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20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL
Medizinische Onkologie seit den 1970er-Jahren – ein Rückblick
In einem persönlichem Rückblick lässt Martin Fey die vergangen Jahrzehnte Revue passieren – und hat dabei sogar mehr als nur 20 Jahre im Visier. Dabei ist von etlichen Meilensteinen die Rede, die die Therapielandschaft verändert haben, von den dadurch bedingten Fortschritten sowie den damit einhergehenden Herausforderungen.
MARTIN FEY
SZO 2023; 4: 6–10
«Si tacuisses philosophus mansisses.» Diesen alten
lateinischen Spruch, der die Verben «tacere»
(schweigen) und «manere» (bleiben) in der 2. Person
des Singulars, und zwar im Konjunktiv des aktiven
Plusquamperfekts verwendet, hätte ich vielleicht
Foto: zVg
beherzigen sollen. Trotzdem liess ich mich überre-
Martin Fey
den, zur Jubiläumsausgabe der Schweizer Zeitschrift für Onkologie einen Beitrag zu leisten.
Durchaus eine Herausforderung, denn mittlerweile
ist meine publizistische Tätigkeit eher darauf
beschränkt, dass meine Beiträge (Leserbriefe) meis-
tens von der NZZ (statt wie früher vom N Engl J Med
« oder vom Lancet) abgelehnt werden. …wenn ich je daran denken würde, eine on-
kologische Praxis zu eröffnen, müsste ich darauf
achten, pro Jahr mindestens ein Drittel der Pati-
enten in meiner Praxiskartei ersetzen zu können –
»um die jährliche Sterbequote der Krebspatienten
aufzufangen.
Bedingung meiner Zusage war, eine freie und persönliche Zusammenstellung von Reminiszenzen und einen Ausblick bieten zu dürfen. Eine onkologische «causerie» sozusagen.
MEDICAL ONCOLOGY SINCE THE 1970S - A REVIEW
When I started my training as a Swiss medical oncologist in the 80ies of the last millennium, the required skills were largely limited to knowing the natural course of most metastatic cancers (usually unfavourable), to handling cytostatic agents, a few (targeted!) hormonal therapies, and a limited array of supportive measures. Medical oncology in 2023 looks very much different. I would put forward the view that few (if any) branches in medicine have witnessed such an explosive development and therapeutic improvement during the last few decades to match, let alone beat medical oncology. The article offers some reminiscences and personal views (undeniably coloured by bias) of how medical oncology developed between the 1980ies and today.
Das Paradigma Lungenkarzinom
In den 1980er-Jahren erläuterte mir ein erfahrener Praxis-Onkologe, wenn ich je daran denken würde, eine onkologische Praxis zu eröffnen, müsste ich darauf achten, pro Jahr mindestens ein Drittel der Patienten in meiner Praxiskartei ersetzen zu können – um die jährliche Sterbequote der Krebspatienten aufzufangen. Er führte das metastasierte, nicht kleinzellige Lungenkarzinom (NSCLC) als besonders guten Beleg für seine Empfehlung an. Die meisten Subtypen oder Entitäten nicht kleinzelliger Lungenkarzinome sind zwar immer noch nicht heilbar, aber in ihrem Verlauf unter Therapie nun chronische Leiden geworden, etwa wie ein Diabetes mellitus oder eine Hypertonie, mit denen sich oft über geraume Zeit ganz gut bis sehr gut leben lässt. TyrosinKinase-Inhibitoren (TKI) und Immun-CheckpointInhibitoren haben es ermöglicht. Wohl eines der besten Beispiele, wie Molekular- und Zellbiologie translational die Klinik mit gezielten Therapeutika fundamental verändern können. Nicht alle Gebiete der Onkologie haben diesem Beispiel folgen können. Leider habe ich es bisher nicht erlebt, dass CisPlatin, ein unangenehmes Medikament, vollends über Bord geworfen werden kann. Und dass bei aggressiven B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphomen die Initialtherapie mit R-CHOP immer noch so etwas wie ein Standard ist, ist ernüchternd. Die initiale Präsentation der R-CHOP-Studie durch den französischen Hämatologen Bertrand Coiffier am ASCO fand nämlich anfangs des neuen Millenniums, vor mehr als 20 Jahren (sic!), statt (ich erinnere mich gut an sein markantes English à la Française «…. ze résülts of zis stüdy shooh, zat R-CHOP is un nou standard …»). Il avait toujours et encore raison!
