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Die Zukunft der Suizidhilfe in der Schweiz (Teil 3)
Ist Suizidhilfe in Vereinshand Teil des eidgenössischen Brauchtums?
In Ermangelung verbindlicher rechtlicher Regelungen wird der Diskurs hinsichtlich der Praxis der Suizidhilfe in der Schweiz seit zwei Jahrzehnten hauptsächlich von zwei «Playern» bestimmt – auf der einen Seite von der ärztlichen Standesethik, vertreten durch SAMW1 und FMH2, und auf der anderen Seite von den Sterbehilfeorganisationen, im Wesentlichen vertreten durch den Verein EXIT, der sich seit den 1980er-Jahren für das Recht auf Freitodbegleitung einsetzt. Das Verhältnis zwischen den genannten Organisationen war über die Jahre nicht einfach. In diesem Artikel zeichnen wir die Entwicklung der Suizidhilfe der letzten 20 Jahre anhand der Interaktion zwischen SAMW/FMH und EXIT nach. Dabei wird deutlich, dass es die Sterbehilfeorganisationen, also Vereine, sind, welche letztlich die Deutungshoheit hinsichtlich Indikationen und Ablauf der Sterbehilfe in der Schweiz für sich «erobert» haben.
Uwe Güth, Andres R. Schneeberger, Edouard Battegay
Unsere Arbeitsgruppe hat im zweiten Teil unserer in ARS MEDICI erschienen Artikelserie zur Zukunft der Suizidhilfe in der Schweiz darauf hingewiesen, dass die Betreuung von Sterbewilligen durch Vereine nicht den Kriterien unterliegt, die in der Schweiz sonst für medizinische Interventionen gefordert sind (1). Im Gegensatz zu medizinischen Praxen, Spitälern oder anderen medizinischen Institutionen gibt es zum Beispiel für Sterbehilfeorganisationen noch keine definierten und obligat zu erfüllenden Qualitätsstandards. Es bestehen auch keine definierten Ausbildungscurricula für diejenigen Personen, die Sterbewillige beraten und betreuen. Sterbehilfeorganisationen sind als Vereine organisiert und damit letztlich, solange sie nicht gegen bestehende Gesetze verstossen, lediglich ihren eigenen Statuten verpflichtet. Sie können ohne behördliche Genehmigung und damit praktisch auch ohne externe Qualitätskontrolle agieren (1). Die hiesige Organisationsform «Sterbehilfe in Vereinshand» ist aus unserer Sicht infrage zu stellen. EXIT (EXIT – Deutsche Schweiz) ist im Land die klar mitgliederstärkste Vereinigung, die «Mitglieder in ihrem Selbstbestimmungsrecht am Lebensende» unterstützt. Sie fungiert, exzellent organisiert und mit professionellem PR-Auftritt, als Speerspitze und wichtigstes Sprachrohr der Sterbehilfebefürworter in der Schweiz (2). Wir möchten die grundsätzliche Kritik an der Organisationsform aber zunächst gar nicht als Kritik an EXIT verstanden wissen. Nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand agiert EXIT inzwischen auf einem hohen Qualitätsniveau mit jahrzehntelanger Erfahrung. Man kann davon ausgehen, dass ihre Sterbehelfer ihre Tätigkeiten mit Seriosi-
1 SAMW: Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2 FMH: Foederatio Medicorum Helveticorum
tät und Verantwortungsbewusstsein ausüben. EXIT betreut aber nur etwa 70 Prozent der Freitodbegleitungen in der Schweiz (3, 4). Ein Schwachpunkt in der Organisationsform «Sterbehilfe in Vereinshand» liegt aber sicher darin, dass auch kleinere Vereine im Bereich der Suizidhilfe aktiv sind. Was diese «treiben», ist aber weit weniger transparent. Hier arbeitet der «Markt des Sterbetourismus» (5) zuweilen mit gediegener Diskretion.
Was machen Vereine in der Schweiz?
