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BERICHT
Windpocken und Herpes zoster
Impfungen gegen Varizellenerkrankungen
Wenn sich Kinder mit dem Varicella-zoster-Virus (VZV) infizieren und an Windpocken erkranken, wird das in der Bevölkerung oft als etwas Unangenehmes, aber nicht besonders Gravierendes eingeschätzt. Doch auch bei Windpocken kann es zu schweren Komplikationen kommen. Und: Wer sich mit VZV infiziert hat, kann im Verlauf seines Lebens an Herpes zoster erkranken.
Antikörper gegen VZV finden sich bei etwa 95 Prozent der ≥ 12-Jährigen, und das BAG beziffert die Durchseuchung der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz auf 98 Prozent (1). Das gelte aber nur für Personen, die hierzulande oder in Ländern mit ähnlichen klimatischen Bedingungen aufgewachsen seien, sagte Workshopleiter Dr. med. Daniel Desgrandchamps, Kantonsspital Zug. So gelte diese hohe Durchseuchungsrate nicht für tropische und subtropische Länder: «Bei erwachsenen Personen, die dort aufgewachsen sind, müssen Sie unter Umständen damit rechnen, dass eine Empfindlichkeit für Varizellen besteht.»
Komplikationen bei Windpocken
Man könne davon ausgehen, dass bei 1 bis 2 Prozent der Erkrankten Komplikationen auftreten. Am häufigsten sind dies bakterielle Hautinfektionen, seltener Pneumonie oder Enzephalitis. Während in der Schweiz 1 von 800 an Windpocken erkranktes Kind ins Spital muss, ist es bei den Erwachsenen 1 von 50. Die Mortalitätsrate beträgt bei an Windpocken erkrankten Kindern 1 von 130 000, bei den Erwachsenen 1 von 3100 (2). Die Befürchtung, dass durch eine Impfung der Kinder die Erkrankung häufiger ins Erwachsenenalter verschoben werden und damit die Anzahl der schweren Verläufe steigen
KURZ & BÜNDIG
� Alle Säuglinge sollen im Alter von 9 und 12 Monaten gegen Varizellen (VZV) geimpft werden.
� Die VZV-Nachholimpfung wird für alle ungeimpften Personen < 40 Jahre empfohlen, die sich noch nicht mit VZV infiziert haben.
� Die VZV-Impfung kann zukünftige Generationen auch vor Herpes zoster schützen.
� Die Impfung gegen Herpes zoster mit dem rekombinanten Impfstoff wird für alle Personen ≥ 65 Jahre empfohlen, für Risikogruppen bereits ab 50 oder 18 Jahren.
könnte, hat sich nicht bestätigt. In den USA wurde die VZV-Impfung von Kindern vor mehr als 20 Jahren eingeführt; ein Anstieg der Windpockenfälle bei Erwachsenen wurde bis anhin nicht beobachtet. Ein weiteres Argument für die VZV-Impfung ist die Gefahr für das ungeborene Kind, falls sich eine Schwangere in den ersten 20 Schwangerschaftswochen erstmals mit VZV infiziert. Das kann in bis zu 2 Prozent der Fälle zu einem kongenitalen Varizellensyndrom mit teilweise schweren Organschädigungen beim Neugeborenen führen (3).