Bei einzelnen Tumorentitäten, so beim NSCLC, hat die molekulare Analyse den Weg zum therapeuti-
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schen Erfolg gewiesen. Bei anderen nicht in diesem Ausmass. Wohl vor allem nicht bei Tumoren, deren «driver»-Mutationen sich nicht für eine Entwicklung gezielter Medikamente anbieten. Defekte TumorSuppressor-Gene (die ersetzt werden müssten) oder mutierte Transkriptionsfaktoren sind Beispiele; vor allem letztere sind neudeutsch «non-druggable». Die Versuche, ein defektes p53-Gen in allen Zellen eines malignen Tumors zu ersetzen, sind aus der Sicht der Praxis bislang gescheitert. Beim high-grade B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom bleibt R-CHOP eine praktisch wichtige Option und eine therapeutisch gezielte Modifikation eines BCL-6 und/oder eines c-MYC-Gen-Rearrangements ist weiterhin keine kassenpflichtige Realität. So ist es denn folgerichtig, dass sich die Forschung in der Onkologie nicht mehr nur auf die Tumorzellen selbst einschiesst (Abb. 1).
«Denn wie man sich bettet, so liegt man.»
So heisst ein Lied aus der Oper «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» von Bertolt Brecht und Kurt Weill, dessen Text die Onkologie erst in neuerer Zeit aufgegriffen hat (siehe Abb. 2). Lange fokussierte man auf der Suche nach neuen Medikamenten auf die Tumorzelle selbst und ihre molekularen Defekte oder Aberrationen. Die Tumorzellumgebung, das sogenannte «micro-environment», wurde wenig beachtet. Das hat sich geändert – und wird sich weiter ändern. Ein interessantes Beispiel ist die Erkenntnis, dass Makrophagen («tumour-associated macrophages»; TAM) Gentranskriptions-Profile in sich bergen können, die Wachstum und malignes Verhalten nahe gelegener Tumorzellen fördern (1). Von diesem Forschungsresultat zum Schritt, diese Makrophagen therapeutisch zu blockieren, ist es vielleicht gar kein weiter Weg. Die Erfolgsgeschichte der ImmunCheckpoint-Inhibitoren illustriert dieses Potenzial.
JEANS
Somatische Gen-Mutationen vermitteln den Krebszellen einen biologischen Vorteil (Überleben, Zelltod, Differenzierung etc.)
Abb. 1: Somatische Mutationen in wichtigen Genen sind für die zelluläre und molekulare Pathogenese maligner Tumoren wohl wichtig, aber sie ergeben kein komplettes Bild!
vor allem als an einem ASCO-Meeting ein bedeutender Onkologe in seinem Vortrag festhielt, es handle sich bei diesen T-Zellen statt um TIL lediglich um TOL («tumour-observing lymphocytes»), die wohl keine wesentliche Funktion hätten. Die einzige wirklich gut etablierte Immuntherapie war lange die allogene Stammzelltransplantation mit ihrem
« »«graft-versus-leukaemia»-Effekt. Ich sah mich lange in meiner Immuno-Skepsis bekräftigt. Wie man sich täuschen kann!
