Transkript
AUTOMATISIERUNG UND KI
Was wurde gegessen, was blieb übrig?
Der Foodscanner – automatisiertes Tellerprotokoll
Tobias Meyer
Eine halbe Million über 70-jährige Personen verbrachten 2021 etwa 4,7 Millionen Tage in einem Spital (1). Drei Mal täglich wurde ihnen eine Mahlzeit serviert. Ob und wie viel davon gegessen wurde, weiss niemand. Mit Technologien wie dem Foodscanner wird es möglich, diese Frage zu beantworten.
Die Frage, ob ein Patient im Spital seine Nahrung zu sich genommen hat, ist aus unterschiedlichen Grün den wichtig. Aus medizinischen und sozialen Grün den für den Patienten und aus ökonomischer Sicht für das Spital zur Vermeidung von Foodwaste. Bis die Idee umgesetzt werden konnte, die Nahrungsaufnahme der Patienten durch einen automatisierten Ablauf messbar zu machen, waren viele Hindernisse zu be wältigen. Aus medizinischer Sicht interessiert die Frage, weil sich bei Personen mit einem Risiko für Mangelernäh rung klinische Parameter durch Screening und indi viduelle Ernährungstherapie verbessern lassen (2). Ein sozialer Nutzen liegt in der Beurteilung der Pati enten, ob ihnen das gelieferte Essen geschmeckt und ob es sie gesättigt hat. Diese Information gehört zu den am häufigsten rückgemeldeten Themen des Be schwerdemanagements. Das Essen kann einen kulina rischer Höhepunkt in der Langeweile des Spitalalltags darstellen oder ausgeprägten Ärger verursachen. Ökonomisch und ökologisch schliesslich wird die Frage im Kontext der Reduktion von Nahrungsabfäl len eines Spitals oder Pflegeheims immer wichtiger, Stichwort «Foodwaste». Die Universitäre Altersmedizin Felix Platter (UAFP) in Basel betreut etwa 6500 stationäre altersmedi zinische Patienten mit einem Durchschnittsalter von 84 Jahren, welche zwischen einer und drei Wochen täglich drei Mal verpflegt werden. Das Risiko einer Malnutrition wird bei jedem Eintritt mittels Nutritio nal Risk Screening (NRS) (3) erhoben. Bei einem grossen Teil der Patienten besteht eine kognitive oder motorische Funktionseinschränkung, welche die Nahrungsaufnahme erschweren. Bisher wurde das Screening bei einem NRS von grösser 3 Punkten drei Tage lang mit einer pflegerischen Beobachtung ergänzt. Die verzehrte Nahrungsmenge wurde in 25-Prozent-Stufen geschätzt. Die Idee, die aufwän dige, ungenaue und punktuelle Beobachtung mit einem «Foodscanner» zu unterstützen, entstand 2016. Die Abbildung 1 zeigt eine erste Ideenskizze.
Nach der Evaluation der Machbarkeit eines «Food scanner»-Prototyps wurde die Idee aufgrund der ho hen Investitionskosten verworfen und erst 2019 mit dem Industriepartner SNAQ (4) wieder aufgenom men. Den Betreibern der App, welche mittels Fotos die Zusammensetzung der Makronährstoffe (Kohlen hydrate) erkennen kann, schien die Ergänzung ihres Algorithmus sinnvoll, um damit beispielsweise auch halb ausgegessene Teller berechnen zu können.
