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IM FOKUS: BISPEZIFISCHE ANTIKÖRPER BEI HÄMATOLOGISCHEN NEOPLASIEN
Bispezifische Antikörper bei der akuten lymphatischen Leukämie des Erwachsenen
Während die Therapie mit bispezifischen Antikörpern bei rezidivierten malignen Lymphomen und beim Multiplen Myelom erst in den letzten Jahren eingeführt wurde, gehört sie bei der B-lymphoblastischen Leukämie (ALL) bereits seit mehreren Jahren zur Standardtherapie, sowohl im Rezidiv als auch bei anhaltendem Nachweis einer messbaren Resterkrankung (MRD). Neuere Studien unterstützen bereits den Einsatz in der Konsolidierungstherapie oder sogar in der Erstlinienbehandlung.
MICHAEL GREGOR
SZO 2024; 2: 15–19.
Foto: zVg
Michael Gregor
Die ALL ist eine Neoplasie unreifer T- oder B-Zell-Vorläufer, wobei 2/3 bis 3/4 der ALL-Fälle einen B-ZellPhänotyp aufweisen. Die ALL ist die häufigste Leukämie im Kindesalter, tritt aber auch bei Erwachsenen auf, wobei die Inzidenz ab dem 50. Lebensjahr zunimmt. Während die Heilungschancen bei Kindern sehr gut sind (5-Jahres-Überlebensrate bis ≥ 90%), sind die Therapieerfolge bei Erwachsenen nur mässig (5-Jahres-Überlebensrate < 50%). Dies ist teils Folge der bei Kindern meist günstigeren Biologie mit häufiger prognostisch günstigeren Subgruppen, aber auch der besseren Toleranz der intensiven Chemotherapie im Kindesalter. In den letzten Jahren hat die Einführung pädiatrisch inspirierter Therapieprotokolle zu einer Verbesserung der Therapieergebnisse bei Erwachsenen geführt. Allerdings werden solche intensiven Therapien nur von jüngeren Erwachsenen toleriert, sodass bereits im mittleren Erwachsenenalter – je nach Studienprotokoll und Studiengruppe ab 40 bis 60 Jahren – Dosiskompromisse erforderlich sind.
ABSTRACT
Bispecific antibodies in adult acute lymphoblastic leukaemia
The bispecific T-cell engager (BiTE) Blinatumomab is an established treatment for relapsed/ refractory B-cell acute lymphoblastic leukemia. It is more effective and better tolerated than conventional salvage chemotherapy. It has been approved for the treatment of measurable residual disease. Several studies on first-line therapy in adult ALL showed a promising improvement of the response rate and quality of response in interim analysis when blinatumomab was added in consolidation or maintenance therapy. In bcr-abl positive ALL, dasatinib or ponatinib combined with blinatumomab provide a high response rate with deep molecular responses and promising survival.
Keywords: Bispecific antibody, BiTE, Blinatumomab, ALL
Bei unzureichendem Ansprechen auf die Induktionstherapie mit Krankheitspersistenz oder bereits Nachweis einer messbaren Resterkrankung (measurable residual disease; MRD) nach der ersten Konsolidierung über einem bestimmten Schwellenwert (> 10-4) sowie bei ALL-Rezidiv wird bei Erwachsenen eine allogene Stammzelltransplantation als kurative Therapieoption empfohlen, sofern die Patienten dafür geeignet sind. Bei der BCR-ABL-positiven ALL (auch Philadelphiapositive ALL genannt) führte die Gabe von Tyrosinkinase-Inhibitoren zusätzlich zur Chemotherapie zu einer relevanten Verbesserung der Therapieergebnisse. Die Intensität der Induktionschemotherapie konnte so bei gleichem Behandlungsergebnis und geringerer therapiebedingter Toxizität reduziert werden. Bei kurativer Zielsetzung wird bei Patienten mit BCR-ABL-positiver ALL weiterhin eine allogene Stammzelltransplantation zur Konsolidierung empfohlen.