Empfohlene Basisimpfung gegen VZV
Seit 2023 wird in der Schweiz die Impfung gegen Varizellen (VZV) als Basisimpfung für Säuglinge empfohlen: 2 Dosen im Alter von 9 und 12 Monaten beziehungsweise mit einem Mindestabstand von 4 Wochen. Bei den VZV-Impfstoffen handelt es sich um eine Lebendimpfung mit attenuierten Viren der Linie OKA. In der Schweiz sind 4 VZV-Impfstoffe ab einem Alter von 9 Monaten zugelassen: die Einzelimpfstoffe Varilix® und Varivax® sowie die MMRV-Kombinationsimpfstoffe Priorix Tetra® und ProQuad®. Eine Nachholimpfung wird bis zum 40. Geburtstag empfohlen, falls man noch keine 2 Impfdosen erhalten oder noch nie Windpocken hatte. Im Gegensatz zu Masern und Mumps sei die Anamnese bei Windpocken sehr sicher. Der Ausschlag sei so typisch, dass man der Aussage «Ich hatte Windpocken» zu 95 Prozent vertrauen dürfe, sagte Desgrandchamps. Auf die Frage, was man tun solle, wenn der Patient angebe, «nur ein, zwei Punkte» Ausschlag gehabt zu haben, empfahl er, trotzdem zu impfen. Bei Gesunden sei es kein Problem, wenn sie trotz einer irgendwann zuvor durchgemachten VZV-Erkrankung zusätzlich mit dem Lebendimpfstoff geimpft würden, weil sie bereits über neutralisierende Antikörper verfügten. Die Impfung wäre bei ihnen somit zwar überflüssig, aber nicht gefährlich.
VZV-Impfung und Fieber bei Säuglingen
Als Lebendimpfstoffe können alle genannten VZV-Impfstoffe etwa 7 bis 10 Tage nach der 1. Dosis bei Säuglingen Fieber und Fieberkrämpfe verursachen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Impfstoffen seien in der Vergan-
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genheit sehr stark hochgespielt worden, sagte Desgrandchamps. In der Tat sei das Risiko für Fieber und Fieberkrämpfe in diesem Zeitraum bei den Kombinationsimpfstoffen zwar etwas erhöht, aber es handele sich keineswegs um ein massives Problem. Er zitierte in diesem Zusammenhang Prof. Ulrich Heininger, Basel, wonach sich die Unterschiede zwischen den Impfstoffen bezüglich der Nebenwirkung Fieber im Säuglingsalter mit einem längeren Beobachtungszeitraum fast wieder ausglichen. MMRV habe in diesem Sinn einen Triggereffekt, würde das absolute Risiko des Kindes für Fieberkrämpfe aber kaum erhöhen (4).
Braucht es immer 2 Impfdosen?
Es kommt vor, dass ein Säugling schon sehr früh, im Alter von 2 bis < 1 2 Monaten, Windpocken hat. Genügt dann später nicht doch nur 1 Impfung? «Nein. Auch diese Kinder sollen 2 Dosen VZV-Impfstoff erhalten», sagte der Workshopleiter. Wenn ein Kind sehr früh an Windpocken erkrankt, wird aufgrund der noch vorhandenen mütterlichen Antikörper und des noch unreifen Immunsystems nur eine ungenügende Teilimmunität entwickelt, die mit einem erhöhten Risiko für eine zweite Windpockenerkrankung oder für Herpes zoster im Kindes- oder frühen Jugendalter einhergeht. Deshalb sind auch bei diesen Kindern 2 Dosen gegen VZV notwendig, die frühe Erkrankung zähle sozusagen nicht, heisst es bei Infovac (5, 6). Komplizierter ist die Antwort auf die Frage, wie es mit den Impfungen weitergehen soll, wenn es zu einer VZV-Reinfektion oder einer frühen Herpes-zoster-Erkrankung kommt. In den aktuellen Impfempfehlungen wird auf diese speziellen Situationen nicht eingegangen, sodass der Workshopleiter empfahl, in diesen Fällen mit Infovac Kontakt aufzunehmen.
Linktipp
www.infovac.ch Die Informationsplattform Infovac informiert zum einen die Öffentlichkeit über alle Fragen rund um das Impfen. Zum anderen steht eine Gruppe von Experten für Anfragen von Ärzten und Apothekern zur Verfügung, um allfällige Fragen zur Impfung innert 24 bis 48 Stunden zu beantworten.
Impfempfehlungen auf einen Blick Einen raschen Überblick über die Schweizer Impfempfehlungen bieten die Merkblätter der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF).