Wenn man als gegeben ansieht, dass Suizidhilfe derzeit in der Schweiz nicht mit den Qualitätskriterien einer medizinischen Intervention geleistet wird, in welche Kategorie können wir sie dann aber treffender einordnen? Man kann sich dieser Frage durchaus über die Organisationsform der Sterbehilfevereine nähern. Gemäss dem Bundesamt für Kultur erfüllen Vereine in der Schweiz eine wichtige Funktion in der Pflege der «lebendigen Traditionen der Schweiz» (6): «Wenn Menschen regelmässig zusammenkommen und gleichberechtigt ihr gemeinsames, ideales Ziel anderen gegenüber kundtun wollen, gründen sie einen Verein. In der Schweiz gibt es achtzig- bis hunderttausend Vereine. Davon gehört fast die Hälfte dem Sportbereich an. Bedeutsam sind indes auch Vereine im kulturellen, sozialen und politischen Bereich.»
Weiter erklärt das Bundesamt die Tatsache, dass die Vereinsform in der Schweiz so verbreitet ist mit […] den günstigen Rahmenbedingungen; einerseits an der verfassungsrechtlich garantierten Vereinigungsfreiheit, andererseits an der Vereinsautonomie, die es einem Verein innerhalb bestimmter Regeln erlaubt, sich ohne behördliche Zustimmung eigene Statuten zu geben.»
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Sollte die Suizidhilfe dadurch, dass sie in Vereinsform betrieben wird, also Teil der «lebendigen Traditionen der Schweiz» ist, dann auch als Teil des eidgenössischen Brauchtums angesehen werden? Anders formuliert: Steht die Pflege des Phänomens des assistierten Suizids (AS) formal tatsächlich näher bei Schweizer Traditionen wie Schwingen, Hornussen, Volksund Chormusik als bei der Medizin? Wir möchten diese Frage gar nicht als Polemik verstanden wissen. Viele sehen die Suizidhilfe in der Schweiz in der Tat als basisdemokratische Errungenschaft und damit auch als Teil einer nationalen DNA, welche dem Einzelnen eine hohe Autonomie in Fragen des persönliches Lebens einräumt (7). Teil dieses Selbstverständnisses im Verhältnis des Einzelnen zur Obrigkeit ist, dass der Staat in persönliche Lebensentscheidungen nur in geringem Masse eingreifen sollte. Die bisherige Erfahrung zeigt auch, dass sich der Schweizer Staat auch dieser Haltung verpflichtet sieht und seine Vertreter bisher nur wenig Initiative zur Regelung der Suizidhilfe zeigen. Auch im Ausland wird der AS inzwischen als «typisch schweizerisch» wahrgenommen. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch ist «going to Switzerland» inzwischen ein klar verstandener Euphemismus, und jedem ist klar, dass der Weg in die Schweiz nicht in Wintersportdestinationen führt, sondern dass die «Swiss option» Sterbehilfe bedeutet – üblicherweise für Menschen, denen dieser Weg in ihrem Land aufgrund fehlender Legalisierung nicht möglich ist (8–10).
Indikationen und Praxis der Sterbehilfe in der Schweiz – Vereine erobern die Deutungshoheit
Ein Hinweis auf die Schweizer Alltagssprache zeigt den immensen Einfluss von EXIT auf die öffentliche Wahrnehmung des Phänomens Suizidhilfe. Wenn in der Bevölkerung über Sterbehilfe beziehungsweise AS gesprochen wird, so werden diese Begriffe selten verwendet, dafür wird in der Alltagssprache heute üblicherweise «EXIT» eingesetzt (7); ein typisches Beispiel im Dialog: «Wie stehst Du zum assistierten Suizid»? Antwort: «Assistierter Suizid …? Das ist EXIT, oder?» Auch andere Aussagen hinsichtlich des Themas («Wenn ich an so einer Krankheit leiden würde, dann ginge ich zu EXIT», «Als ich die Krebsdiagnose erhielt, habe ich mich sofort bei EXIT angemeldet») gehören inzwischen zum festen Sprachrepertoire des Landes. Ein Verein hat es also geschafft, dass ein wichtiges gesellschaftliches Phänomen, in diesem Fall die Suizidhilfe, in der Alltagssprache mit seinem Namen gleichgesetzt wird (7). Das bringt in der freien Wirtschaft kaum ein Hersteller mit seinem Produkt fertig ...! Durch mittlerweile mehr als 167 000 