beispiel für die Grössenordnung: Der Schweizerische Nationalfonds investiert jährlich über eine Milliarde Franken in die Grundlagenforschung. Demgegenüber steht ein Bruchteil für die klinische Forschung. Das ist ein Ungleichgewicht, das wir deutlich spüren: In der Grundlagenforschung ist die Schweiz Spitze, aber in der klinischen Forschung müssen wir uns als eher kleineres Land mit kleineren Spitälern und Patientenkollektiven im internationalen
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INTERVIEW
Wettbewerb behaupten. Eine der grossen Aufgaben der SAKK ist es, die Finanzierung der klinischen Krebsforschung für die Zukunft zu sichern.
Hinzu kommen steigende regulatorische Anforderungen, die die Durchführung von Studien immer komplexer und teurer machen. In Zukunft müssen wir flexibler auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Kundengruppen reagieren. Während wir in der Zusammenarbeit mit der Industrie die sehr hohen Anforderungen an regulatorische Studien erfüllen müssen, reicht im akademischen Bereich vielleicht manchmal ein etwas pragmatischerer Ansatz. Diese Flexibilität möchten wir weiter ausbauen.
Welche spezifischen Erfahrungen bringen Sie in Ihre neue Rolle ein? Der Hauptteil meiner Aufgabe besteht im Führen der Organisation und im Schaffen einer Unternehmenskultur, in der Führungskräfte und Teams ihr Potenzial entfalten können. Diesen Aufgabenbereich habe ich über die letzten Jahre an verschiedenen Stellen ausgefüllt. Dazu gehört auch, dass man Leute überzeugen, zusammenbringen und begeistern kann – und das ist wichtig in einem Netzwerk, das nicht hierarchisch aufgebaut ist, sondern in dem die Zusammenarbeit auf einer gemeinsamen Vision basiert. Das liegt mir. Ausserdem habe ich durch meine Arbeit beim Bundesamt für Gesundheit ein Verständnis für regulatorische Prozesse bei den Behörden und weiss aus der Pharmaindustrie, wie Industriepartner funktionieren – ich verstehe Anforderungen und Erwartungen an wissenschaftliche Kooperationen.
Was unterscheidet die SAKK von anderen Forschungsorganisationen? In der Schweiz gibt es keine vergleichbare Organisation mit einem Netzwerk wie dem der SAKK, das akademische, nicht profitorientierte Krebsforschung betreibt. Wir untersuchen zum Beispiel, ob Therapien in geringeren Dosierungen oder anderen Frequenzen genauso wirksam sind. In einer Organisation vereinen wir alle Universitätsspitäler, grössere Kantons- und Privatspitäler sowie alle Disziplinen im Bereich der Onkologie. Kliniker diskutieren, welche Fragen in der Behandlung von Krebspatienten nicht beantwortet sind. Dieser Konsensprozess ermöglicht es uns, Studien zu machen, die klinisch wirklich relevant sind – und deren Ergebnisse
dann auch Eingang in die Klinik finden. Ich habe das weltweit in keinem anderen Land so vorgefunden.
Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Krebsforschung in der Schweiz? Ich bin stolz auf die Qualität von Studien, Forschung und ärztlicher Versorgung in der Schweiz. Unser Gesundheitssystem zählt zu den besten weltweit, und die enge Vernetzung der Community bietet grosse Vorteile. Ich glaube, ein Konzept wie die SAKK wäre in einem grossen Land schwer umzusetzen. Viele Forscher in unserem Netzwerk sind weltweit führend in ihren Fachgebieten, SAKK-Studien erhalten immer wieder Aufmerksamkeit auf grossen Kongressen. Trotz dieser Vorteile spüren wir den internationalen Wettbewerb, besonders in der Forschung und bei den Investitionen.
Ein Problem ist, dass die klinisch tätigen Ärzte durch den finanziellen Druck und den anspruchsvollen Alltag in den Spitälern immer weniger Zeit für Forschung aufbringen können. An dieser Stelle möchte ich den klinischen Forschern aus dem Netzwerk danken – ich sehe, dass hier viel Zeit auch an Abenden und am Wochenende investiert wird. Es ist entscheidend, dass wir in der Schweiz Konzepte entwickeln, die es Klinikern ermöglichen, neben ihrer klinischen Tätigkeit Forschung zu betreiben.
Wie ist die SAKK international positioniert? Die SAKK hat primär die Aufgabe, in der Schweiz klinische Forschung zu betreiben, und koordiniert Studien als Hauptansprechpartner für internationale und europäische akademische Forschungsgruppen. Ich möchte die internationale Zusammenarbeit intensivieren und länderübergreifende Studien zusammen mit grösseren Märkten wie zum Beispiel Deutschland und Frankreich durchführen. Internationale Kooperationen, nicht nur im akademischen Bereich, werden für uns in der Zukunft eine höhere Priorität einnehmen.
Wie kann die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie gestärkt und gleichzeitig die Unabhängigkeit der Forschung bewahrt werden? Die Unabhängigkeit der Forschung ist für uns ein zentraler Punkt. In der SAKK werden sämtliche Studienideen zunächst von den For-
schungsgruppen diskutiert und validiert. Nur wenn eine Forschungsfrage als relevant angesehen wird, führen wir die Studie durch – unabhängig von der finanziellen Unterstützung, die wir für Projekte erhalten könnten. Als Non-Profit-Organisation bemessen wir unseren Erfolg an den Ergebnissen unserer Studien und deren Einfluss auf die Verbesserung der Krebsbehandlung, nicht an Geldern, die wir erhalten.
Nur wenn eine Forschungsfrage als relevant angesehen wird, führen wir die Studie durch – unabhängig von der finanziellen Unterstützung, die wir für Projekte erhalten könnten.
Wir sind unseren Mitgliedern verpflichtet, den grossen Spitälern in der Schweiz, nicht Aktionären oder anderen Anspruchsgruppen, die irgendeine Dividende erwarten.
Wo sehen Sie die SAKK in fünf Jahren? Ich wünsche mir, dass die Rückmeldungen zur SAKK das Engagement und den Stolz widerspiegeln, den wir empfinden. Der Funke sollte nicht nur innerhalb unserer Forschungsgemeinschaft spürbar sein; die Organisation und die Ergebnisse unserer Arbeit sollten auch nach aussen bekannter werden – in der Politik, bei den Krebspatienten, in den Spitälern und in der Öffentlichkeit. Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine breitere Aufstellung unserer Finanzierungsquellen, um deutlich mehr Forschungsideen finanzieren zu können. Zusätzlich müssen wir Wege finden, um flexibler auf die unterschiedlichen Anforderungen der Industrie und der akademischen Forschung zu reagieren. Wenn uns das gelingt, wäre ich sehr stolz.
Das Interview führte Christine Mücke.
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