VZV-Impfung = Herpes-zoster-Prävention
Rund jeder Dritte, der sich mit VZV infiziert, wird irgendwann im Verlauf seines Lebens an Gürtelrose erkranken (1). In den USA kam es nach Einführung der 2-fach-Impfung gegen VZV nicht nur zu einem steilen Rückgang der Windpockeninzidenz, sondern auch zu einem starken Rückgang der Herpes-zoster-Erkrankungen bei Jugendlichen. Ausserdem zeigte sich, dass die Herpes-zoster-Rate in den Geburtsjahrgängen 2002 bis 2016 im Gegensatz zu früheren Jahrgängen stagniert und nicht, wie sonst üblich, mit dem Alter ansteigt. «Das heisst, dass wir mit einer primären Varizellenimpfung aller Kinder eine Primärprophylaxe des Zosters betreiben können. Bis sich das auf Populationsebene auswirken wird, braucht es aber 2 Generationen», sagte Desgrandchamps.
Aktuelle Impfempfehlung gegen Herpes zoster
Seit 2 Jahren wird in der Schweiz die Impfung mit dem re-
kombinanten Zosterimpfstoff Shingrix® für alle Personen
≥ 65 Jahre sowie bei Immunsupprimierten mit einem leichten
Risiko und für ≥ 18-Jährige mit einem hohen Risiko als er-
gänzende Impfung empfohlen und von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung bezahlt.
Serologische Tests spielen für die Indikation der Zosterimp-
fung keine Rolle, ebenso ist es nicht relevant, ob zuvor bereits
einmal mit dem alten Lebendimpfstoff geimpft wurde. Die
Impfung ist auch wichtig für Personen, die bereits einmal
einen Herpes zoster hatten, denn das Risiko, nach einer Her-
pes-zoster-Episode eine zweite zu erleiden, beträgt etwa 10
Prozent.
Die Impfung wird in 2 Dosen verabreicht, in einem Abstand
von 2 bis 6 Monaten. Für welche Risikopatienten diese Imp-
fung bereits ab 50 oder 18 Jahren empfohlen wird, kann man
dem «Factsheet für Risikopatienten» der Eidgenössischen
Kommission für Impffragen (EKIF) entnehmen (s. Linktipp).
Es sei wichtig, vor der Impfung über die zu erwartenden
Impfreaktionen zu informieren und zu erläutern, dass auf
jeden Fall, auch nach einer stärkeren Reaktion, eine 2. Dosis
des Impfstoffs notwendig ist. Der Impfschutz hält nach dem
heutigen Stand des Wissens mindestens 10 Jahre lang an und
beträgt dann noch etwa 70 bis 75 Prozent. Wie zu erwarten,
sinken mit der Zeit die Antikörpertiter, die zelluläre Immuni-
tät besteht jedoch weiter (7).
s
Renate Bonifer
Dr. med. Daniel Desgrandchamps und Dr. med. Pierre-Alex Crisinel: Workshop «Varizellen- und Herpes-zoster-Impfungen – Umsetzung im Praxisalltag!», XII. Schweizer Impfkongress in Basel, 9. November 2013.
Factsheet Impfplan (ohne Risikopatienten) https://www.rosenfluh.ch/qr/ekif-factsheet
Factsheet Impfplan zu Risikopatienten https://www.rosenfluh.ch/qr/ekif-factsheet-risiko
Literatur: 1. www.bag.admin.ch > Krankheiten A bis Z > Windpocken und Gürtelrose;
abgerufen am 7.1.2024. 2. BAG-Bulletin. 2004;45:846-848. 3. BAG-Bulletin. 2022;44:10-16. 4. Heininger U: Varizellenimpfung in der Praxis. Zehn wichtige Fragen und
Antworten. ARS MEDICI. 2023;1+2:34-38. 5. InfoVac-Bulletin Nr. 3, 2023. 6. InfoVac-Bulletin Nr. 11-12, 2022. 7. Strezova A et al.: Long-term Protection Against Herpes Zoster by the
Adjuvanted Recombinant Zoster Vaccine: Interim Efficacy, Immunogenicity, and Safety Results up to 10 Years After Initial Vaccination. Open Forum Infect Dis. 2022;9(10):ofac485.
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