Bewährte und neue Indikationen für Blinatumomab
Blinatumomab ist ein bispezifisches T-Zell-Engager (BiTE®)-Antikörperkonstrukt, bestehend aus der Fusion von 2 unterschiedlichen antigenerkennenden scFv-Fragmenten (engl. single chain variable fragment), die über eine Peptidbrücke miteinander verbunden sind. Ein Teil von Blinatumomab bindet an CD19, ein Oberflächenprotein, das von praktisch allen B-Zellen von frühen Vorläuferzellen bis hin zu reifen B-Lymphozyten exprimiert wird. Der andere Teil von Blinatumomab bindet an CD3, einen Teil des T-Zell-Rezeptorkomplexes auf T-Lymphozyten. Dadurch verbindet der BiTE-Antikörper die B-ALL-Zelle
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mit einer T-Zelle. Letztere wird aktiviert, beginnt zytotoxische Proteine zu produzieren und zerstört in der Folge die B-ALL-Zelle. Sowohl bei der BCR-ABL-negativen als auch bei der BCR-ABL-positiven B-ALL des Erwachsenen ist die Therapie mit dem bispezifischen Antikörper Blinatumomab ein etablierter Bestandteil der Standardtherapie. In dieser Übersicht werden die heutigen Indikationen und die teilweise bereits absehbaren zukünftigen Anwendungsgebiete ausserhalb der aktuellen Zulassung diskutiert. Blinatumomab (Blincyto®) wurde zunächst bei rezidivierter ALL eingesetzt, später auch bei Persistenz oder Wiederauftreten einer MRD. Neuere Studien untersuchen den Einsatz im Rahmen der Konsolidierungstherapie mit dem Ziel, die Remission zu verbessern und Rückfälle zu verhindern. Auch zum frühen Einsatz von Blinatumomab bei neu diagnostizierter ALL im Rahmen der Induktionstherapie gibt es bereits erste Studien, insbesondere bei älteren Erwachsenen, die eine intensive Chemotherapie schlecht vertragen, aber auch bei BCR-ABL-positiver ALL.
Was bei der Verabreichung zu beachten ist ...
Intravenös verabreicht hat Blinatumomab eine kurze Halbwertszeit von etwas mehr als 1 Stunde. Daher wird es kontinuierlich über 4 Wochen mit einer tragbaren Infusionspumpe verabreicht. Eine Galenik für die subkutane Verabreichung wird derzeit in Studien untersucht (1). Bei einem hämatologischen Vollrezidiv wird zunächst eine niedrigere Dosis von 9 µg Blinatumomab pro 24 Stunden verabreicht. Nach einer Woche Therapie erfolgt eine Dosiserhöhung auf 28 µg pro 24 Stunden. Bei MRD-Positivität und Gabe in MRD-negativer Remission kann die Therapie mit einer Dosis von 28 µg pro 24 Stunden begonnen werden. Zu Beginn der Therapie ist wegen des erhöhten Risikos für ein Tumorlysesyndrom (nur bei Rezidiv oder Erstlinientherapie), ein Zytokinfreisetzungssyndrom (cytokine release syndrome; CRS) und neurologische Nebenwirkungen (immune effector cell-associated neurotoxicity syndrome; ICANS) eine stationäre Überwachung indiziert. Bei Monotherapie mit Blinatumomab folgt nach jedem 4-wöchigen Zyklus eine 2-wöchige Therapiepause. Bei einem ALL-Rezidiv werden zunächst 2 Zyklen zur Remissionsinduktion gegeben, gefolgt von bis zu 3 weiteren Zyklen zur Konsolidierung. Wird der Nachweis einer MRD erbracht, erfolgt 1 Induktionszyklus, gefolgt von bis zu 3 weiteren Zyklen als Konsolidierung. In Kombination mit einer Chemotherapie, z. B . im Rahmen einer Konsolidierung oder Induktion, werden auch andere Verabreichungsschemata verwendet. Blinatumomab besitzt keine ZNS-Gängigkeit. Da ohne zusätzliche Prophylaxe ZNS-Rezidive beobach-
tet wurden, wird in den meisten Protokollen eine zusätzliche intrathekale Chemotherapie empfohlen.