Mitglieder auch mit einer gewissen Legitimation ausgestattet, macht EXIT aber auch deutlich, wer in der Schweiz nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch den Ablauf der Suizidhilfe inklusive der Indikationen dazu bestimmt. Die Ärzteschaft stellt natürlich einen wichtigen Partner dar. In Anerkennung von Heilmittel- und Betäubungsmittelgesetz sind es ja letztlich Mediziner, welche beim AS das zum Tod führende Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) rezeptieren. Dabei wird der Ärzteschaft, insbesondere dem Teil, welcher dem Thema Sterbehilfe kritisch gegenübersteht, aber auch nur ein eingeschränktes Mitsprachrecht eingeräumt. Dies war schon in den Jahren 2004 bis 2018 so, als die von der SAMW ausgearbeitete medizinethische Richtlinie zur «Betreuung von Patientin-
nen und Patienten am Lebensende» den Zugang zum AS lediglich Menschen mit einer schweren und unheilbaren Erkrankung, die auch in absehbarer Zeit zum natürlichen Tod geführt hätte (terminal illness requirement), zugestand (11). EXIT war dagegen der Ansicht, dass diese strenge Indikationsstellung erweitert werden sollte. Dementsprechend wurde die Praxis dann auch gestaltet, unabhängig von der SAMW-Richtlinie, die, wie üblich bei den von der SAMW ausgearbeiteten Richtlinien, als standesrechtliche Ethikleitlinie auch in die Satzung der FMH aufgenommen wurde. Die von den Sterbehilfeorganisationen etablierte beziehungsweise durchgesetzte Praxis führte dazu, dass in den Jahren von 2004 bis 2018 in etwa 50 Prozent der AS die Indikationen dazu nicht den «offiziellen» ärztlichen Richtlinien entsprachen, sondern denen von EXIT (12). Die grösste Subgruppe der Fälle mit «erweiterter Indikationsstellung» bildeten die assistierten Alterssuizide; bereits im Jahr 2017 machten diese etwa ein Viertel der von EXIT begleiteten AS aus (13). Für den Verein besteht kein Zweifel daran, in wessen Händen die Deutungshoheit zum Thema «Suizidhilfe in der Schweiz» liegt. Entsprechend sensibel reagiert EXIT auch, wenn aus ihrer Sicht Nichtberufene die Regeln des von ihm verantworteten Kulturguts in einer Weise modifizieren wollen, die nicht ganz der Vereinslinie entspricht. Als im Jahr 2022 die SAMW und die FMH in ihren überarbeiteten Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» (14) das lange kontrovers diskutierte Hauptkriterium zur Gewährung der Suizidhilfe revidierten und erstmals gemeinsam anerkannten, dass dazu nicht mehr nur ein terminal illness requirement erfüllt sein muss, sondern dass der AS auch bei Menschen erfolgen darf, die als Hintergrund ihres Sterbewunsches ein «schwerwiegendes Leiden» («Die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen des Patienten sind schwerwiegend») geltend machen, bedeutete dies eigentlich einen Triumph für EXIT. Endlich hatte auch die ärztliche Standesethik die von EXIT seit Jahren nicht nur propagierte, sondern auch praktizierte Öffnung der Sterbehilfe zu symptomorientierten Indikationen akzeptiert. In der schriftlichen Stellungnahme von EXIT zu dieser revidierten Richtlinie wurde diese bahnbrechende Neuerung aber kaum erwähnt (15). Dagegen wurde die Tatsache, dass die revidierte Fassung verabschiedet wurde, ohne dass Vertreter der Sterbehilfeorganisationen dabei mit an den Verhandlungstisch gebeten wurden – und das trotz einer vorherigen «warnenden Medienmitteilung» (sic!) –, als Brüskierung aufgefasst und entsprechend deutlich kritisiert. Die neue Richtlinie enthielt Präzisierungen im Ablauf der Suizidhilfe, die zwar so nicht in der vorherigen Fassung enthalten waren, durchaus aber im internationalen Vergleich in Ländern mit einer ähnlich hohen Anzahl von Sterbehilfefällen wie in der Schweiz, zum Beispiel in den Niederlanden und in Kanada, Usus sind. Dabei ging es vor allem um die von der SAMW/ FMH formulierten Forderungen nach definierten zeitlichen Abläufen und dem Einbezug von Familienangehörigen. In diesen neu aufgenommenen Präzisierungen erkannte EXIT unverhältnismässige und potenziell sogar unzulässige Verschärfungen für die Praxis der Suizidhilfe. Zu einer weiteren in die revidierte Richtlinie neu aufgenommenen Präzisierung nahm EXIT allerdings keine Stellung: «Ethisch nicht vertretbar im Sinn dieser Richtlinien ist Suizidhilfe bei gesunden Personen» (14). Eine derartige Aussage
