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Chronischer Stress – verborgene Ängste – Folgewirkungen
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Psychischer Stress spielt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung chronifizierter Angstreaktionen. In ihrer Alarmfunktion fühlt sich Angst primär unangenehm an. Wenn sie länger anhält, weil die Ursachen bestehen bleiben, wie zum Beispiel bei chronischem Stress, wird die Angst nicht mehr bewusst wahrgenommen (verdrängt), und es findet eine Gewöhnung (Habituation) statt. Kommt es zur Angstüberflutung, kann das zu Fehlreaktionen von bedrohlichem Ausmass führen, bis zu Dissoziation und Automutilation, stuporöser Erstarrung oder psychotischen Zustandsbildern und Ähnlichem. Dabei imponiert nicht unbedingt eine Angststörung gemäss ICD-11. Deshalb entgehen diese Angstsymptome häufig einer gezielten und systematischen Beobachtung, und die Aufmerksamkeit richtet sich zuerst auf die erwähnten pathologischen Auswirkungen. Die Behandler sollten daher so weit sensibilisiert werden, dass sie subtile Anzeichen von Angst unmittelbar wahrnehmen können. Damit wäre es möglich, auf das jeweilige Ausmass von Angst wirkungsvoll zu reagieren und damit auch direkt an der individuellen Angstkapazität arbeiten zu können.
Sebastian Pfaundler
von Sebastian Pfaundler
Stress und Angst: lebensnotwendig in unserer Evolution Stress und Angst werden alltagssprachlich häufig synonym verwendet. Stress wird als verursachende Spannung oder Druck und Belastung von aussen gesehen. Angst ist eine Emotion, ein Gefühl, das entsprechend vom Individuum sowohl innerlich psychisch erlebt als auch körperlich gespürt wird, primär als Anspannung oder Druck und körperliche Enge (1). Vereinfacht gesagt, führt Stress über eine Kaskade neurobiologischer Phänomene zu Erregung, um den Organismus möglichst rasch und effizient reaktionsbereit zu machen, in Richtung Kampf oder Flucht (fight or flight), eine gelegentlich unterschiedene dritte Variante, Starre (freeze), kann gewissermassen als Flucht nach innen gesehen werden. Angst warnt vor Gefahr, die real von aussen, von innen, nur vorgestellt oder auch schon vorbei sein kann. Angst sorgt jedenfalls für Alarm: Achtung, Gefahr! Was als Herausforderung empfunden wird und wie relevant eine Belastung jeweils ist, ist nicht nur sehr subjektiv, sondern auch abhängig von der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und von Bewältigungssstrategien (Coping). Diese können beim gleichen Individuum situativ unterschiedlich sein. Entsprechend beeinflussen das Mass an Stressoren, individuelle Reaktionsmuster sowie die momentane Befindlichkeit den Umgang mit Stress und das Auslösen von Angst. Sie sind keine Fixgrössen, sondern sie können intrapersonell stark variieren.
Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Alltag kommt der Angst, die häufig auf innerpsychischen (2) Stress zurückzuführen ist, eine grosse Bedeutung zu. Dies umso mehr, als dass Angstsymptome mitunter leicht übersehen werden können, wenn sie schambesetzt sind und als unangenehm empfunden werden und vom Individuum selber nicht bewusst wahrgenommen, sondern gewohnheitsmässig kaschiert und negiert werden. Im psychodynamischen Kontext bezeichnet man solche Automatismen als Abwehr. Das kann auch in der Arzt-Patient-Begegnung geschehen (Fallbeispiel).
Angst als zentrale Emotion Angst zeigt sich psychisch und körperlich Angst ist eine Basisemotion, ein Grundgefühl, welches die Funktion hat, vor Gefahr zu warnen und den Organismus in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das geschieht im Alltag sehr häufig und quasi nebenbei, da vielfach Gefahren schon wieder verschwunden sind oder sich Situationen als nicht wirklich gefährlich erweisen. Demnach laufen derartige Phänomene grösstenteils unbemerkt ab. Auch bei chronischem Stress, unabhängig davon, ob dieser bewusst wahrgenommen wird oder nicht, können Angstreaktionen auftreten, die gar nicht (mehr) bemerkt werden. Dauern diese längere Zeit an oder übersteigen sie die Kapazitätsgrenze der Betroffenen, kann das zu Maladaptation führen. Denn unterschwellig sind die Ängste immer noch aktiv, Anspannung und Abwehrreaktionen bleiben bestehen. Als typische Auswirkungen auf körperlicher Ebene zeigen sich erst An-
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spannungen im Bereich der quergestreiften Muskulatur. Das sind zum Beispiel unwillkürliches Wippen mit dem Fuss oder dem Bein, «Nervosität» und allgemeine Unruhe mit höherem Arousal oder (Muskel-)Zittern. Schliesslich sind Muskelverspannungen mit Fehlbelastung und Bewegungseinschränkung möglich und in weiterer Folge Schmerzsyndrome. Bei einer zusätzlichen Beteiligung von glatter Muskulatur kann es zu Symptomen im Urogenitalbereich und im Magendarmtrakt kommen oder es können auch das Bronchial- und Gefäss-System mitbetroffen sein. Entsprechend treten bei anhaltendem Verlauf mitunter Organbeschwerden auf, wie Atemeinschränkung, Nausea, Darmkrämpfe, beschleunigte Darmmotilität bis zur akuten Diarrhö bzw. Stuhlabgang oder einem vermehrten Miktionsbedürfnis samt imperativem Harndrang oder spontanem Urinabgang. Am häufigsten werden unangenehme Engesensationen (Angst hat ethymologisch mit Enge zu tun (3), speziell im Hals-Kehlkopf- und Thorax-Bereich sowie im Epigastrium, genannt. Allgemeine psychische Folgeerscheinungen sind zum Beispiel Konzentrations- und Schlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit, Gedankenkreisen oder allgemeine Erschöpfung usw. (zur speziellen Symptomatik siehe unten).