Die Architektur des Foodscanners
Die vollständige Architektur des initial skizzierten Foodscanners sah vor, eine Kamera am Ende des Ser vicebandes und beim Rücklauf vor der Abwasch strasse einzurichten. Erstere würde das Bild des an gerichteten Tellers mit dem Tablett und dem Patienten zusammenführen, beim Rücklauf würde die Kamera ein Bild des leer gegessenen Tellers aufnehmen und erneut das Tablett erkennen. Damit liesse sich die Dif ferenz in Volumen und Essenskomponenten pro Mahlzeit berechnen. Präzisieren liesse sich die Erken nung der Lebensmittel durch die Rezeptur und die Angaben des Essensbestellsystems. Die Daten sollten
Abbildung 1: Ideenskizze Foodscanner. ©Tobias Meyer 2016
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Abbildung 2: Architektur bei Vollausbau des Foodscanners. (Skizze Nutrai, vormals earlybyte)
dem klinischen Team, der Küche und später den For schenden zur Verfügung gestellt werden. Das erste Ziel war die Prüfung des «SNAQ-Algothyth mus» auf Modellessen an einigen hundert Bildern und geprüft durch eine Ernährungstherapeutin. Ernüch ternde Resultate, erhoben im Rahmen dieser Master arbeit (5) führten zum Abbruch der Zusammenarbeit. Der strategische Fokus des Industriepartners stand in einem Missverhältnis zum Aufwand, der für die Ziele des Foodscanners notwendig gewesen wären. Mit «Nutrai» (6) konnte ein Partner gefunden werden, welcher bereit war, das Vorprojekt weiterzuführen. Die nächsten Schritte waren die Automatisierung der Bildauslösung, die Evaluation der Kamera, der IT-Schnittstellen und der Definition der Tabletts (Abbildung 2). Diese technische Phase fand im Rahmen der Weiterbildung eines internen Mitarbeitenden der UAFP statt (7). Parallel zur Entwicklung der UAFP publizierte eine Forschungsgruppe der Uni Bern um Stavroula Mougiakakou (8) erste detaillierte Erkennt nisse ihres Algorithmus und «Blunergy», ein Startup der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in Lausanne, hatte in Zusammenarbeit mit der CHUV eine praktisch baugleiche Architektur inklusive Pa tentschutz entworfen und befand sich bereits in der Umsetzung. Nach Klärung der Fragen rund um den Patentschutz und angesichts der Konkurrenz wurde entschieden, den weiteren Fokus auf die Automatisierung des Tel lerprotokolls zu legen und in Prozent anzugeben, wie viel Volumen jeder Patient pro Mahlzeit von seinem Teller verzehrt hat. Das Projekt wurde schrittweise, möglichst ressourcenschonend vorangetrieben. Der Beweis, dass der Algorithmus auf 15 Prozent genau die Essensreste des Rücklaufs erkennt, erlaubte uns, den Vollbetrieb in Angriff zu nehmen.
Prozesse, Kommunikation, Schulung
Bisher waren seitens des Spitals das Management, die ärztliche Direktion, die Küche, die Ernährungsthera pie, die IT, der technische Dienst und das Marketing in das Projekt involviert. Nun wurde auf einer Station getestet, wie die Prozesse angepasst werden sollten
Abbildung 3: Bild Logo und Piktogramme Esswagen. (Stand 24.09.23)
und wie die Hotellerie-und Pflegemitarbeitenden ge schult werden müssen. Das zunehmende Interesse und interne Kommunikation erforderten ein Logo oder Piktogramme für die Esswagen (Abbildung 3). Nach dem erfolgreichen Roll-out in der Pilot-Station konnten die bisherigen Tabletts durch solche mit Bar code ersetzt werden. Das klinische Dashboard wurde als Webapplikation in das Klinikinformationssystem integriert. Der Foodscanner konnte im April 2023 in Betrieb genommen werden und liefert seither täglich Bilder (Abbildung 4).
Was kann der Foodscanner heute?