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findet man in den früheren Fassungen der SAMW-Richtlinien nicht. Vermutlich waren die Autoren der vorherigen Texte der Meinung, dass man diese Grundvoraussetzung in der Praxis der Suizidhilfe gar nicht explizit hervorheben muss und sich Suizidhilfe bei Gesunden selbstredend verbietet. Dass sich die Autoren der aktuellen Richtlinie veranlasst sahen, dieses Grundprinzip expressis verbis zu formulieren, ist der Tatsache geschuldet, dass EXIT in den letzten Jahren diese medizinethische «Brandmauer», wenn auch bisher nur in wenigen Ausnahmefällen (z. B. bei sogenannten Paarsuiziden), eingerissen hat (16, 17). Hinsichtlich der «Machtverhältnisse» in der Gestaltung der Suizidhilfepraxis in der Schweiz wirkt der von der SAMW formulierte Warnhinweis aber letztlich wie ein hilfloser Versuch, diesen medizinethischen Leitsatz nochmals in Erinnerung zu rufen, wohl wissend, wie liberal und progressiv die Sterbehilfeorganisationen derart theorielastige Einschränkungen zu interpretieren pflegen. Gegen Ende ihrer Stellungnahme zu den aktualisierten SAMW-Richtlinien weist EXIT unmissverständlich darauf hin, dass die von der Ärzteschaft aufgestellten Richtlinien zwar eine gewisse Orientierung zur Praxis der Sterbehilfe bieten mögen, diese aber in keiner Weise als rechtlich bindend angesehen werden sollten und EXIT daher auch keine Veranlassung sieht, die Abläufe anzupassen («Neue ärztliche Richtlinien zur Suizidhilfe: Praxis von EXIT wird davon nicht beeinflusst») (15). Damit machte EXIT noch einmal unmissverständlich deutlich, wer in der Schweiz, in Ermangelung formeller gesetzlicher Grundlagen, Regeln und Ablauf der Suizidhilfe bestimmt.
Es ist nur allzu verständlich, dass und warum EXIT wünscht, zum Vernehmlassungsverfahren von SAMW/FMH zum Thema Suizidhilfe eingeladen zu werden. Und es ist auch vernünftig, dass bei der Erarbeitung von Richtlinien die Erfahrungen der «Praktiker» Gehör finden. Die Ambitionen des Vereins gehen aber weiter. EXIT fordert, die Richtlinien sollten «explizit auf das Vorgehen beim assistierten Suizid in Zusammenarbeit mit Sterbehilfeorganisationen eingehen» (18). Hier könnte man herauslesen, dass sich EXIT wünscht, dass die von ihnen (für sich) entwickelten Abläufe in die standesethischen Leitlinien übernommen werden. Auch dieser Wunsch erscheint zunächst nachvollziehbar. Er verkennt aber, dass die von der SAMW erarbeiteten Leitlinien auch in die Standesordnung der FMH übernommen werden. Daher müssen diese Leitlinien so formuliert sein, dass sie von dem grössten Teil der Ärzteschaft als repräsentativ empfunden werden können. Von der FMH akzeptierte Leitlinien zum Thema Sterbehilfe müssen also so formuliert sein, dass sie einerseits die zu diesem Thema progressiv eingestellten Teile der Ärzteschaft «abholen», andererseits aber ebenso die konservativ eingestellten Ärzte und Ärztinnen «mit ins Boot holen». Dementsprechend können und dürfen SAMW und FMH einen zu grossen Einfluss der Sterbehilfeorganisationen auf die Formulierung ihrer Leitlinien gar nicht zulassen. Liest man in der aktuellen Fassung der Leitlinien «Umgang mit Sterben und Tod» das Kapitel zum Thema Suizidhilfe (Kapitel 6.2.1, Seiten 25–27 [14]) mit den Augen eines zu diesem Thema konservativ-kritisch bis ablehnend eingestellten Arztes, so dürfte dieser die aktuellen Leitlinien bereits als äusserst progressiv, an der Grenze des gerade noch Akzeptablen, ansehen.