Angst als Stressfolgeerkrankung Stress wird dann zum Problem, wenn er ein Übermass erreicht, also den Organismus überfordert, sei es durch Intensität oder Dauer, sei es als Auslöser verschiedener körperlicher und seelischer Reaktionsmuster oder wenn sich der Organismus nicht mehr davon erholen kann. Angst wird dabei ebenso zum Problem, wenn sie unverhältnismässig bzw. übermässig ist oder persistiert, obschon die Gefahr schon vorüber oder gar nicht wirklich von Bedeutung ist. Kurz: anhaltende Erregung zur Schaffung von Reaktionsbereitschaft erschöpft, und fortgesetzte Alarmierung des Organismus führt zu Vermeidungsverhalten und Rückzug. Kapazitäten an Reaktionsund Alarmbereitschaft werden dadurch aufgebraucht, in der Folge schwinden Widerstands- und Abwehrkraft sowie Wohlgefühl und Vitalität. Was von aussen betrachtet absurd wirken mag, wird vom betroffenen System selber gar nicht mehr erkannt: Es ist hyperreaktiv, unabhängig von realer Herausforderung oder Gefahr und deshalb ständig in Alarmbereitschaft, erregt und angespannt. Zunehmend führen bereits geringe Reize zum Auslösen von Stress-AngstReaktionen, die den Organismus wiederum belasten. Das kann über Jahre so verlaufen, bis die Symptomatik schliesslich bewusst als störend empfunden wird. Dann ist sie jedoch bereits chronifiziert und ein unmittelbarer Zugang deutlich erschwert. Eine Reihe von Stress-Folgeund Angsterkrankungen sind möglich, wie dies diagnostisch differenziert im ICD-11 (4) abgebildet und therapeutisch in anerkannten Leitlinien (5) diskutiert wird.
Klinisch braucht es manchmal weitere Differenzierung zusätzlich zur ICDDiagnostik Eine besondere Erscheinungsform der Angst, die unbewusste Angst An dieser Stelle sei auf spezielle Erscheinungsformen von Angst hingewiesen, die häufig nicht ursächlich mit
dieser in Zusammenhang gebracht werden. Das geschieht, weil sie beim Betroffenen selbst unbemerkt und daher unbewusst abläuft. Manchmal, vor allem bei intensiver Ausprägung, werden diese erst indirekt durch das Auftreten massiver, sogenannt primitiver (Angst-) Abwehrmechanismen (6) symptomatisch. Sie sind dann so stark ausgeprägt, dass vor allem Letztere als klinisch relevante Pathologie imponieren.
Primitive Abwehrmechanismen gegenüber übermässiger Angst (Angstüberflutung) Darüber hinaus können solche Abwehrsymptome ihrerseits selbst wieder Angst auslösen und dadurch im Sinn eines Circulus vitiosus zu massiven klinischen Phänomenen führen. Dazu zählen unter anderem Projektion, Spaltung, Denk- und Wahrnehmungsabbruch, Dissoziation, Halluzination, Psychose oder auch funktionelle Erscheinungen wie Lähmungen, pseudoepileptische Anfälle, Bewusstseinsverlust (siehe Fallbeispiel).