Resistenzentwicklung in einigen Situationen häufiger
Eine Resistenz gegen Blinatumomab wird häufiger bei fortgeschrittener Erkrankung oder hoher Tumorlast zu Therapiebeginn beobachtet. Es gibt Hinweise, dass sie auch bei bestimmten genetischen Subgruppen häufiger auftritt. Für eine Resistenzentwicklung gibt es verschiedene Mechanismen. Die häufigste Ursache ist eine Erschöpfung der T-Zell-Aktivität. Seltener wird ein teilweiser oder vollständiger Verlust oder eine andere Veränderung der Zielstruktur (CD19) auf den Leukämiezellen beobachtet. Im klinischen Alltag bleibt die Ursache bei vielen Patienten offen.
Einsatz von Blinatumomab in verschiedenen klinischen Situationen
Rezidivierte BCR-ABL-negative B-ALL In einer randomisierten Phase-III-Studie wurde eine Therapie mit Blinatumomab mit einer Salvage-Chemotherapie verglichen (2). Unter Blinatumomab kam es häufiger zu einer kompletten Remission (34 vs. 16%, p < 0,01); unter den Patienten mit kompletter Remission war ein höherer Anteil MRD-negativ (76 vs. 48%). Die Therapie mit Blinatumomab ermöglichte zudem häufiger die Durchführung einer allogenen Stammzelltransplantation in Remission. Im Blinatumomab-Arm hatten die Patienten ein längeres Gesamtüberleben (overall survival; OS) mit median 7,7 vs. 4,4 Monaten (p = 0,011) (2). Diese Studie zeigt die oft ungenügende Wirksamkeit konventioneller Chemotherapien bei Rezidiven der B-ALL im Erwachsenenalter. Die Therapie mit dem bispezifischen Antikörper Blinatumomab ist wirksamer, mit mehr Remissionen und besserer Remissionsqualität. In einer gepoolten Analyse mit Langzeit-Follow-up mehrerer Phase-II-Studien beobachtete man bei Patienten mit nachfolgender allogener Stammzelltransplantation ein 3-Jahres-Überleben von 37% bzw. von 18%, wenn keine Stammzelltransplantation durchgeführt wurde oder durchgeführt werden konnte (3). Diese Analyse zeigt, dass bei einem Teil der Patienten mit ALL-Rezidiv eine Krankheitskontrolle durch eine alleinige Therapie mit Blinatumomab erreicht werden kann. Aufgrund des höheren Rezidivrisikos und der geringeren Gesamtüberlebenszeit wird allen geeigneten Patienten anschliessend eine allogene Stammzelltransplantation empfohlen.
BCR-ABL-negative ALL und Nachweis einer MRD Das Vorliegen einer MRD oberhalb eines Schwellenwertes nach Induktion oder Konsolidierung ist bei ALL mit einem deutlich erhöhten Rezidivrisiko assoziiert. Blinatumomab wurde in einer multizentrischen
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Phase-II-Studie bei 116 Patienten mit nachgewiesener MRD in erster Remission (MRD > 10-3) untersucht. Nach einem Zyklus wurde bei 78% der Patienten eine MRD-Negativität beobachtet. Das mediane Gesamtüberleben der gesamten Kohorte betrug 36,5 Monate, wobei das mediane rezidivfreie Überleben und das Gesamtüberleben bei Patienten mit frühem Ansprechen und MRD-Negativität nach dem ersten Zyklus höher war als bei Patienten mit spätem oder fehlendem Ansprechen. Die Mehrheit der Patienten (67%) erhielt anschliessend in Remission eine allogene Stammzelltransplantation. Der Anteil der Patienten mit anhaltender Remission war in einer Posthoc-Analyse nach allogener Stammzelltransplantation höher als ohne (49 vs. 25%) (4). Auch in einem späteren Follow-up mit einer medianen Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren war das Gesamtüberleben nach allogener Stammzelltransplantation höher als ohne (40 vs. 19%). Bei Erreichen einer MRD-Negativität ist jedoch auch ein Langzeitüberleben ohne allogene Stammzelltransplantation möglich (5). Das Erreichen einer MRD-Negativität verbessert die Prognose im Vergleich zu historischen Kontrollen. Aus diesen Daten lässt sich jedoch nicht ableiten, ob bei einer B-ALL in erster Komplettremission mit MRDPositivität nach Gabe von Blinatumomab und frühzeitigem Erreichen einer MRD-Negativität eine allogene Stammzelltransplantation notwendig ist oder nicht.