Ein weiterer Punkt hinsichtlich der Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen bei der Ausarbeitung der Leitlinie zum Thema «Umgang mit Sterben und Tod» darf hier auch kurz erwähnt sein: Mit ähnlichem Nachdruck wie EXIT könnten auch Vertreter der Kirchen für sich beanspruchen, an den Vernehmlassungen eingebunden zu werden. Man kann davon ausgehen, dass diese für das Kapitel 6.2.1 allerdings ganz andere Inhalte präferieren würden.
EXIT – ein Verein mit immenser gesellschaftlicher Tiefenwirkung
Kritiker der Sterbehilfe auf Seiten der Ärzteschaft mögen die Selbstverständlichkeit anmassend finden, mit der die grösste Schweizer Sterbehilfeorganisation fordert, an der Ausarbeitung der ärztlichen Standesethikleitlinien zwingend dabeisein zu müssen. An einem Punkt werden sie aber nicht vorbeikommen: Der Verein EXIT baut sein selbstbewusstes Auftreten auf einer offenbar breiten Akzeptanz in der Bevölkerung auf. Immerhin haben sich aktuell in der Schweiz mehr als 200 000 Menschen einer Sterbehilfeorganisation als Mitglieder angeschlossen (19). Die Verdienste von EXIT sind unbestritten; das Wirken dieses Vereins hat eine immense gesellschaftliche Tiefenwirkung hinterlassen (20). In diesem Zusammenhang darf daran erinnert werden, dass das Eintreten für eine Freitodbegleitung, zumindest in der Anfangszeit, nur einen geringen Teil der Vereinstätigkeit ausmachte. EXIT wurde 1982 gegründet, die erste Freitodbegleitung erfolgte drei Jahre später. Bis in die Mitte der 1990er-Jahre blieb Suizidhilfe in der Schweiz aber ein seltenes Ereignis; im Jahr 1998 hat das Bundesamt für Statistik gerade einmal 43 Fälle dokumentiert. Zwar ist bis heute der Anteil der Suizidhilfe an allen Todesfällen auf etwa 2 Prozent angestiegen (im Jahr 2022: 1594 AS), die Mehrheit der Menschen in der Schweiz stirbt aber weiterhin eines «normalen» Todes. Das mediane Alter zum Zeitpunkt des Todes betrug im Jahr 2022 83 Jahre (♀: 86 Jahre, ♂: 80 Jahre). Und für die Unterstützung genau dieser «normalen» Todesfälle ist EXIT Anfang der 1980er-Jahre angetreten. Einem nicht selten paternalistisch geprägten medizinischen Umfeld, in dem auch bei Entscheidungen zum Lebensende die Vorstellungen der Patienten häufig wenig Berücksichtigung fanden, hat EXIT damals das Instrument der Patientenverfügung entgegengestellt. In dieser wurde schriftlich festgehalten, welchen medizinischen Massnahmen die betroffene Person zustimmt und welche sie ablehnt. Die Etablierung von Patientenverfügungen war ein wichtiger Faktor einer Entwicklung, die in den Folgejahren zu einem Paradigmenwechsel in der Betreuung Schwerkranker und Sterbender führte: Die Patienten waren jetzt nicht mehr so häufig ärztlicher Behandlungswillkür ausgesetzt; stattdessen galt mehr und mehr das (eigentlich selbstverständliche) Prinzip, dass Ärzte, gerade am Lebensende, nach den Wünschen und Wertvorstellungen ihrer Patienten zu handeln haben. Wenn man bedenkt, worauf das «EXIT-Erfolgsmodell» Freitodbegleitung basiert, dann kommt man unweigerlich zum Schluss, dass offenbar in der Schweizer Bevölkerung, vor allem bei älteren Menschen, noch immer ein tiefes Misstrauen besteht, dass im Fall einer schweren, unheilbaren und zum Tod führenden Erkrankung die betreuenden Ärzte nicht im Sinne ihrer Patienten handeln, sondern eigenmächtig Therapiepläne aufstellen,
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denen die Patienten sich dann zu unterwerfen haben. Die Angst vor diesem Szenario scheint so tief verankert, dass viele Menschen glauben, dafür eine Art Versicherung abschliessen zu müssen, die Mitgliedschaft bei EXIT («Eine EXIT-Mitgliedschaft wirkt wie eine Versicherung») (21). Hier müssen sich sicher auch Teile der Ärzteschaft kritisch hinterfragen, warum in der modernen Medizin, welche seit vielen Jahren den mündigen Patienten in den Mittelpunkt ihres Tuns stellt, diese Angst noch immer so ausgeprägt ist.
