Transkript
EDITORIAL
Öberall heds Plastik draa
Die Schweiz ist ein schönes Fleckchen Erde: atemberaubende Natur und aufgeräumte Städte, sauber und ordentlich, zumindest dem Anschein nach. Wenn Sie trotzdem hin und wieder, wie vielleicht in den vergangenen Sommerferien, ausser Landes weilen, werden Sie wissen, dass es nicht überall auf der Welt so gut gelingt, den produzierten Zivilisationsmüll zu «entsorgen», sondern dass dieser da und dort vorderhand noch nicht einmal Sorgen zu bereiten scheint. Das beginnt etwa in Italien oder Spanien augenfällig zu werden, verschärft sich in Nordafrika, während die Menschen weiter im Inneren des grossen Kontinents im Süden, aber auch in Lateinamerika vielerorts bereits zwischen (und bisweilen auch von) Müllkippen leben, auf denen sich auch westlicher Abfall, vor allem Elektroschrott und Altkleider, türmt. Insbesondere in Asien liegt das Müllmanagement im Argen, das trotz vielfältiger lokaler Anstrengungen und gesetzlicher Regelungen unter dem Strich nicht annähernd mit der dort rasant gewachsenen Wirtschaftskraft und dem gestiegenen Konsumverhalten Schritt halten kann. Ein grosses, wenn nicht das grösste Müllproblem, das die Vielfalt von Meerestieren und Seevögeln jetzt schon bedroht und auch für den Menschen ein potenzielles Gesundheitsrisiko darstellt, ist Plastik. Laut World Wildlife Fund (WWF; [1]) gelangen jährlich schätzungsweise 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen davon in die Weltmeere, wo das Material dann, mit der Zeit zu kleinsten Teilchen zerrieben, in der Nahrungskette landet – eine unvorstellbare Menge und doch nur ein Bruchteil dessen, was insgesamt an Plastikmüll zu Lande anfällt. Bereits hier entsteht aus nicht verbrannten oder recycelten Kunststoffabfällen Mikroplastik, wird in Flüsse und Seen geschwemmt und setzt sich in den Böden ab. Erinnern Sie sich noch an die Debatten vor einigen Jahren, als Kosmetikhersteller aufgrund der in Cremes, Gels und
Shampoos enthaltenen Kunststoffpartikel am Pranger stan-
den? Auch wenn diese Mikroplastikquellen zweifellos eine
Rolle spiel(t)en – es war doch eher viel Rauch um relativ
wenig. Denn, und das ist längst nicht so bekannt, trotz ent-
sprechender Meldungen und Berichte auch in Publikums-
medien: Die mit Abstand grösste Menge des Mikroplastiks
in der Umwelt stammt aus dem Abrieb von eben nicht nur
aus Naturkautschuk bestehenden Autopneus – rund eine
halbe Million Tonnen jährlich allein in Europa, als Feinstaub
eingeatmet, vom Regen auf Äcker gespült, von Tieren und
Pflanzen aufgenommen …
Mittlerweile finden sich Plastikpartikel überall – in Mu-
scheln und Fischen sowieso, aber auch im Salat, im mensch-
lichen Blut, in der Leber und jüngst auch im Herzen (2), ei-
nem vollständig umschlossenen Organ. Was dies alles für
die Natur bedeutet, ist für jeden, der noch hinschauen mag,
offensichtlich. Nicht so klar ist dagegen, inwieweit die Ge-
sundheit der Menschen, von denen jeder einzelne inzwi-
schen pro Woche rund 5 Gramm Plastik, in etwa das Äqui-
valent einer Bankkarte, zu sich nimmt, dadurch bedroht ist.
Bis anhin gibt es nur wenig Forschung dazu – die Ergebnisse,
die vorliegen, geben allerdings nicht unbedingt zur Beruhi-
gung Anlass. So gilt inzwischen als gesichert, dass Mikro-
plastik Entzündungsprozesse in Zellkulturen in Gang setzt
und damit ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankun-
gen und Krebs sein kann. Und welche Barrieren Partikel im
Nanobereich überwinden und was sie dann anrichten kön-
nen, ist noch gänzlich unbekannt ...
Woran liegt es, dass dieses Thema vergleichsweise wenig
Aufmerksamkeit erfährt? Die Autolobby mag da ihre Inter-
essen vertreten – CO2-Diskussionen und E-Mobilität, die
selbstverständlich ebenfalls, wenn nicht gar noch mehr Rei-
fenabrieb erzeugt, stehen oben auf der Agenda. Letztlich
sind es wohl die immerwährenden, sich im Klein-Klein
verfangenden Mechanismen des gegenseitigen Schuldzu-
weisens, die so bequem von der Eigenverantwortlichkeit
ablenken. So richtig und wichtig Verbote von Kosmetik-
kügelchen, Plastiktüten und Einweggeschirr aus Kunststoff
auch sind: Will die Menschheit nicht eines gar nicht mehr so
fernen Tages am Plastik ersticken, müsste sie endlich ge-
meinsam liebgewonnene Gewohnheiten viel radikaler ab-
legen, der Industrie weitaus schärfere Auflagen machen und
vor allem eine wirkliche Verkehrswende vollziehen.
s
Ralf Behrens
1. World Wildlife Fund (WWF): Verschmutzung der Meere. https://www.wwf. ch/de/unsere-ziele/verschmutzung-der-meere
2. Mikroplastik-Fund im Herz: Experte warnt vor schweren Krankheiten. GEO, 18.8.2023, https://www.geo.de/wissen/gesundheit/mikroplastik-fund-imherz--experte-warnt-vor-schweren-krankheiten-33735414.html
ARS MEDICI 18 | 2023
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