Transkript
20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL
Gedanken zur Entwicklung und Zukunft der Radio-Onkologie
«Neue Hoffnung bei der Behandlung von Tumoren»
Unter dem Titel «Neue Hoffnung bei der Behandlung von Tumoren» wurde im Frühling 2023 die Flash-Therapie als innovativer Weg der Bestrahlung von Malignomen in der SAEZ vorgestellt (1). Präklinische Studien und einige erste Anwendungen am Menschen liegen vor. Mit sehr hohen Dosis leistungen (> 40 Gy/Sekunde) verspricht diese Art der Bestrahlung eine wirksame Tumorkontrolle mit weniger Nebenwirkungen. Diese Ankündigung und das 20-jährige Bestehen der Schweizerischen Zeitschrift für Onkologie sind Anlass, die Entwicklungen der Radio-Onkologie kritisch in Erinnerung zu rufen.
URS MARTIN LÜTOLF
SZO 2023; 4: 11–14
Urs Martin Lütolf
Foto: zVg
Ein Fach, das sich immer wieder neu erfinden musste
Über Umwege, mit Unfällen und mit zum Teil vagen Vorstellungen über die Wirkungsweise wurde das «Instrumentarium Strahlen» seit der Entdeckung 1896 entwickelt und perfektioniert. An der grundlegenden Wirkung der Strahlen, nämlich der Ionisation von Molekülen in den Zellen, hat sich nichts geändert. Grosse Fortschritte wurden bei der präzisen Strahlführung, der Definition und Lokalisation des Zielvolumens, der Möglichkeit der Dosisberechnung und bei Erkenntnissen der Aufteilung (Fraktionierung) und notwendigen Gesamtdosis erzielt. Parallel zur fachspezifischen Entwicklung verlief die Suche nach der Integration in die sich ebenfalls rasant entwickelnde Gesamtonkologie: Typisierung der Tumoren, Fortschritte der chirurgischen Verfahren, Systemtherapien und Verfahren wie Hyperthermie. Ein Blick in dieses komplexe «Entwicklungsgeflecht» und auf die oft hoffnungsvoll gestarteten Ansätze soll helfen, künftige Wege aufzuzeigen.
Neue Strahlen, neue Geräte: Überzeugende Gründe, aber nicht zwingend ein klinischer Durchbruch
Strahlenarten wie Pi-Mesonen und Neutronen haben die Eigenschaft, unabhängig vom Sauerstoffgehalt im Tumor letale Schäden in Tumorzellen zu setzen. Die hypoxiebedingte Strahlenresistenz in Tumoren sollte, so die Hypothese, durch diese Strahlenmodalitäten überwunden werden. Am damaligen SIN (heute Paul Scherrer Institut) in Würenlingen wurden 1981–1988 über 400 Patientin-
nen und Patienten mit negativen Pi-Mesonen behandelt (2). Die Resultate, insbesondere bei 35 Patienten mit nicht resezierbaren Weichteilsarkomen, wurden als erfolgreich eingestuft. Dennoch wurde das Programm, das auf einer aufwändigen physikalischen Infrastruktur basierte, eingestellt. Am Kantonsspital Zürich, dem heutigen USZ, wurde in den 70er-Jahren ein Neutronengenerator installiert. Die Begeisterung für die Therapie mit schnellen Neutronen basierte auf einer randomisierten Studie aus England, die bei Patienten mit ORLTumoren im Vergleich zur Kobaltbestrahlung signifikante Vorteile bei der Tumorkontrolle zeigte. Die Studie konnte nicht reproduziert werden. Die Qualität der Kobalttherapie im Vergleichskollekitiv war unter dem Standard des damals Möglichen. Der Generator im Keller des Kantonsspitals Zürich wurde, ohne je eine Patientin oder einen Patienten bestrahlt zu haben, wieder abgebaut. In Erinnerung bleiben Berichte über Resultate bei Speicheldrüsentumoren, die mit ähnlichen Geräten anderswo erfolgreich bestrahlt wurden; eine Nischenindikation. Die grosse Hoffnung, die in die Neutronentherapie gesetzt wurde, blieb unerfüllt. Das oben erwähnte Pi-Mesonen-Programm am PSI wurde durch die Protonentherapie abgelöst. Ein strahlentherapiespezifisches Zyklotron und eine Technik zur präzisen Führung des Protonenstrahls in der Tiefe und seitlich bieten seither Möglichkeiten zur Bestrahlung von eng umgrenzten Volumina, auch wenn verglichen mit Pi-Mesonen und Neutronen kein Vorteil bezüglich der Hypoxieresistenz der Tumorzellen besteht. Prädestiniert ist die Protonen-