Wie man sich täuschen kann! Die Modulation von Immuncheckpoints ist klinische Routine geworden, nachdem frühere Versuche mit Interferonen wohl viel Toxizität, aber kaum nachhaltige Erfolge gezeitigt hatten. Die Interferone und Interleukine (IL-2) als Therapeutika sind aus der onkologischen Praxis
Das Immunsystem
Im «Bodigen» der Immunantwort mit Zytostatika und Steroiden war unser Fach ja traditionell immer sehr gut aufgestellt – Thema von Vorwürfen! Lange glaubte ich hingegen nicht, dass eine Modulation «des Immunsystems» zur Verbesserung der körpereigenen Immunantwort auf maligne Tumoren die Onkologie auf breiter Front praktisch-klinisch weiterbrächte. Ich besitze ein Dia in meiner Sammlung, das sogenannte «tumour-infiltrating lymphocytes» (TIL) zeigt, immunhistochemisch als T-Zellen markiert (Abb. 2).
Mindestens histologisch geht es den Adenokarzinomschläuchen des Kolonkarzinoms jedoch prächtig («wie man sich bettet, so liegt man»). Ich sah mich lange in meiner Immuno-Skepsis bekräftigt,
Abb. 2: TIL («tumour infiltrating lymphocytes») in einem Kolonkarzinom
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mehrheitlich wieder verschwunden. Medikamente wie Pembrolizumab oder Atezolizumab werden wohl bleiben, mittlerweile mit einem Indikationsspektrum, das an den breiten Einsatz von Endoxan oder Adriblastin erinnert, nur zu einem wesentlich höheren Preis. Ein gutes Beispiel dafür, dass die massive Mengen- und Indikationsausweitung eines neuen Medikaments in der Onkologie bloss geringe
« Preisreduktionen mit sich bringt. Ohne gute klinische Betreuung (durch Ärzte UND Pflege!) und «Begleitmedikation» sind aber
»viele onkologischen Therapien nicht oder nur mit
Kompromissen durchführbar.
Meine Immuno-Skepsis bezog auch manchen frustranen Versuch ein, therapeutische Anti-TumorzellVakzinen gegen metastasierte Tumoren in die Klinik zu bringen. Dazu gehörten dendritische Zell-Vakzinen oder Peptid-Vakzinen, die sich bis heute nie durchgesetzt haben. Ob die durch die COVID-19 Pandemie berühmt gewordene mRNA-Technologie nun einen praktischen Durchbruch in der Onkologie bringen wird, werden wir sehen. Schön wär’s. Das Potenzial ist da. Die klinischen Studien müssen jedoch den Beleg eines klinischen Nutzens erbringen – lediglich eine Immunantwort mit Labortests aufzuzeigen wird nicht genügen. The proof of the pudding is always in the eating.
Künstliche Intelligenz – «Artificial Intelligence (AI)»
Die künstliche Intelligenz füllt derzeit die Zeitungen und Nachrichten. ChatGPT-(Generative Pretrained Transformer)Kommunikation nutzt laut Wikipedia «moderne maschinelle Lerntechnologie, um Antworten zu generieren, die natürlich klingen und für das Gespräch relevant sein sollen.» «Doktor KI» spricht so mit den Patienten und wertet im gleichen Atemzug ihr Lungenröntgenbild aus. Die Ärzte können sich zurücklehnen und minutengenau Überzeit (d.h. laut VSAO-Gewerkschaft definiert als jede Zusatzarbeitsminute > 42 Wochenstunden) kompensieren. Die Vorstellung, dass ein Gespräch mit einem Krebskranken via ChatGPT geführt wird, wirkt auf mich kafkaesk, ebenso die Idee, einen Fortbildungsvortrag (oder den vorliegenden Artikel!) durch ChatGPT schreiben zu lassen. Die Idee hingegen, dass ein AI-Computerprogramm repetitive Routinebefunde in der Radiologie oder ZervisabstrichZytologien vorsortiert, ist bestechend. Und dass mittlerweile bereits das eine oder andere spezialisierte Journal den Markt und PubMed bereichert, ist wohl unausweichlich (2). Den vorliegenden Artikel habe ich übrigens altmodisch selbst geschrieben.