Konsolidierung bei BCR-ABL-negativer B-ALL In mehreren bisher nur als Abstract publizierten Studien wurde die Gabe von Blinatumomab im Rahmen der Konsolidierungstherapie untersucht. In der GRAALL 2014-Studie (NCT02617004) erhielten 95 Patienten (Alter 18–60 Jahre) mit BCR-ABL-negativer B-ALL und Hochrisikomerkmalen (KMT2A-Rearrangement oder IKZF1-Deletion) und/oder persistierender MRD Blinatumomab als 2. Konsolidierung (6). 74% der Patienten erreichten eine MRD-Negativität. Nach 18 Monaten betrug das Gesamtüberleben 92% und das krankheitsfreie Überleben 79%. In der GIMEMA-Studie LAL2317 (NCT03367299) erhielten 146 Patienten (Alter 18–65 Jahre) 2 Zyklen Blinatumomab zur Konsolidierung (7). Nach dem 1. Zyklus Blinatumomab wurde bei 96% der Patienten eine MRD-Negativität beobachtet. Nach einem Jahr betrug das Gesamtüberleben 84% und das krankheitsfreie Überleben 72%. In der ECOG-ACRIN-Studie E1910 (NCT02003222) wurden 224 Patienten (Alter 30–70 Jahre) mit MRDnegativer Remission nach Induktionschemotherapie in eine Gruppe mit konventioneller konsolidierender Chemotherapie und eine Gruppe mit zusätzlicher Gabe von 4 Zyklen Blinatumomab alternierend mit Chemotherapie randomisiert (8). Die Gruppe mit zusätzlicher Gabe von Blinatumomab zeigte in einer
Interimsanalyse nach einem medianen Follow-up von 43 Monaten ein signifikant besseres medianes Gesamtüberleben (71 Monate vs. nicht erreicht; Hazard Ratio [HR]: 0,42; p = 0,003). Diese Studien zeigen, dass die zusätzliche Gabe von Blinatumomab in der Konsolidierung das Behandlungsergebnis von jüngeren, für intensive Therapien geeigneten, Patienten mit BCR-ABL-negativer B-ALL verbessern könnte.
Erstlinientherapie bei älteren Patienten mit BCR-ABL-negativer ALL Ältere Patienten und Patienten mit relevanten Komorbiditäten sind für intensive Chemotherapien, wie sie bei jüngeren Patienten mit BCR-ABL-negativer B-ALL eingesetzt werden, nicht geeignet. Unter dosisreduzierten Chemotherapien ist die Prognose dieser Patienten ungünstig. Bispezifische Antikörper können jedoch auch bei dieser Patientenpopulation eingesetzt werden. Die Induktion mit dem intensiven Hyper-CVADSchema wurde auf ein anthrazyklinfreies Hyper-MiniCVD-Schema reduziert und mit dem gegen CD22 gerichteten Immuntoxin Inotuzumab ozogamicin (Besponsa®) ergänzt. Zur Konsolidierung wurden 4 Zyklen Blinatumomab gegeben. Im Rahmen der Erhaltungstherapie wurden gemäss POMP-Schema nochmals 4 Zyklen Blinatumomab verabreicht. Von 69 Patienten (medianes Alter 68 Jahre, Range 60–87) erreichten 99% eine komplette Remission, 96% wurden im Verlauf MRD-negativ. Das 5-Jahres-Überleben betrug 47% (9). Die deutsche GMALL-Studiengruppe ergänzte ihr «elderly protocol» um die Gabe von Blinatumomab in der 2. Induktionsphase und als Konsolidierung. Von 50 Patienten (Alter 56–76) erreichten 85% eine komplette Remission, davon 88% ohne nachweisbare MRD. Das Gesamtüberleben nach 1 und 3 Jahren betrug 82 bzw. 65% (10). Die noch laufende randomisierte Golden-Gate-Studie (NCT04994717) vergleicht die Kombination einer niedrig dosierten Chemotherapie mit Blinatumomab mit einer Standardchemotherapie bei älteren Patienten (über 55 Jahre oder mit Komorbiditäten). Zusammenfassend zeigen diese Daten, dass bei älteren Patienten die zusätzliche Gabe von Blinatumomab die Ansprechrate erhöht und das Therapieergebnis im Vergleich zu historischen Kontrollen deutlich zu verbessern scheint. Eine längere Nachbeobachtung und die Bestätigung der Ergebnisse in Phase-III-Studien sind jedoch erforderlich.
