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Titel
Onkologie – Ein Tsunami in der Onkologie – einige grosse Wellen zu erwarten
Untertitel
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
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Rubrik
Rückblick 2023 / Ausblick 2024
Artikel-ID
77097
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RÜCKBLICK 2023 / AUSBLICK 2024

Onkologie
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
Ein Tsunami in der Onkologie – einige grosse Wellen zu erwarten
Welche Entwicklungen in Ihrem Fachgebiet fanden Sie 2023 besonders spannend?
Im vergangenen Jahr ärgerte es mich, dass man uns immer mehr in den alltäglichen Sprachgebrauch reinredet. Wörter, die für mich keine negative Bedeutung hatten, werden plötzlich verboten. Eine 15-Jährige erklärte mir, dass in unserer Gesellschaft jedes Wort eine Konnotation hat und das Wort, falls diese sehr schlecht wird, nicht mehr gebraucht werden sollte. Ich denke, da hat sie recht. So einen Konnotationswechsel gab es 2023 nun auch in der Onkologie. Allerdings ging es hier in die andere Richtung. Die meisten von uns werden sich noch gut an den 26.12.2004 erinnern: Ein Tsunami hat Tausende von Menschen das Leben gekostet. Nie hätte ich gedacht, dass man 20 Jahre später einem Tsunami etwas Positives abgewinnen kann. Und im Jahr 2023 erzählt man uns an den grossen Kongressen, dass ein Tsunami auf uns zukomme, auf den wir uns freuen dürften. Gemeint sind die Antibody-Drug-Konjugate (ADC), mit denen wir immer häufiger Erfolge feiern dürfen. ADC gibt es schon seit vielen Jahren, sie waren aber begrenzte Wellen wie das Brentuximab Vedotin (Adcetris®) bei den CD30-positiven Lymphomen oder das Trastuzumab Emtansin (Kadcyla®) bei den HER2-positiven Mammakarzinomen. Diese Konstrukte erinnern an ein trojanisches Pferd. Man nimmt einen Antikörper, der an eine Eigenheit (Antigen) der Tumorzelle bindet, und hängt an diesen Antiköper mithilfe des sogenannten Linkers die Waffe (Payload) an, welche die Zelle vernichten soll. Dieser bewaffnete Antikörper wird nun von der Zelle verschluckt oder, etwas wissenschaftlicher gesagt, internalisiert. Die Waffe ist ein Zytostatikum, das in der Tumorzelle vom Antikörperlinker wegfallen muss, um die Zelle zu töten. Eigentlich logisch, dass diese ADC ein grosses Verbesserungspotenzial hatten. Man kann neue oder geeignetere Tumorantigene finden. Man kann über den Linker mehr Payloads anhängen. Man kann auch die Anbindung der Waffe an den Linker verbessern. Diese sollte idealerweise erst in der Tumorzelle abfallen. 2023 wurden nun in der Tat viele Daten zu ADC publiziert. Die Erfolgsgeschichte des Trastuzumab Deruxtecan (Enhertu®) ging weiter. Dieses ADC gegen HER2, das seinen Anfang beim HER2-positiven Mammakarzinom nahm, ist nun auch eine erwiesenermassen gute Therapie bei anderen Tumorentitäten wie dem HER2-mutierten Bronchus-

oder Magenkarzinom. Das ADC Enfortumab Vedotin (Padcev®), welches als Antigen an Nectin-4 bindet, hat es am ESMO 2023 in Kombination mit Pembrolizumab (Immuntherapie; Keytruda®) in die Erstlinienbehandlung des metastasierten Urothelkarzinoms geschafft. Die dort vorgestellte sehr grosse Studie randomisierte diese Kombination gegen den bisherigen Standard, nämlich eine Chemotherapie mit Platin plus Gemcitabin. Sowohl das progressionsfreie Überleben als auch das Gesamtüberleben haben sich verdoppelt. Ein so beeindruckender Gewinn hat Seltenheitswert. Ein medianes Überleben von 31,5 Monaten mit der neuen Therapie im Vergleich zu 16,1 Monaten mit der klassischen Chemotherapie – das war so gewaltig, dass der Präsentator eine Standing Ovation bekam. Und war es das? Nein, wohl kaum. Der Tsunami ist nämlich derzeit auch eine Wetterprognose. Es sind so viele ADC in der Pipeline, dass wir in den kommenden Jahren hier sicher noch einige grosse Wellen erwarten dürfen.
Und was sollte sonst noch erwähnt werden?
Natürlich ging auch die Weiterentwicklung der Immuntherapien ungebremst weiter. Es gibt viele Beispiele, bei denen die Behandlungen durch Aktivieren des Immunsystem über den PD-1- oder CTLA-4-Pathway optimiert werden können. An dieser Stelle möchte ich die Therapie des nicht kleinzelligen Bronchuskarzinoms erwähnen. Hier rutschten diese Medikamente quasi in die Frontline. Inzwischen haben wir mehrere randomisierte Studien, welche den Einsatz dieser Medikamente, zumeist in Kombination mit einer Chemotherapie, vor einer Tumorresektion (neoadjuvant) mehr als nur rechtfertigen. Man darf nach den heutigen Erkenntnissen davon ausgehen, dass wir die Heilungschancen der Patienten dadurch deutlich verbessern können. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass wir auch beim gezielten Angehen von Mutationen mit dafür designten Molekülen immer wieder Fortschritte sehen. Exemplarisch sei hier die an der Plenary Session des ASCO 2023 vorgestellte Firstline-Behandlung der IDH-mutierten Low-grade-Gliome mit Vorasidenib erwähnt. Vorasidenib hemmt das bei den meisten Low-grade-Gliomen mutierte IDH. Mit diesem 1-mal täglich peroral einzunehmenden Medikament, was für die meisten Patienten sehr gut machbar war, konnte man die Progressionsfreiheit von 11,1 auf 27,7 Monate verlängern. Man konnte berechnen, dass nach 2 Jahren nur 17 Prozent der behandelten Patienten eine neue Therapie brauchten, im Gegensatz zu 53 Prozent der nicht behandelten Patienten. Es wird dem Leser sicher klar, dass ich mich über den Fortschritt in meinem Fach sehr freue. Niemals möchte ich zurück in die düstere Zeit anfangs der 90er-Jahre, als ich mit Onkologie begann und wir etwa 30 Medikamente zur Verfügung hatten. Das gilt auch für die diagnostischen Möglichkeiten. Wie wenig Gutes konnten wir damals bieten. Nur selten Erfolg, aber zahlreiche Nebenwirkungen. Heute müssen wir viel genauere Diagnosen stellen, unsere Patienten leben um Jahre länger, und wir haben bald für jeden Tumor mehrere wirksame Therapien. Logischerweise hat dieser Fortschritt aber

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auch seinen Preis. In der heutigen Diskussion über die Kosten

im Gesundheitswesen trägt man diesem Umstand zu wenig

Rechnung. Wir Ärzte, egal in welchem Fach wir tätig sind,

möchten natürlich das Beste für unsere Patienten. Das will

auch ein bis anhin Gesunder, wenn er das Pech hat, krank zu

werden. Die Hoffnung bleibt, dass unsere Gesellschaft bereit

ist, auch in Zukunft jedem Kranken den Fortschritt in der

Medizin zu ermöglichen.

Und was würde Walti meinen: Die Krebstherapien sind sehr

gut, aber noch besser ist’s, sie nicht zu brauchen. 

s

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