Supportive Onkologie
Die supportive Onkologie stand und steht bisweilen im Schatten der Daten über tumortherapeutische Fortschritte. Ohne gute klinische Betreuung (durch Ärzte UND Pflege!) und «Begleitmedikation» sind aber viele onkologischen Therapien nicht oder nur mit Kompromissen durchführbar. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als nur hoch dosiertes Metoclopramid und Steroide als Antiemetika beispielsweise für Therapien mit Cis-Platin zur Verfügung standen. Die unangenehme Nebenwirkung der extrapyramidalen Symptome unter Hochdosis-Metoclopramid mit «neuroleptischem Syndrom», das heisst mit akutem schwerem Parkinson-Syndrom, dürfte wohl nur noch den älteren Semestern unter den Onkologen aus der Praxis bekannt sein – und auch die Notfalltherapie dieser Komplikation mit Akineton (Biperiden). Die Einführung von 5-HT3-Antagonisten, wie beispielsweise Ondansetron, war ein Durchbruch, wie man ihn nicht so oft erlebt. Etwas weniger überzeugt war und bin ich vom Einsatz von Erythropoietin zur Besserung der tumorund vor allem der therapiebedingten Anämie und ihrer Symptome. Die jüngere Generation der Onkologen hat wohl nicht mehr erlebt, wie sehr die «erythropoietin-stimulating agents» (ESA) vor und während ihrer Markteinführung durch die Pharmaindustrie gefördert wurden – wer sie nicht einsetzen mochte, musste sich als schlechter Arzt vorkommen. Die ESA-Experten taten an zahlreichen Pharmasatellitensymposien das Ihrige, um den Markt für ESA zu beleben. Wo lag oder liegt das Problem? Einmal mehr im «Design» der klinischen Studien. Primärer Endpunkt der meisten Studien, die das eine oder andere ESA-Präparat auf den Markt brachten, war die Erhöhung des Hämoglobins, die Verbesserung eines Laborparameters. In diesem Sinne waren die Studien positiv; denn dieser Endpunkt wurde erreicht. Nun ist die Aufpolierung einer Pathologie im Laborbericht das eine, die klinische Besserung für den Patienten aber das andere. Man hätte belegen müssen, dass durch Gabe von ESA die Lebensqualität (QoL), vor allem Müdigkeit und Leistungsintoleranz als typische Anämiesymptome, deutlich gebessert wird. Wenn man sich viele durchaus hochkarätig publizierte ESA-Studien ansieht, wird man feststellen, dass die QoL zwar studiert wurde, aber bloss als sekundärer Endpunkt (d.h. bei der Erstellung eines statistischen Konzepts und bei der Berechnung der Studienpatientenzahl nicht berücksichtigt) und nur bei einer Teilmenge der Studienpatienten. Eine unbefriedigende Datenlage! Das Problem wurde markant illustriert durch eine wichtige Studie der Deutschen Hodgkin-Gruppe (GHSG), die den Einsatz von ESA unter BEACOPP-Chemotherapie bei Hodgkin-Lymphom überprüfte, und zwar mit
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QoL als primärem Endpunkt (EORTC QLQ-C30 scale)! Resultat: «Epoetin alfa …. parallel to BEACOPP chemotherapy in patients with advanced-stage HL reduced the number of RBC transfusions, but had no impact on fatigue and other PRO domains.» (3) In einer Metaanalyse wiesen wir etwa zur selben Zeit nach, dass die Mortalität von Krebspatienten unter ESA im Vergleich zu Plazebo erhöht ist (4). Während die angeblichen Vorteile von ESA durch die Firmen an unzähligen Satellitensymposien in die Kongresswelt hinausposaunt worden waren, fand es keine ESA-Pharmafirma nötig, wegen dieser klinisch hoch relevanten «negativen» Nachrichten zu ESA das eine oder andere Symposium zu organisieren. Ich habe über viele Jahre, bis zum Abschluss meiner klinischen Tätigkeit, kein EPO mehr verordnet, und ich denke nicht, dass ich deswegen ein schlechter Arzt oder gar ein schlechter Mensch gewesen wäre. Eine ähnlich kritische Würdigung des genauen Stellenwerts eines anderen, besonders hoch gejubelten Medikaments, des Angiogenese-Hemmers Bevacizumab, wäre wohl auch geeignet, marktdämpfend zu wirken. Auch dies ein Medikament mit meines Erachtens überschätzter Wirkung, das ich selten bis nie verordnet habe.