Fazit für die Zukunft der Suizidhilfe in der
Schweiz
Sterbehilfeorganisationen, also Vereine, haben in der Schweiz
die Deutungshoheit hinsichtlich Indikationen zu und Ablauf
der Sterbehilfe «erobert». Es sollte aber die Frage erlaubt sein,
ob es angebracht ist, bei einem gesellschaftlich so wichtigen
Thema Vereinen derart viel Einfluss und Gestaltungsmacht
wie bisher einzuräumen. Wir erwarten für die Schweiz in
spätestens 10 bis 15 Jahren etwa 3500 Suizidhilfefälle jährlich
(1, 22). Dass eine Gesellschaft Indikationen und Management
von 5 Prozent ihrer Todesfälle in die Hände von Vereinen legt,
erscheint nicht nur auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig.
Das «Erfolgsmodell EXIT» beruht nicht zuletzt auf der Tat-
sache, dass der Staat, bzw. der Gesetzgeber, es bisher versäumt
hat, für Sterbewillige in der Schweiz sichere Rahmenbedin-
gungen ausserhalb der Sterbehilfevereine zu schaffen. Dabei
wäre es längst an der Zeit, das Phänomen Suizidhilfe als in-
zwischen festen Bestandteil der Sterbekultur dieses Landes
durchzudenken und in einen Gesetzesrahmen zu setzen (1,
22).
s
Korrespondierender Autor: Prof. Dr. med. Uwe Güth Brust-Zentrum Zürich Medizinische Fakultät, Universität Basel E-Mail: uwe.gueth@unibas.ch
Prof. Dr. med. Andres R. Schneeberger University of California San Diego, Department of Psychiatry San Diego, USA Prof. Dr. med. Edouard Battegay International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC) Merian Iselin Klinik Basel und Universität Zürich, Healthy Longevity Center
Interessenlage: Die Autoren bestätigen, dass kein Interessenkonflikt besteht. Keiner der Autoren ist Mitglied in einer der Schweizer Sterbehilfeorganisationen.
Danksagung: Die in dieser Arbeit berichteten Daten zum assistierten Suizid wurden uns vom Schweizerischen Bundesamt für Statistik (Sektion Gesundheit der Bevölkerung, Vitalstatistik und Epidemiologie) zur Verfügung gestellt. Ansprechpartner waren Prof. Dr. Rolf. Weitkunat und Herr Karim Abawi.
