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ENTERALE UND PARENTERALE ERNÄHR UNG
Mangelernährung in der Geriatrie
Ernährungsbedürfnisse und Ernährungsinterventionen im Alter
Dorothee Volkert
Ältere Menschen sind besonders gefährdet, unter Mangelernährung zu leiden. Dafür sind nicht nur Krankheiten, Behinderungen oder Vereinsamung verantwortlich, sondern auch «normale» altersbedingte physiologische Veränderungen, die Mangelernährung und Dehydratation begünstigen. Mangelernährung ist also multifaktoriell bedingt. Wie Altern die Ernährungsweise beeinflusst, warum es wichtig ist, Ernährungsprobleme frühzeitig zu erkennen, und welche ernährungstherapeutischen Massnahmen zur Behandlung der Mangelernährung zum Einsatz kommen, erklärt Frau Professor Dr. rer. nat. Dorothee Volkert, Inhaberin der Theo-und-Friedl-Schöller-Stiftungs-Professur für Klinische Ernährung im Alter an der Universität Erlangen-Nürnberg, in einem Gespräch mit der SZE.
SZE: Mangelernährung, nachfolgender Muskelabbau und eine daraus unweigerlich resultierende Gebrechlichkeit sind eine unheilvolle Trias, von der ein grosser Prozentsatz älterer Menschen betroffen ist. Sie ist mit einem hohen Risiko für körperliche Behinderungen, Krankheiten und Stürze sowie dem Verlust der Unabhängigkeit und Lebensqualität verbunden. Welchen Einfluss hat das Lebensalter auf den Ernährungszustand älterer Menschen? Professor Dorothee Volkert (DV): Es gibt eine ganze Reihe altersbedingter Veränderungen, die den Ernährungsbedarf beeinflussen und Ursache für eine unzureichende Nährstoffversorgung sein können. Von besonderer Bedeutung ist die veränderte Regulation der Nahrungsaufnahme, die mit einer Abnahme des Appetitempfindens und einem frühzeitigen Sättigungsgefühl einhergeht und als Altersanorexie bezeichnet wird. Gleichzeitig lassen auch Geschmacks- und Geruchsempfinden sowie das Durstempfinden nach, was sich unmittelbar auf die Ess- und Trinkmenge auswirkt. Dazu kommt, dass ältere Menschen nur schwer in der Lage sind, ein vorübergehendes, beispielsweise durch Krankheiten bedingtes Nahrungsdefizit durch erhöhte
Essmengen anschliessend wieder auszugleichen, sodass es sehr viel rascher zu einer Abnahme des Körpergewichts kommt, die sich oft nicht kompensieren lässt. Eine weitere bedeutsame Veränderung entwickelt sich mit zunehmendem Alter auch im Bereich der Körperzusammensetzung: Hier kommt es zu einer Zunahme des Körperfettanteils und einer Abnahme der Muskelmasse. Das Körperfett verlagert sich dabei zunehmend von der Peripherie in die Körpermitte, während die Skelettmuskulatur – ohne regelmässige Bewegung – sukzessive atrophiert (Sarkopenie). Dadurch gehen Kraft und Mobilität verloren, die Gebrechlichkeit, mit allen damit verbundenen Risiken, nimmt dagegen zu. Dieser Wandel wirkt sich wiederum auf den Stoffwechsel aus, denn die geringere Muskelmasse führt zu einem sinkenden Energiebedarf; gleichzeitig können dem Stoffwechsel weniger freie Aminosäuren zur Verfügung gestellt werden, um krankheitsoder verletzungsbedingte metabolische Stresssituationen zu bewältigen.
Die Fähigkeit zur Muskelproteinsynthese ist ja im Alter nach wie vor erhalten, sodass Eiweisse auch ausreichend resorbiert werden müssten. Könnte man einem
verringerten Aminosäurereservoir nicht mit einer höheren Proteinzufuhr gegensteuern? DV: Inwieweit der Proteinbedarf bei älteren Menschen tatsächlich erhöht ist, und welche Mengen pro Tag aufgenommen werden müssen, um die Muskelmasse optimal zu erhalten, wird in Fachkreisen zurzeit diskutiert. Vermutlich reicht die derzeit empfohlene Proteinzufuhr von 0,8 g/kg Körpergewicht pro Tag nicht aus, um den Muskelstoffwechsel optimal anzuregen. Derzeit ist man daher eher grosszügig und empfiehlt älteren Menschen, lieber etwas mehr Proteine aufzunehmen (0,9–1,1 g/kg Körpergewicht) als zu wenig, es sei denn, es handelt sich um nierenkranke Patienten.