Rezidivierte BCR-ABL-positive ALL In einer multizentrischen Phase-II-Studie wurde die Wirksamkeit von Blinatumomab bei rezidivierter oder refraktärer BCR-ABL-positiver ALL untersucht (11). 36% der Patienten (n = 45) erreichten eine Kom-
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plettremission oder eine Komplettremission mit inkompletter hämatologischer Regeneration. Von den Patienten mit Therapieansprechen waren 88% MRDnegativ. 44% der Patienten mit Ansprechen konnten sich anschliessend einer allogenen Stammzelltransplantation unterziehen. Das mittlere Gesamtüberleben betrug 7 Monate, darunter auch Langzeitremissionen. Eine rezidivierte oder refraktäre BCR-ABL-positive ALL hat eine ungünstige Prognose. Eine Therapie mit Blinatumomab kann zu erneuten Remissionen führen, die eine allogene Stammzelltransplantation, eine Therapie mit Spenderlymphozyten oder eine CAR-T-Zell-Therapie als potenziell kurative Optionen ermöglichen.
Erstlinientherapie bei BCR-ABL-positiver ALL Die BCR-ABL-positive ALL tritt häufiger bei älteren Patienten auf. Tyrosinkinase-Inhibitoren allein oder in Kombination mit Steroiden oder einer niedrig dosierten Chemotherapie führen initial meist zu Remissionen, oft mit niedriger, teils nicht mehr nachweisbarer MRD. Um diese Remissionen langfristig zu erhalten, wird bei jüngeren Patienten ohne schwere Komorbiditäten zur Konsolidierung eine allogene Stammzelltransplantation empfohlen. Viele Patienten mit BCRABL-positiver ALL sind aber nicht für eine allogene Stammzelltransplantation geeignet. In der D-ALBA-Studie wurden 63 Patienten (Alter 24–82 Jahre, median 54 Jahre) nach einer initialen Therapie mit Dasatinib (Sprycel® sowie Generika) und Steroiden für bis zu 5 Zyklen mit Blinatumomab behandelt. Dasatinib wurde langfristig fortgeführt. Optional erfolgte eine allogene Stammzelltransplantation. Nach dem 2. Zyklus Blinatumomab war die Zahl der kompletten molekularen Remissionen von 29% nach Dasatinib und Steroiden auf 60% angestiegen. In der ersten Analyse nach einem medianen Follow-up von 18 Monaten lag das Gesamtüberleben bei 95%, das krankheitsfreie Überleben bei 88% (12). In einem Update der Studie mit einem medianen Follow-up von 53 Monaten lag das Gesamtüberleben bei 80,7%, das krankheitsfreie Überleben bei 75,8% (13). Allogene Stammzelltransplantationen wurden vor allem bei Patienten mit persistierender MRD durchgeführt. In einer Phase-II-Studie des MDACC wurde Ponatinib (Iclusig®), ein Tyrosinkinase-Inhibitor mit Wirksamkeit bei T315I-Mutation, in Kombination mit Blinatumomab ähnlich wie in der D-ALBA-Studie eingesetzt. Nach 2 Jahren lagen das Gesamtüberleben und das ereignisfreie Überleben bei 95% (14). Die Gabe eines Tyrosinkinase-Inhibitors der 2. oder 3. Generation gefolgt von Blinatumomab erzielt aussergewöhnlich hohe Ansprechraten bei guter Verträglichkeit. Diese Therapie ist auch bei älteren Patienten und bei Patienten mit Komorbiditäten möglich, die
für intensivere Therapien nicht in Betracht kommen. Das anhaltend gute Ansprechen in der D-ALBA-Studie stellt auch die Indikationsstellung zur allogenen Stammzelltransplantation bei optimalem molekularem Ansprechen infrage.