Feststellen der Angstintensität Eine praktische Möglichkeit sowohl bei der Diagnostik als auch zur Selbstregulierung stellt die Anwendung einer numerischen Ratingskala, hier als «Angstampel» bezeichnet dar. Es werden pragmatisch drei Stufen von Angstintensität differenziert im Zusammenhang mit unterschiedlicher Beteiligung des Nervensystems und dessen Erfolgsorgane. Diese vereinfachte Darstellung von in Wirklichkeit komplexen neurohumoralen Abläufen dient der erleichterten Anwendbarkeit auch für Patienten ohne neurobiologische Hintergrundkenntnisse. Ein Element dieser «Angstampel» ist die numerische Ratingskala von 0 bis 10. Diese dient dazu, die Angstintensität zu einem gewissen Zeitpunkt selbst einzuschätzen. Null bedeutet angstfrei, also ohne Angstzeichen, und somit seelisch-körperliche Entspanntheit. Zehn steht für die Intensität maximal erlebter Angst, beispielsweise während einer Panikattacke. Im Allgemeinen sind diese Einschätzungen als Referenz zum Verlauf und Erleben der Angst-Intensität für dieselbe Person gut brauchbar (7). Die numerische Beschreibung wird speziell im Rahmen einer Verlaufsbeobachtung als hilfreich angesehen. Sie kann für die Summe der Symptome oder auch für einzelne spezifische Zeichen wie Nervosität, Anspannung und subjektives (Wohl-)Befinden bei der Exposition mit etwas Angstauslösendem oder im Alltagsverlauf während einer Beobachtungsperiode herangezogen werden.
Für die Praxis braucht es handfeste Diagnose- und Therapietools Ein Beispiel: numerische Ratingskala als Angstampel Bei Alarmstufe I ist vor allem das periphere Nervensystem aktiviert. Entsprechend tritt vermehrte Anspannung der Willkürmuskulatur bzw. der quergestreiften (Skelett-)Muskulatur auf. Das macht biologisch Sinn, denn durch Erregung kommt es schon zur muskulären Bereitschaft für Flucht oder Kampf. Neben der Kaumuskulatur (Beisskraft) wird des Weiteren die Interkostalmuskulatur zur Erhöhung des Atemvolumens aktiviert, was sich sich speziell auf niedrigem Angstniveau bereits durch unwillkürliches Seufzen äussern kann.
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Für den Betroffenen ist noch eine weitgehend willkürliche Steuerung und damit eine Kontrolle möglich, somit besteht keine Gefahr zur Überreaktion. Deshalb liesse sich auf einer virtuellen Ampel symbolisch die Farbe Grün zuordnen. Im subjektiven Erleben der Intensität auf einer numerischen Ratingskala von 0 (keine) bis 10 (maximale Angst) wird hier sehr plausibel und verlässlich der Bereich von 1 bis 3 oder 4 angegeben. Insgesamt wird diese Angst in Form von «Nervosität», Anspannung und Bewegungsdrang wahrgenommen und als effektiv erhöhte Reaktionsbereitschaft verspürt. Erst auf Alarmstufe II beginnt eine gewisse Aktivierung des autonomen oder vegetativen Nervensystems (hormonell bzw. über den Sympathikus) mit zunehmend glatter Muskulatur (und teilweise auch der Herzmuskulatur) als Zielorgan. Blutdruck- und Pulsfrequenzerhöhung, Darm- und Harntrakterregung mit entsprechenden Reaktionsformen bis zu vermehrtem Harndrang auch bei nur kleinen Urinportionen sind möglich. Ausserdem können vermehrte (unwillkürliche) Anspannung und konsekutive Einengung des Brustkorbs bis hin zu einer oberflächlicher Atmung (latente Hyperventilation) auftreten. Es imponiert jetzt weniger die Flucht- oder Kampfbereitschaft als eher die vegetative Symptomatik. Dies sollte nicht als allgemeine «Entspannung» fehlinterpretiert werden. Auf der numerischen Ratingskala von 0 (keine) bis 10 (maximale Angst) würde hier die Angst-Intensität mit 4 bis 6 oder 7 angegeben werden. Die Ampel steht auf «Gelb», dabei ist es offen, ob die Angst wieder abnimmt (Richtung «Grün») oder weiter ansteigt (Richtung «Rot»). Im Bereich «Gelb» unterliegen die Angstsymptome jedenfalls zunehmend weniger der willkürlichen Kontrolle. Auf Alarmstufe III sind heftige Angstreaktion und direkte Beteiligung des zentralen Nervensystems miteinander gekoppelt. Wenn überhaupt noch möglich, schätzen die Betroffenen auf der numerischen Ratingskala die Intensität mit (7 oder) 8 bis 10 ein. Jetzt laufen neben den erwähnten zentralen neurohumoralen Stress- und Angstreaktionen mit Ausschüttung von Katecholaminen und von Cortisol zentrale Phänomene ab, mit Herabsetzung von Sinneswahrnehmung durch Auswirkungen auf einzelne Hirnnerven und unter Umgehung der Grosshirnrindenbeteiligung. Es kommt zu einer Einschränkung des Sehvermögens (mit u. a. subtilen Zeichen wie Augenreiben bei Verschwommensehen, Sehen wie durch Milchglas), zu reduziertem Hörvermögen (wiederholtes Nachfragen trotz gleichbleibender Lautstärke, Hören wie durch Watte) und zu einer Verlangsamung der Auffassungsfähigkeit mit entsprechend reduzierten kognitiven Leistungen und vermindertem Denkvermögen (bis zum Abbruch von Kognition und Denkvermögen). Auf diesem Niveau kann es auch zu Panik- und Notwehrreaktionen kommen, die weitgehend unwillkürlich ablaufen mit beschriebener Beeinträchtigung von Wahrnehmung und Denkvermögen bis hin zu Blackout und Bewusstseinsverlust. Entsprechend ist eine konstruktive Begegnung oder gar Zusammenarbeit mit Menschen auf diesem Angstniveau nicht mehr möglich. Evolutionsbiologisch macht im Moment von unausweichlicher Gefahr die Reduktion auf einen Notwehrmodus oder Todstellreflex durchaus Sinn. Dazu kommen
eine Einschränkung der Bewusstheit und auch eine deutliche Reduktion bis Ausschaltung der (bewussten) Schmerzwahrnehmung (Dissoziation).