Es ist bekannt, dass Alterungsprozesse auch mit Veränderungen im Gastrointestinaltrakt einhergehen – kommt es dadurch nicht auch zu Beeinträchtigungen der Nährstoffresorption? DV: Den grössten Einfluss haben hier Veränderungen im Bereich des Magens. Bedingt durch eine verlangsamte Zellerneuerung in der Magenmukosa besteht ein erhöhtes Risiko für Atrophien (atrophische Gastritis), Ulzera und Funktionseinschränkungen, die oft mit einer Ver-
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ringerung der Magensäuresekretion einhergehen. Dies kann sich negativ auf die Bioverfügbarkeit von Kalzium, Eisen und Vitamin B12 auswirken. Gegebenenfalls kann hier eine Substitution sinnvoll sein, diese wird jedoch nicht generell empfohlen, sondern sollte im Einzelfall bei Bedarf gezielt erfolgen. Trotz verlangsamter Darmmotilität und einer geringeren Ausschüttung von Verdauungsenzymen bleiben jedoch die Verdauung der Nahrung sowie die Resorptionsfähigkeit der Nährstoffe bei gesunden älteren Menschen weitgehend erhalten.
Also sind es die Altersanorexie und die veränderte Körperzusammensetzung mit den nachfolgenden Konsequenzen, die das Auftreten einer Mangelernährung begünstigen. Welche Anzeichen sprechen dafür, dass sich eine Mangelernährung anbahnt oder möglicherweise bereits besteht? DV: Die Gefahr einer Mangelernährung besteht immer dann, wenn Auffälligkeiten beim Appetit beobachtet werden und deutlich weniger als üblich gegessen wird. Ein sicheres Warnsignal ist der Gewichtsverlust. Neben den bereits genannten Altersveränderungen, die früher oder später unausweichlich sind, gibt es eine Reihe beeinflussbarer Risikofaktoren, die eine Mangelernährung zusätzlich begünstigen oder fördern. Dazu gehören psychische Erkrankungen wie Depressionen, die Vereinsamung im Alter und alle akuten oder chronischen Erkrankungen, die meist einen erheblichen negativen Einfluss auf das Ernährungsverhalten haben. Es muss nicht gleich eine Multimorbidität sein – aber bei jeder Krankheitssituation im Alter muss mit einem Gewichtsverlust gerechnet werden, der später nur schwer wieder aufgeholt werden kann. Um hier gegenzusteuern, sind erhöhte Aufmerksamkeit und entsprechende Unterstützung im familiären, persönlichen Umfeld, aber auch in der Spitalpflege erforderlich beziehungsweise eine gewisse Eigenverantwortung der/des Betroffenen, falls noch möglich. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass eine Mangelernährung früher oder später alle Organfunktionen und damit den allgemeinen Gesundheitszustand beeinträch-
tigt. Sie erhöht die Krankheitsanfälligkeit, die Infektions- und Komplikationsrate, verlängert die Dauer des Spitalaufenthaltes und steigert das Mortalitätsrisiko.
Es erstaunt nicht, dass der Ernährungszustand einen enormen Einfluss auf die Prognose hat. Durch welche Massnahmen lässt sich die Ernährungsversorgung bei geriatrischen Patienten sichern, bezie-
hungsweise wann sind Ernährungsinterventionen indiziert? DV: Prinzipiell ist es das Beste, im Alter auf eine abwechslungsreiche – falls erforderlich auch konsistenzangepasste – Ernährung zu achten, damit ist häufig eine ausreichende, umfassende Nährstoffversorgung gegeben. Wenn es jedoch Probleme mit der Essmenge gibt, kommt es früher oder später zu einer Unterversor-
Kasten 1: Leitliniengerechter Einsatz von Trinknahrung in der Geriatrie
• für ältere Menschen mit Mangelernährung oder Risiko für Mangelernährung als Teil einer umfassenden, individuellen Ernährungsversorgung, wenn die Nahrungsaufnahme durch übliche und angereicherte Lebensmittel nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken (KKP)
• für ältere Menschen mit Risiko für Mangelernährung zur Erhöhung der Energie- und Nährstoffzufuhr, Erhaltung des Ernährungszustands und Reduktion des Komplikationsrisikos (A)
• für ältere Menschen mit Mangelernährung zur Erhöhung der Energie- und Nährstoffzufuhr, Verbesserung des Ernährungszustands und Reduktion des Komplikations- und Mortalitätsrisikos (A)
• für gebrechliche Ältere zum Erhalt oder zur Verbesserung des Ernährungszustands (A) • für geriatrische Patienten mit leicht- oder mittelgradiger Dysphagie, bei denen die orale Ernäh-