Therapeutische Alternativen zu Blinatumomab
Im Gegensatz zur Situation beim Multiplen Myelom oder bei malignen B-Zell-Lymphomen wurden bisher keine anderen bispezifischen Antikörper zur Therapie der B-ALL entwickelt. Aufgrund der frühen Daten zur Wirksamkeit von Blinatumomab wäre für eine Zulassung entweder eine randomisierte Phase-III-Studie mit direktem Vergleich zu Blinatumomab, mit einer Kombination mit Blinatumomab oder eine Einschränkung auf den Einsatz nach Versagen von Blinatumomab erforderlich.
Inotuzumab ozogamicin Das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat (AWK) Inotuzumab ozogamicin verbindet das auf praktisch allen B-Zellen exprimierte Oberflächenantigen CD22 mit dem Toxin Calicheamycin. In einer randomisierten Phase-III-Studie wurde bei 326 Patienten mit rezidivierter B-ALL eine Therapie mit Inotuzumab ozogamicin mit einer üblichen Salvage-Chemotherapie verglichen. Erstere führte häufiger zu einer kompletten Remission (80,7 versus 29,4%; p < 0,001). Von den Patienten mit kompletter Remission war ein höherer Anteil MRD-negativ (78,4 versus 28,1%). Die mit dem AWK behandelten Patienten zeigten zudem ein längeres progressionsfreies Überleben (median 5,0 vs. 1,8 Monate; p < 0,001) und ein längeres Gesamtüberleben (median 7,7 vs. 4,4 Monaten; p = 0,03). Die häufigste nicht hämatologische Nebenwirkung der Therapie war eine Hepatotoxizität, wobei 11% der Patienten eine Venenverschlusskrankheit (VOD; Synonym SOS [sinusoidal obstruction syndrome]) aufwiesen (15). Die Ansprechrate von Inotuzumab ozogamicin scheint höher als diejenige von Blinatumomab in einer ähnlichen Studienpopulation (soweit ein Vergleich zwischen unterschiedlichen Studien möglich ist), bei allerdings identischem Gesamtüberleben. Der wesentliche Nachteil des AWK ist das Auftreten einer VOD/SOS, welche eine nachfolgende allogene Stammzelltransplantation erschweren oder sogar unmöglich machen kann. Mit regelmässigen Kontrollen der Leberwerte und ggf. Verschieben weiterer Gaben von Inotuzumab ozogamicin kann das Risiko einer VOD/SOS reduziert werden. Die wöchentliche intravenöse Verabreichung von Inotuzumab ozogamicin ist im Alltag einfacher als diejenige von Blinatumomab mit kontinuierlicher Infusion über eine Infusionspumpe. Ersteres ist für die Therapie der rezidivierten oder refraktären B-ALL zugelassen, jedoch nicht für den Einsatz bei nachweisbarer MRD.
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Im klinischen Alltag hängt die Wahl des Präparats von Patientenfaktoren (Risiko für Hepatopathie) und von der Indikationsstellung für eine allogene Stammzelltransplantation ab. Neuere Studienprotokolle untersuchten auch den sequenziellen Einsatz von Inotuzumab ozogamicin und Blinatumomab.