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bestrahlung für die Bestrahlung von Tumoren bei Kindern, da die geringere Dosis ausserhalb des Zielvolumens die mögliche Entstehung von strahleninduzierten Zweittumoren verringert. Es ergeben sich Vorteile für die Bestrahlung von ZNSTumoren. Dieses Programm ist weiter im gesamtschweizerischen Kontext (und an analogen Anlagen weltweit) aktiv. Parallel zu diesen sehr speziellen Strahlentherapien wurde die «normale» Strahlentherapie weiter entwickelt. In den 1970er-Jahren war das Betatron der Firma Brown Boveri aus Baden stolzes Spitzengerät, mit 45 MeV Energie, stärker als die Konkurrenz. Dem Betatron aber erging es wie den Dinsosauriern: Zu gross und die riesige Kraft (45 MeV) von wenig Nutzen. Einen eigenen Weg zur Bündelung der Strahlen in einem kleinsten Volumen beschritt das Gamma Knife, dessen Erfinder Börje Larsson von 1991 bis 1998 an der Universität Zürich als Strahlenbiologe und am PSI tätig war. Diese aufwändige Technik mit cirka 200 auf einen Punkt fokussierten Kobaltquellen war in den 1990er-Jahren bezüglich Bündelung und Präzision ohne Konkurrenz. Sie hielt sich dank geschickter Vermarktung bei den Neurochirurgen eine gewisse Zeit, wurde aber durch die Fortschritte bei den Linearbeschleunigern eingeholt und eigentlich obsolet. Zusammenfassend haben die geschilderten Entwicklungen für einzelne Indikationen zum Teil ein Nischendasein gefunden. Dies oft mit geringer oder noch ausstehender Evidenz für die therapeutische Überlegenheit gegenüber den immer besser werdenden «konventionellen» Techniken. Ein Fundament für neue Techniken zu schaffen ist äusserst aufwändig. Dies haben die Schweizer Radio-Onkologen bei der Einführung des Protonenprogramms erfahren, das als gesamtschweizerisches Projekt durch die Protonen Users Group kli-
nisch getragen wurde mit dem Ziel, den protonenspezifischen Indikationen ein solches Fundament zu geben. Das Ziel wurde für die Protonentherapie teils erreicht und kann für weitere Indikationen erreicht werden. Dies dank der medizinischen und technischen Fachkompetenz an einem Ort, am PSI nämlich, und der Tatsache, dass es nicht zu einer «Verzettelung» durch Installationen von privat finanzierten, kommerziell betriebenen weiteren Protonenanlagen kam.
Linearbeschleuniger, Planungscomputer, CT & Co.: die e lektronische Datenverarbeitung machte aus Ideen Fakten
Die Linearbeschleuniger wurden zu agilen und präzisen Instrumenten entwickelt, die sich für viele Bedürfnisse anpassen lassen. Sie sind zum Basisinstrument der Strahlentherapie geworden. Parallel entwickelten sich CT und Planungsrechner, die von der allgemeinen Entwicklung der Datenverarbeitung ab den 90er-Jahren profitierten. Dass Beschleuniger und CT in ein Gerät integriert werden konnten und neuerdings statt CT auch ein MRI am Bestrahlungstisch zur Verfügung stand, brachte ausserordentlich grosse Vorteile für das von Bestrahlung zu Bestrahlung präzise Erreichen des Zielvolumens. Daraus resultiert auch eine Reduktion der Strahlendosis auf das umliegende, für die Toleranz oft kritische Gewebe. Dies machte den Weg frei für eine Erhöhung der Strahlendosis, sei es als Einzelfraktion oder als Gesamtdosis.