rung noch möglich, aber unzureichend ist, nach Abklärung der Dysphagie in der als sicher evaluierten Konsistenz, um eine bestmögliche orale Zufuhr von Energie- und Nährstoffen einschliesslich Flüssigkeit zu gewährleisten (B) • nach Hüftfrakturen/orthopädisch-chirurgischen Eingriffen als Teil eines individuellen, multidisziplinären Gesamtbehandlungskonzeptes zur Verringerung des Komplikationsrisikos (A) • in frühen und mittleren Demenzstadien zur Sicherung der Nährstoffzufuhr und Vermeidung von Mangelernährung (C) • zur Verringerung des Dekubitusrisikos (A) und Unterstützung der Heilung (C)
(Volkert et al. 2013)
Kasten 2: Leitliniengerechter Einsatz von Sondenernährung in der Geriatrie
• wenn die orale Nahrungsaufnahme voraussichtlich länger als 3 Tage unmöglich oder länger als 10 Tage unzureichend (< 50% des Bedarfs) und die Verlaufsprognose insgesamt positiv ist (nicht in terminalen Krankheitsstadien) nach individueller Abwägung von erwartetem Nutzen und potenziellen Risiken, um die Energie- und Nährstoffzufuhr zu gewährleisten und den Ernährungszustand zu erhalten oder zu verbessern (KKP)
• für geriatrische Patienten mit schwerer oropharyngealer Dysphagie, die nicht in der Lage sind, ihren Nährstoffbedarf auf oralem Weg zu decken, wenn die allgemeine Verlaufsprognose positiv ist (B)
• für Patienten mit Demenz in frühen und mittleren Krankheitsstadien gelegentlich und überwiegend für eine begrenzte Zeit, wenn andere nicht invasive Massnahmen nicht ausreichen oder nicht angemessen sind, um eine Akutsituation mit geringer Nahrungsaufnahme oder hohem Bedarf zu überwinden (C)
• bei Depression in einem individuellen Entscheidungsprozess unter Berücksichtigung des Patientenwillens und der Schwere der Mangelernährung (KKP)
• zur Unterstützung der Dekubitusheilung (C)
(Volkert et al. 2013)
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gung mit Nährstoffen, mit der Gefahr einer manifesten Mangelernährung. Hier sollte immer eine Ernährungstherapie erfolgen, wobei neben diätetischen Massnahmen auch die zusätzliche Gabe von Trinknahrungen indiziert sein kann. So ist zum Beispiel bei einer bestehenden Mangelernährung mit Gewichtsverlust und niedrigem BMI eine intensivere Ernährungstherapie mit Einsatz von Trinknahrungen notwendig, damit überhaupt die Chance einer Gewichtszunahme besteht. Trinknahrungen leisten einen guten Beitrag zur Nährstoffversorgung und sind in der Lage, den Ernährungszustand und auch den Krankheitsverlauf zu verbessern. Bei vorliegenden Schluckstörungen nach Schlaganfall oder wenn die orale Ernährung nur unzureichende Erfolge erzielt, kann auch eine Sondenernährung notwendig werden, um der Entwicklung eines schlechten Ernährungszustandes vorzubeugen. In selteneren Fällen kann auch eine parenterale Ernährung zum Einsatz kommen. Der Einsatz von Sonden- und parenteraler Ernährung muss jedoch in jedem Einzelfall unter Betrachtung des voraussichtlichen Nutzens und der möglichen Risiken sorgfältig abgewogen werden.
Vorher wird sicher noch der individuelle Bedarf bestimmt? DV: Ja, es ist wichtig, vor Einleitung einer Ernährungstherapie den Ernährungszustand genau zu erfassen, denn Art und Ausmass einer Intervention hängen von der jeweiligen Ausprägung der Mangelernährung ab. Dabei orientiert man sich an gewissen Faustregeln, die zum Beispiel für den Energiebedarf bei 30 kcal/kg Körpergewicht oder 1 g Eiweiss pro kg Körpergewicht liegen. Neben einer körperlichen Untersuchung und der Suche nach klinischen Mangelsymptomen wird immer ein regelmässiges Ernährungsscreening, zum Beispiel mithilfe des Mini Nutritional Assessment (MNA), durchgeführt, wo Angaben wie zum Beispiel Gewichtsverlust, BMI, Appetit, erhöhter Bedarf durch Krankheit sowie Mobilität und Demenz einfliessen. Bei Verdacht auf bestehende Nährstoffdefizite sollten sich Blutanalysen anschliessen. An den Ergebnissen orientiert sich die Art der Ernäh-
rungstherapie, die zum Einsatz kommt. In jedem Fall müssen die zugrunde liegenden Ursachen der Mangelernährung gesucht und so weit wie möglich beseitigt werden – seien es Kaustörungen, Depressionen oder Einsamkeit. Dies ist ein integraler Teil einer erfolgreichen Ernährungstherapie bei älteren Menschen.