Car-T-Zell-Therapie Bei rezidivierter oder refraktärer B-ALL ist eine CART-Zell-Therapie (CAR = chimärischer Antigenrezeptor) eine potenziell kurative Therapieoption. Zur Behandlung der ALL sind die gegen CD19 gerichteten CAR-T-Zell-Produkte Tisagenlecleucel (Kymriah®; ≤ 25 Jahre nach allogener Stammzelltransplantation rezidiviert oder nach ≥ 2 Therapielinien) und Brexucaptagen autoleucel (Tecartus®; > 18 Jahre, nach ≥ 2 Therapielinien) zugelassen. Tisagenlecleucel zeigte in einer Phase-II-Studie bei pädiatrischen Patienten und jüngeren Erwachsenen (≤ 25 Jahre) eine hohe Ansprechrate von 81% MRDnegativen kompletten Remissionen (16). Eine Aktualisierung dieser Studie ergab ein medianes ereignisfreies Überleben von 24 Monaten. Nach 3 Jahren lag das ereignisfreie Überleben bei 44% und das Gesamtüberleben bei 63% (17). Brexucaptagen autoleucel wurde ebenfalls in einer Phase-II-Studie untersucht, allerdings bei erwachsenen Patienten (> 18 Jahre, median 40 Jahre). Die Ansprechrate, einschliesslich kompletter Remissionen und kompletter Remissionen mit unvollständiger hämatologischer Regeneration, betrug 71%. Die mediane Remissionsdauer betrug 12,8 Monate und das mediane Gesamtüberleben 18,2 Monate (18). Bei beiden CAR-T-Zell-Therapien wurde bei ALL eine hohe Rate an Nebenwirkungen (CRS, ICANS und Infektionen) beobachtet. Wegen des kurativen Potenzials ist bei geeigneten Patienten mit rezidivierter B-ALL eine Therapie mit CAR-T-Zellen einer Therapie mit bispezifischen Antikörpern vorzuziehen, sofern eine Kostenübernahme gewährleistet ist und die Therapie rechtzeitig zur Verfügung steht.
Zusammenfassung
Die Behandlung mit dem bispezifischen Antikörper Blinatumomab ist eine etablierte Therapie bei Rezidiven einer B-ALL. Sie zeigt auch bei ungenügendem molekularem Ansprechen mit Persistenz einer MRD eine hohe Wirksamkeit mit häufigem Erreichen einer MRD-Negativität. In Zwischenauswertungen von mehreren Studien zur Erstlinientherapie wurde eine Verbesserung des Therapieansprechens bei Gabe im Rahmen der Konsolidierungs- und der Erhaltungstherapie beobachtet. Bei Patienten, welche eine intensive Chemotherapie nicht tolerieren können, führt die Zugabe von Blinatumomab zu einer niedrig dosierten Chemotherapie zu hohen Ansprechraten. Pa-
Merkpunkte
n Bei Rezidiv einer B-ALL ist eine Therapie mit dem bispezifischen Antikörper Blinatumomab einer Standardchemotherapie überlegen.
n Bei BCR-ABL-negativer B-ALL mit Nachweis einer MRD führt die Gabe von Blinatumomab zu teils anhaltenden MRD-negativen Remissionen.
n Studien mit Zugabe von Blinatumomab als Teil der Konsolidierung bei BCR-ABL-negativer B-ALL zeigten sehr gute Ergebnisse.
n Bei älteren Patienten mit BCR-ABL-negativer B-ALL führt eine dosisreduzierte Chemotherapie in Kombination mit Blinatumomab zu einer Verbesserung der Therapieergebnisse im Vergleich zu historischen Kontrollen.
n Bei Patienten mit BCR-ABL-positiver ALL erreicht eine chemotherapiefreie Kombination eines Tyrosinkinase-Inhibitors mit Blinatumomab ein sehr gutes und oft anhaltendes Ansprechen.
tienten mit BCR-ABL-positiver ALL erreichen durch
die Kombination eines Tyrosinkinase-Inhibitors mit
Blinatumomab ein sehr gutes Ansprechen von langer
Dauer – oft ohne Nachweis einer MRD.
n
Dr. med. Michael Gregor Hämatologie, Luzerner Kantonsspital 6000 Luzern 16 E-Mail: michael.gregor@luks.ch
Interessenkonflikte: Honorare für Advisory Boards von AbbVie, Amgen, AstraZeneca, BeiGene, BMS/Celgene, GSK, Incyte, Janssen-Cilag, Menarini-Stemline, Pfizer, Roche, Sanofi and Servier (alle an Institution). Unterstützung von Kongressteilnahmen: AbbVie, BeiGene, Pfizer.
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