Die Information des Dashboards besteht aus zwei In halten 1. die Prozentuale Angabe der gegessenen Mahlzeit
(Frühstück, Mittag, Abendessen). 2. die tatsächlichen Bilder pro Mahlzeit (vorher/
nachher). Die Kombination der originalen Bilder vor und nach dem Essen, zusammen mit dem errechneten prozen tualen Anteil der Verzehrmenge, hilft, die Präzisierung weiter zu verbessern. Zudem kann die Ernährungs therapeutin am Schreibtisch evaluieren, ob bei einem Risikopatienten ausreichend gegessen wurde. Anekdo tisch kann bei kognitiv eingeschränkten Personen der Beweis erbracht werden, dass entgegen der Beschwerde das Mittagessen eben doch schon stattgefunden habe oder das bestellte Menu geliefert wurde. Ein schneller Durchblick der Bilder pro Mahlzeit durch den Küchenchef hilft schon heute zu erkennen, ob Portionen zu gross waren oder einzelne Kompo nenten bei den Patienten unbeliebt sind. Täglich pro duziert der Foodscanner bei etwa 300 Patientenessen
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drei Mal am Tag ein Foto vor und nach der Mahlzeit. Die grosse Menge an Daten wird anonymisiert an eine in der Schweiz «gehostete» Cloud geschickt, wo die Berechnung stattfindet und an den Absender zurück gesandt wird. Das interne IT-System der UAFP führt die Fotos, das Tablett und den Patienten zusammen und erstellt das klinische Dashboard. Seit knapp einem halben Jahr ist der Foodscanner in der UAFP im Einsatz. Verschiedene Faktoren und Er eignisse haben die Stabilität der Bilderfassung und die Präzision der Volumenberechnung gestört. Als die Abwaschmaschine einen Defekt hatte, hing die Ka mera plötzlich am falschen Ort, der Rücklauf wurde nicht erfasst. Prozessfehler wie Abfall oder Besteck auf den Tellern stören die Volumenberechnung. Eine lau fende Fehleranalyse hat ergeben, dass ein Grossteil der Fehler die immer gleichen Ursachen hat, welche eher durch Prozessanpassungen als durch technologische Anpassungen zu beheben sind. Dieses Beispiel zeigt auf, dass die Digitalisierung nicht bloss das Einführen einer neuen Technologie, sondern vielmehr eine prozessuale Veränderung ist. Die Tech nologie funktioniert erst, wenn das Team die Prozesse neu umsetzt. Das maschinelle Lernen von Essvolu mina und deren Komponenten, also dieser vielbe schworene Algorithmus, ist zwar das Herzstück und macht den Foodscanner erst möglich, war aber bisher die geringste Herausforderung in der Umsetzung. Auch hat die sogenannt «künstliche Intelligenz» kein Kontextverständnis. Die Frage, warum ein Patient nicht isst, bleibt trotz des Foodscanners bestehen. Es kann daran liegen, dass das Falsche bestellt, das Essen nicht geschmeckt, das Besteck nicht bedient oder der Bissen nicht geschluckt werden konnte. Wie bei einem Blutdruckgerät oder einem Pulsoxymeter kann mit dem Foodscanner ein Wert berechnet werden, wel cher im komplexen Prozess der Nahrungsaufnahme die Frage beantwortet: Wie viel hat der Patient ge gessen? Auf diese Information sollte gerade beim alten Patien ten aus medizinischer, sozialer, ökologischer und öko nomischer Sicht in Zukunft nicht mehr verzichtet werden müssen.
Abbildung 4: Dashboard für die Kliniker (Stand 24.9.2023). Referenzen: 1. www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesund-
heitswesen/spitaeler/patienten-hospitalisierungen.assetdetail.23727879.html 2. Schuetz et al: Individualised nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomised clinical trial, Lancet 2019; 393: 2312–21 3. Screening Tool in Anlehnung an Kondrup J., Rasmussen HH., Hamberger O., 2002. 4. https://snaq.io am 24.09.2023 5. Evaluation of a digital «Foodscanner» to monitor food intake in a clinical setting, Ronja Rossi 2021. 6. https://www.nutrai.ch, am 24.09.2023 7. Foodscanner: Aufbau einer Hardware-Infrastruktur für die automatisierte Erfassung von Gerichten mittels Bildbarbeitung, Kim Nikulski 2021, DHBW Duale Hochschule Baden-Würtemberg. 8. Mougiakakou et al: Evaluation of a Novel Artificial Intelligence System to Monitor and Assess Energy and Macronutrient Intake in Hospitalised Older Patients, Nutrients 2021, 13, 4539.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Tobias Meyer Leitender Arzt Akutgeriatrie Universitäre Altersmedizin Felix Platter Burgfelderstrasse 101 4055 Basel E-Mail: tobias.meyer@felixplatter.ch
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