Gibt es Situationen, die bei alten Menschen eine parenterale Ernährung erfordern? DV: Die parenterale Ernährung ist bei alten Menschen grundsätzlich auch eine mögliche Ernährungsintervention, allerdings wird sie – verglichen mit der oralen oder enteralen Sondenernährung – wesentlich seltener eingesetzt. Sie ist nur in besonderen Situationen gerechtfertigt, wenn die anderen Massnahmen keine bedarfsgerechte Ernährung erlauben, insbesondere zur Überbrückung vorübergehender Phasen geringer oraler Zufuhrmengen, zum Beispiel bei akuten Erkrankungen mit erhöhtem Energie- und Nährstoffbedarf. Gemäss den aktuellen DGEM-Leitlinien wird eine parenterale Ernährung bei älteren Menschen dann empfohlen, «wenn eine orale und/oder enterale Ernährung voraussichtlich länger als 3 Tage unmöglich oder länger als
10 Tage unzureichend sind und die Verlaufsprognose positiv ist» (2). Generell gilt, dass jede Behandlung einer Mangelernährung auf die medizinischen Besonderheiten und die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des alten Menschen zugeschnitten sein und eine umfassende Nährstoffversorgung gewährleisten muss.
Besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Claudia Reinke
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dorothee Volkert Theo-und-Friedl-Schöller-Stiftungs-Professur für Klinische Ernährung im Alter Institut für Biomedizin des Alterns Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Kobergerstrasse 60 D-90408 Nürnberg E-Mail: dorothee.volkert@fau.de
Weiterführende Literatur: 1. Volkert D, Sieber CC. Mangelernährung in der Geriatrie. Aktuel Ernährungsmed 2011; 36: 175–190. 2. Volkert D, Bauer JM, Frühwald T et al. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG: Klinische Ernährung in der Geriatrie. Aktuel Ernährungsmed 2013; 38: 164–185. 3. Sobotka L, Schneider SM, Berner YN et al. ESPEN Guidelines on Parenteral Nutrition: geriatrics. Clin Nutr 2009 Aug; 28 (4): 461–466.
Kasten 3: Leitliniengerechter Einsatz von parenteraler Ernährung in der Geriatrie
• wenn orale und/oder enterale Ernährung voraussichtlich länger als 3 Tage unmöglich oder länger als 10 Tage unzureichend sind und die Verlaufsprognose insgesamt positiv ist (nicht in terminalen Krankheitsstadien) (KKP)
• für eine begrenzte Zeit, um kritische Situationen mit geringer Zufuhr und/oder hohem Bedarf zu überwinden, wenn orale und/oder enterale Ernährung nicht möglich oder unzureichend sind (B)
• bei geriatrischen Patienten mit Hüftfraktur und orthopädischer Operation perioperativ periphervenös in Kombination mit postoperativer Trinknahrung, um das Komplikations- und Mortalitätsrisiko zu reduzieren (B)
• für Patienten mit Demenz in frühen und mittleren Krankheitsstadien gelegentlich und überwiegend für eine begrenzte Zeit, wenn andere nicht invasive Massnahmen nicht ausreichen oder nicht angemessen sind, um eine Akutsituation mit geringer Nahrungsaufnahme oder hohem Bedarf zu überwinden (C)
• Die Osmolarität peripherer parenteraler Nährlösungen sollte nicht mehr als 850 mOsmol/l betragen. (B)
• Der subkutane Weg ist zur Flüssigkeitsgabe möglich, um eine leichte bis mittlere Dehydrierung auszugleichen, jedoch nicht, um den Bedarf an anderen Nährstoffen zu decken, und nicht in Notfallsituationen und bei Notwendigkeit strenger Bilanzierung. (A)
(Sobotka et al. 2009; Volkert et al. 2013)
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