Strahlen und Zeit: Suche nach dem Optimum und die Hürden bei der Umsetzung
Die Fragen der optimalen Fraktionierung zur Verbesserung der Toleranz im umliegenden Gewebe,
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Fragen der möglichen Gesamtdosis und Fragen, wie viel Dosis in welcher Zeit möglich sei, haben die Radio-Onkologen intensiv beschäftigt. Kenntnisse darüber sind im Labor und in der Klinik erarbeitet und publiziert worden und stehen weiter im Fokus, wie dies die Flash-Therapie als innovativer Weg der Bestrahlung ankündigt. Was immer für eine Tumorkontrolle als ideale Fraktionierung gefunden wird, muss die Hürde in die Praxis nehmen. An den Bestrahlungsgeräten, die in der Schweiz im weltweiten Vergleich wohl in hoher Qualität, aber auch in maximaler Dichte (Anzahl Geräte pro Einwohner) vorhanden sind, scheitert dies nicht. Derzeit steht der Finanzierungsmodus (Vergütung nach Therapiesitzung) im Wege. Die Reduktion von Bestrahlungssitzungen ist für viele Indikationen möglich und sogar klinisch vorteilhaft; falsche finanzielle Anreize (weniger Sitzungen = weniger Einnahmen) sind aber der Hemmschuh für die Umsetzung des Erreichten.
Strahlentherapie im «onkologischen Verbund»: Neues finden hiess oft Bewährtes verlassen
Die Möglichkeit Bestrahlung und Chemotherapie, sei dies gleichzeitig oder sequenziell, zu kombinieren, rückte in den 70er-Jahren mit den Erfolgen der Behandlung des Ewingsarkoms bei Kindern in den Fokus (3). Die Ursachen für die Verbesserung der Resultate konnten nicht «auf einen Nenner» gebracht werden: Chemotherapie zur Verhinderung von (Fern-)Metastasen? Chemotherapie zur Strahlensensibilisierung? Chemotherapie gleichzeitig oder dem Zellzyklus entsprechend zeitlich verschoben? Nur Resultate von klinische Studien, die diese Faktoren als Variable nahmen, waren in der Lage, aus all den theoretischen Möglichkeiten die wirksamen
Kombinationen herauszufinden. Ein wichtiger Beitrag kam von der damalige Zürcher Radio-Onkologie mit Christoph Glanzmann, Pia Huguenin, später Gabriela Studer (4). Mit der erfolgreich abgeschlossenen randomisierten Studie SAKK 10/94 (bifraktionierte Bestrahlung und Cis-Platin bei fortgeschrittenen ORL-Tumoren) konnten die Vorteile einer kombinierten Therapie untermauert werden. Dies war ein entscheidender Beitrag zur Etablierung einer kombinierten Radio-Chemotherapie bei Pflasterzelltumoren. Als anspruchsvoll erwies sich die «Neueinordnung» der Bestrahlung beim M. Hodgkin. Die Erfolgsgeschichte der «Heilung durch Bestrahlung» machte es schwierig, die Strahlentherapie teilweise zu verlassen oder Volumen und Dosis zu reduzieren und sich einer kombinierten Therapie zu öffnen. Auch hier sind aus der Schweiz durch die Mitwirkung von Christoph Glanzmann bei den deutschen Hodgkin-Studien wichtige Impulse gekommen (5). Auch der Weg zur Kombination von Chirurgie und Bestrahlung war steinig. Erwähnt sei die lange Zeit, bis die brusterhaltende Therapie beim Mammakarzinom ihren Platz fand. Oftmals waren es nicht Professoren, sondern Patientinnen, die den Fortschritt einforderten.
Nächster Fortschritt in der RadioOnkologie: Wo liegt er wohl? Was bleibt zu tun?