Literatur: 1. Güth U et al.: Die Zukunft der Suizidhilfe in der Schweiz (Teil 2): Welche
Verantwortung tragen Politik und Gesetzgeber? Ars Medici. 2024;23:560– 569. 2. EXIT – Deutsche Schweiz; https://www.exit.ch/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 3. Güth U et al.: ICD-based cause of death statistics fail to provide reliable data for Medical Aid in Dying. Int J Public Health. 2023; 68:1606260. 4. Güth U et al.: Der assistierte Suizid in der Schweiz (Teil 2): Der «unsichtbare» Alterssuizid. Praxis (Bern) 2024; zur Publikation vorgesehen im November 2024. 5. Ackeret M: Die Sterbehilfe in der Schweiz ist längst ausser Kontrolle (04.01.2019); https://www.swissinfo.ch/ger/standpunkt_die-sterbehilfe-in-der-schweiz-ist-laengst-ausser-kontrolle/44599878; letzter Zugriff: 12.09.2024. 6. Schweizerisches Bundesamt für Kultur, Sektion Kultur und Gesellschaft: Die lebendigen Traditionen der Schweiz: Vereinswesen; https://www. lebendige-traditionen.ch/tradition/de/home/traditionen/vereinswesen. html; letzter Zugriff: 12.09.2024. 7. Güth U: EXIT muss die Akzeptanz der Sterbehilfe nicht mehr steigern, dieser Kampf ist längst gewonnen. EXIT – Deutsche Schweiz, MitgliederMagazin, Februar 2014; https://www.exit.ch/mitgliedschaft/mitgliedermagazin/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 8. Exit International: How to organise an assisted death in Switzerland (13.08.2023); https://www.exitinternational.net/the-swiss-optionmade-simple/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 9. Stewart F, Nitschke P: Going to Switzerland: How to plan your final exit; https://www.peacefulpillhandbook.com/store/product/switzerland/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 10. Beck J: «Going to Switzerland» Is a Euphemism for Assisted Suicide. The Atlantic, 27.08.2014; https://www.theatlantic.com/health/archive/2014/08/ going-to-switzerland-is-a-euphemism-for-assisted-suicide/379182/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 11. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende (November 2004, aktualisiert 2012); https://www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/RichtlinienArchiv.html; letzter Zugriff: 12.09.2024. 12. Güth U et al.: Long-term experience on assisted suicide in Switzerland: dementia, mental disorders, age-related polymorbidity and the slippery slope argument. Public Health. 2023; 223:249-256. 13. EXIT – Deutsche Schweiz: Jahresbericht 2017; https://www.exit.ch/verein/ jahresberichte/jahresbericht-2017/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 14. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: Umgang mit Sterben und Tod (17.05.2018; Anpassungen unter 6.2. und 6.2.1. genehmigt mit Senatsbeschluss vom 25.11.2021, Online-Veröffentlichung im Mai 2022); https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien. html; letzter Zugriff: 12.09.2024. 15. EXIT – Deutsche Schweiz: Neue ärztliche Richtlinien zur Suizidhilfe: Praxis von EXIT wird davon nicht beeinflusst (23.06.2022); https://www.exit. ch/artikel/neue-aerztliche-richtlinien-zur-suizidhilfe-praxis-von-exitwird-davon-nicht-beeinflusst/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 16. Bundesgericht, Medienmitteilung Urteil vom 09.12.2021 (6B_646/2020): Suizidhilfe für gesunde Frau: Urteil gegen Arzt aufgehoben – Kantonsgericht Genf muss neu entscheiden; https://www.bger.ch/ext/eurospider/ live/de/php/clir/http/index.php?lang=de; letzter Zugriff: 12.09.2024. 17. Bundesgericht, Medienmitteilung Urteil vom 13.03.2024 (6B_393/2023): Suizidhilfe für gesunde Frau: Genfer Arzt hat Betäubungsmittelgesetz nicht verletzt; https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/ http/index.php?lang=de; letzter Zugriff: 12.09.2024. 18. Stahel A: Die SAMW-Richtlinien sollen explizit auf das Vorgehen beim assistierten Suizid in Zusammenarbeit mit Sterbehilfeorganisationen eingehen. Vortrag im Rahmen der von EXIT organisierten Tagung «Zukunft Freitodbegleitung Schweiz». Zürich, 26.10.2024. 19. Uda K: Schweizer Sterbehilfe-Organisationen vermelden Mitgliederrekorde. SWI – Swissinfo.ch, 28.03.2023; https://www.swissinfo.ch/ger/ gesellschaft/schweizer-sterbehilfe-organisationen-vermelden-mitgliederrekorde/48395280; letzter Zugriff: 12.09.2024. 20. Lüond K: Selbstbestimmt bis zuletzt. Sterbehilfe in der Schweiz (2022). NZZ Libro. 21. EXIT – Deutsche Schweiz: EXIT-Mitgliedschaft auf einen Blick; https:// www.exit.ch/mitgliedschaft/mitgliedschaft-auf-einen-blick/; letzter Zugriff: 12.09.2024. 22. Güth U et al.: Die Zukunft der Suizidhilfe in der Schweiz (Teil 1): Stellen wir uns darauf ein, dass 5 Prozent aller Todesfälle mit assistiertem Suizid erfolgen. Ars Medici. 2024;22:527–529.
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