Das leidige Thema der Preise für Krebsmedikamente
Teuer sind sie mittlerweile, Krebsmedikamente, in exorbitantem Rahmen. Ich besitze eine Korrespondenz zwischen meinem Vorgänger in der Onkologie am Inselspital, Prof. Kurt Brunner, und der Inselspital-Direktion. Im Jahr 1975 lagen seine Auslagen für Medikamente an der Poliklinik für medizinische Onkologie bei CHF 245'000.- und im Folgejahr (oh Schreck!) bei CHF 324'000.- Im Jahre 2013 gaben wir in der Poliklinik für denselben Posten CHF 10 Millionen aus; eine Summe, die bis ins Jahr 2022 unter meinem Nachfolger auf CHF 59 Millionen angestiegen ist. Die Pharmaindustrie begründet diese Preise unter anderem mit den enormen Entwicklungskosten. Dieses Argument sticht nur teilweise. Gerade für die präklinische Entwicklung von neuen Biologie-Konzepten, die schliesslich zur Produktion neuer Krebsmedikamente führen, zahlen die Akademie (SNF) und viele Stiftungen (KFS, die kantonalen Krebsligen und private Stiftungen) sehr viel Geld – die Pharmaindustrie kann diese Daten gratis beziehen. Eine wichtige Analyse zeigte auf, dass die Medikamenten-Entwicklungskosten, für welche die Industrie geradestehen muss, wesentlich tiefer liegen als gemeinhin behauptet, und dass erfolgreiche Krebsmedikamente Nettogewinne abwerfen, von denen andere Branchen nur träumen können (nach Korrektur für die Mitfinanzierung von gescheiterten Entwicklungsprojekten) (6). Wenn schon so
viel Geld ausgegeben wird, so doch hoffentlich für einen hohen Gegenwert? Kerstin Vokinger, Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich, publizierte mehrere Artikel, in denen sie belegt, dass weniger als ein Drittel neuer Medikamente (nicht nur Krebsmedikamente) einen wesentlichen therapeutischen Nutzen mit sich bringen. Ferner zeigte sie auf, dass Indikationserweiterungen für Krebsmedikamente (somit eine Erweiterung des Marktes) in der Regel einen geringeren therapeutischen Wert aufweisen als die zugelassene Erstindikation (7–9). Value for money? … nicht wirklich!
Der Weg der (medizinischen) Onkologie
Als ich in den 1980er-Jahren beschloss, die medizinische Onkologie als «Fach» zu wählen, wurde ich nicht selten mit Staunen konfrontiert («was, wie kann man bloss Onkologie machen?») oder mit Ablehnung («schreckliches Fach – man stirbt an Krebs doch besser mit Haaren und ohne Chemo statt mit Chemo und ohne Haare»). Namhafte Allgemein internisten versuchten, mich auf den Pfad der Tugend der allgemeinen Inneren Medizin zurückzuholen. Ich habe jedoch den Entscheid, medizinischer Onkologe zu werden, nie bereut. Es gibt meines Erachtens kein anderes Fach in der Medizin, das in nur wenigen Jahrzehnten sein Gesicht und seine Möglichkeiten dermassen verbessert hätte. Als Assistenzarzt waren mir in den 1980er-Jahren eine Handvoll Zytostatika geläufig, als «targeted agents» Tamoxifen und Megestat, LHRH-Analoga, ferner Steroide. Das war’s. Als ich Ende der 1980er-Jahre Oberarzt war, kamen die Taxane dazu. Schliesslich um die Jahrtausendwende die ersten monoklona-
«len Antikörper, so Rituximab und Trastuzumab. Namhafte Allgemeininternisten versuchten, mich auf den Pfad der Tugend der allgemeinen Inneren M edizin zurückzuholen. Ich habe jedoch
»den Entscheid, medizinischer Onkologe zu werden,
nie bereut.