Die technologische Entwicklung hat die Strahlentherapie wesentlich geprägt; sie war und ist immer noch ein wichtiger Treiber. Aber es braucht mehr. Ein Vergleich mit der Entwicklung in der Innern Medizin und speziell der medizinischen Onkologie soll einen Hinweis geben: Bei den Systemtherapien sind molekulare Erkenntnisse und darauf basie-
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rende Innovationen bei den Medikamenten treibende Elemente. Um ihren Einfluss auf den Krankheitsverlauf zu etablieren, werden sehr grosse Anstrengungen unternommen. Nach den Phasen I bis III von Medikamentenstudien werden klinische Resultate als Teil des Konzepts weiter erhoben (Phase IV). Im eigenen Interesse (Stichwort Marketing) finanziert die Pharma solche Studien. In der Strahlentherapie ist die Erhebung von Resultaten nach Einführung einer Neuerung der Überzeugung und dem Engagement der Radio-Onkologie überlassen; Geld fliesst dafür nicht. Nicht, dass jede technische Neuerung in einer Studie untersucht werden müsste. Für die Einführung der Multileafkollimatoren zum Beispiel gab es wohl eine technikbezogene Zulassung. Der Vorteil in der Anwendung (Ersatz von Bleiklötzen) war analog einem schärferen Messer in der Chirurgie offensichtlich und wurde nicht Gegenstand von Studien. Bei aufwändigen Therapien oder Ergänzungen zu Therapien (zum Beispiel MRI am Bestrahlungsplatz, Hyperthermie), muss nach der Einführung und den ersten positiven Resultaten die Bedeutung mit klinischen Daten belegt werden. Die gute Idee einer Neuerung und die Einzelbeobachtung genügen nicht. Die Radio-Onkologie hat ab den 1960er-Jahren als Fach in enormem Mass von der Entwicklung der Datenverarbeitung profitiert (zum Beispiel zur Dosisberechnung: vom Rechenschieber zur MonteCarlo-Dosisberechnung). Die Möglichkeiten der KI werden für die Definition des Bestrahlungsvolumens unter Einbezug von biologischen Markern für die Optimierung der Dosisapplikation in den nächsten Jahren neue Wege öffnen. Es muss das Anliegen der Radio-Onkologie sein, am Puls zu bleiben und den Aufwand nicht zu scheuen, diese Neuerungen einzuführen und kritisch zu evaluieren.
Was nämlich die Radio-Onkologie weiter voran bringen wird, sind nicht allein die Technologien, sondern Resultate, die patientennah und klinikübergreifend erarbeitet werden müssen.
Bei einer neuen Technologie «einfach dabei sein zu wollen», eine Art Me-too für Therapierende und Patientinnen und Patienten, bringt das Fach nicht weiter. Auch darf die oft bestehende betriebswirtschaftliche Fessel als «Profitcenter» agieren zu müssen, den Willen nicht lahmlegen, zum Fortschritt beizutragen. Zurückblickend auf die Entwicklungsgeschichte der Radio-Onkologie der letzten 20 Jahre, der Lebenszeit der Schweizerischen Zeitschrift für Onkologie in ihrem Jubiläumsjahr, können wir erkennen: Die «neue Hoffnung bei der Behandlung von Tumoren» kann wohl wie ein Flash aufblitzen. Aber es sind die Bemühungen um gefestigte klinische Resultate, die künftige und zuverlässige Wege für weitere Etappen der RadioOnkologie aufzeigen.
Urs Martin Lütolf Prof. em. Dr. med. ehemals Direktor der Klinik für Radio-Onkologie Universitätsspital Zürich E-Mail: urs.luetolf@access.uzh.ch
Interessenkonflikte: keine
Fotos mit freundlicher Genehmigung aus dem Privatbesitz Dr. Collen mit Verdankung an Prof. emeritus Gerhard Ries, Kopien und Vervielfältigung nur mit Genehmigung.
Referenzen: 1. Depecker C: Neue Hoffnung bei der Behandlung von Tumoren, Schweizeri-
sche Ärztezeitung 2023;104(18):62–63. 2. Schmitt G et al.: Review of the SIN and Los Alamos Pion Trials, Radiat Res
Suppl. 1985;8:S272-8. 3. Jaffe N et al.: Improved outlook for Ewing's sarcoma with combination chemot-
herapy (vincristine, actinomycin D and cyclophosphamide) and radiation therapy. Cancer. 1976;38(5):1925-1930.
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4. Huguenin P et al.: Concomitant cisplatin significantly improves locoregional control in advanced head and neck cancers treated with hyperfractionated radiotherapy. J Clin Oncol. 2004;22(23):4665-4673.
5. zur Übersicht, siehe https://www.ghsg.org/abgeschlossene-studien-ueberblick, abgerufen 21.6.23