Transkript
EDITORIAL
Vom «betreuten Trinken» zu mehr Eigenverantwortung?
Kein anderes Rauschmittel ist auch nur annähernd gesellschaftlich so akzeptiert und etabliert wie Alkohol. Doch trotz des erheblichen Suchtpotenzials und eines inzwischen gewachsenen Bewusstseins für die nicht minder schwerwiegenden weiteren gesundheitlichen Risiken, die das übermässige Trinken von Alkohol bergen kann, ist der Zuspruch zur Volksdroge Nr. 1 ungebrochen. Dies gilt insbesondere für den europäischen Raum einschliesslich Russland, der trotz eines seit der Jahrtausendwende zu verzeichnenden Rückgangs nach wie vor mit 9,5 Litern reinen Alkohols den höchsten jährlichen Pro-Kopf-Konsum in der Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren aller Regionen der Welt aufweist (1). Global lag dieser Wert im Jahr 2017 bei durchschnittlich 6,5 Litern – mit allerdings steigender Tendenz (2). Von den 10 Ländern der Erde, in denen am meisten getrunken wird, liegen 9 in Europa, und der Pro-KopfVerbrauch ist hier jeweils mindestens doppelt so hoch wie im weltweiten Schnitt. Während sich der nördliche Nachbar Deutschland mit knapp 13 Litern Ethanol pro Kopf und Jahr unter den Top 5 befindet, reichen die etwas mehr als 11 Liter, die jede/r Eidgenosse/in jährlich konsumiert, der Schweiz immerhin noch für Platz 19 in der Rangliste der trinkfreudigsten Nationen (1). Vielleicht ist es auch dieser unrühmlichen Spitzenposition geschuldet, dass man jetzt jenseits des Rheins offenbar beginnt, die im Zusammenhang mit dem Alkoholgenuss nicht nur für Gesundheitspolitiker, sondern auch für jeden einzelnen «armen Schlucker» entscheidende Frage –
nämlich was denn nun ein massvolles und insofern risiko-
armes Trinken sei – nicht mehr mit der Angabe einer je-
weils nach Art des Getränks und nach Geschlecht des
Trinkenden variierenden Anzahl an «Drinks», sondern
stattdessen sehr grundsätzlich zu beantworten: «Ergeb-
nisse der Wissenschaft zeigen zunehmend, dass es keinen
potenziell gesundheitsförderlichen und keinen sicheren
Alkoholkonsum gibt. Auch geringe Trinkmengen können
zur Verursachung von körperlichen Krankheiten beitra-
gen.» So lautet das Fazit der jüngsten Empfehlungen zum
Umgang mit Alkohol der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen (DHS; 3), der Dachorganisation der in
Deutschland im Bereich Suchthilfe und -prävention täti-
gen Verbände.
Mit ihrer vielbeachteten Stellungnahme beschreitet die
DHS konsequent einen neuen Weg, mit dem Interpreta-
tionsspielräume durchkreuzt und bei vielen Ärzten offene
Türen eingerannt werden und welcher artverwandten In-
stitutionen im In- und Ausland als Beispiel dienen sollte.
Sie setzt dabei vor allem auf Verantwortung – auf die, die
ihr selbst naturgemäss zukommt, wie auch auf die derje-
nigen, denen sie Ratschläge erteilen will. Gewiss lassen
sich mehr oder weniger belastbare Kriterien eines proble-
matischen Trinkverhaltens definieren und entsprechende
Richtschnüre ziehen. Hierzulande macht etwa das Arud
Zentrum für Suchtmedizin dies mit seinem Test des Kon-
sumrisikos nebst Erläuterungen (4) relativ gut und diffe-
renziert. Andere wie etwa das Bundesamt für Gesundheit
oder Sucht Schweiz geben dagegen immer noch Empfeh-
lungen heraus, die recht holzschnittartig daherkommen,
und laufen daher Gefahr, ihre Klientel in falscher Sicher-
heit zu wiegen. Denn obschon es weder möglich ist noch
das Ziel sein sollte, die Menschen zur kompletten Absti-
nenz zu massregeln – Sand in die Augen muss und darf
man ihnen, zumal von offizieller Seite, eben auch nicht
streuen.
s
Ralf Behrens
1. World Health Organization (WHO): The European Health Report 2021. https://issuu.com/whoeurope/docs/9789289057547-eng?e=3185028/ 90707579
2. Manthey J et al.: Global alcohol exposure between 1990 and 2017 and forecasts until 2030: a modelling study. Lancet. 2019;393(10190):2493-2502.
3. DeutscheHauptstellefürSuchtfragene.V.:EmpfehlungenzumUmgangmit Alkohol. https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/WK_der_DHS_-_ Empfehlungen_zum_Umgang_mit_Alkohol.pdf
4. Arud Zentrum für Suchtmedizin: Alkohol. https://arud.ch/substanzen-und-abhangigkeiten/abhangigkeiten/alkohol
ARS MEDICI 22 | 2023
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