Eine frühe wegweisende Arbeit zum Nutzen von Trastuzumab als Erstlinientherapie beim HER2-POS Mammakarzinom wurde im Jahre 2001 im New England Journal of Medicine publiziert, das heisst in diesem, nicht etwa im vergangenen Millenium (5). Heute treten die Zytostatika in der medikamentösen Tumortherapie teilweise in den Hintergrund, teils sind sie fast vollständig aus dem Therapiearsenal verschwunden. Beispiele sind Imatinib statt Hydroxy-Urea bei der chronischen myeloischen Leukämie, Rituximab-Monotherapie beim follikulären Non-Hodgkin-Lymphom anstelle von CHOP-
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Chemotherapie, diverse TKI beim metastasierten NSCLC anstelle von Cis-Platin, Ibrutinib anstelle von Chlorambucil bei der B-CLL, Immun-CheckpointInhibitoren statt Dacarbazin beim metastasierten Melanom; die Liste wächst. Die mit dieser erfreulichen Nachricht verbundenen Probleme sind bekannt: exorbitante Medikamentenpreise für neue Substanzen (siehe oben), die Zersplitterung des nur noch schwer überblickbaren «Fachs» der medizinischen Onkologie in organorientierte Sub- und Subsubspezialitäten (Prostatakrebsonkologen, Lymphomspezialisten, Neuro-Onkologen ...). Trotzdem dürfen wir uns ob der Möglichkeiten freuen, die wir unseren Krebspatienten und ihren Angehörigen heute und in Zukunft zu bieten haben. Fortsetzung folgt!
Prof. em. Dr. med. Martin Fey ehem. Direktor der Universitätsklinik für medizinische Onkologie Inselspital und Universität Bern Korrespondenzadresse: Fischerstr 13, CH-3052 Zollikofen E-Mail: martin.fey@unibe.ch Interessenkonflikte: keine
Referenzen: 1. Chittezhath M et al.: Molecular profiling reveals a tumor-promoting phenotype
of monocytes and macrophages in human cancer progression. Immunity. 2014;41:815-829. 2. Akazawa M et al.: Artificial intelligence in gynecologic cancers: Current status and future challenges – a systematic review. Artif Intell Med. 2021;120:102164. 3. Engert A et al.: Epoetin alfa in patients with advanced-stage Hodgkin’s lymphoma: results of the randomized placebo-controlled GHSG HD15EPO trial. J Clin Oncol. 2010; 28:2239-2245. 4. Bohlius J et al.: Recombinant human erythropoiesis-stimulating agents and mortality in patients with cancer: a meta-analysis of randomised trials. Lancet. 2009;373:1532-1542. 5. Slamon DJ et al.: Use of chemotherapy plus a monoclonal antibody against HER2 for metastatic breast cancer that overexpresses HER2. N Engl J Med. 2001;344:783-792. 6. Prasad V et al.: Research and development spending to bring a single cancer drug to market and revenues after approval. JAMA Intern Med. 2017;177:15691575. 7. Vokinger KN et al.: Therapeutic value of first versus supplemental indications of drugs in US and Europe (2011-20): retrospective cohort study. BMJ 2023;382:e074166. 8. Vokinger KN et al.: Therapeutic value assessments of novel medicines in the US and Europe, 2018-2019. JAMA Netw Open. 2022;5(4):e226479. 9. Hwang TJ et al.: Association between FDA and EMA expedited approval programs and therapeutic value of new medicines: retrospective cohort study. BMJ. 2020; 371: m3434.
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