Gemeinsame Referenz für Arzt und Patient Bei Erkennen von Angst im «gelben» bzw. «roten» Bereich, spätestens jedenfalls ab einem Level von 8 bis 10 sollte in erster Linie alles zur sofortigen Angstsenkung unternommen werden. Dies geschieht durch Aufforderung zu Anspannung und bewusster Bewegung der Skelettmuskulatur. Dadurch wird der Fokus absichtlich auf die Aktivierung des peripheren Nervensystems gerichtet. Lassen Sie, wenn möglich, den Patienten die Arme nach vorne mit supinierten Handflächen für ca. drei Minuten ausstrecken, dabei sollte er aufstehen und eventuell sein Gewicht auf nur ein Bein verlagern und das andere leicht vom Boden heben. Jetzt ist eine muskuläre Aktivierung und damit die Rückkehr von kognitiver Kontrolle über die muskuloskelettalen Reaktionsfolgen eingeleitet. Das kann durch Anregung zu einer langsamen, verzögerten Ausatmung und einem langsamen Luftholen bis zur Anleitung zu isotoner Kontraktion der Skelettmuskulatur begleitet werden. Aus der hier dargestellten Intensitätshierarchie der Angst lassen sich in der Begegnung mit dem Patienten auch direkte Schlussfolgerungen ziehen, dahingehend, ob die weitere Konfrontation mit Stressoren bzw. mit angstauslösender Exposition sinnvoll ist. Ebenso können Verlaufsbeobachtungen im Zusammenhang mit anxiolytisch wirksamen Medikamenten (siehe Leitlinienempfehlungen) gemacht werden. Wenn die Angst im «grünen» Bereich (numerische Ratingskala 0–4) ist, können Exploration, Exposition oder Konfrontation erfolgen oder fortgesetzt werden, und der Patient erlernt gleichzeitig, selbst sein Angstausmass einzuschätzen und bewusst zu steuern bzw. zu senken. Dies kann wiederholt genutzt werden, auch wenn die Angst zuvor im «gelben» oder «roten» Bereich war.
Fallbeispiel Ausgangssituation: Eine 37-jährige Frau kommt nach wiederholten und insgesamt mehrjährigen stationären Aufenthalten bei bekannter Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetyp in stabilem Zustand zur Abklärungsuntersuchung auf Begehren einer Versicherungsanstalt zwecks Einschätzung des Rentenanspruchs. Sie zeigt einerseits einen spontanen Redefluss, andererseits gibt sie auf direkte Fragen nur knappe und zeitweise ausweichende Antworten. Als es zur Befragung ihres Beziehungslebens kommt, schweigt sie erst, reibt sich wiederholt die Augen, bittet um Wiederholung der Frage, gibt wiederum kaum Antwort und verlässt dann plötzlich hastig das Untersuchungszimmer. Sie kehrt zurück und wird mit ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft konfrontiert, worauf sie die Besprechung abbricht und das Gebäude verlässt.
Nächste Episode: Mehrere Stunden später erfolgt nach Einlieferung durch den Notarzt in ein Zentrumsspital die notfallmässige handchirurgische Primärversorgung bei unregelmässiger Schnittverletzung im volaren distalen Unterarmbereich mit teilweiser Durchtrennung und ausgefranster Ablösung mehrerer Beugesehnen und Verletzung von
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Gefässen und Nerven. Die Patientin kann nichts zum Verletzungshergang sagen, sie weiss nicht, was geschehen ist. Sie muss sich diese Verletzungen jedoch selbst zugefügt haben. Den Notarzt habe schliesslich sie selbst gerufen. Es bestehe eine Amnesie seit dem Verlassen der hier zu Beginn beschriebenen Versicherungsuntersuchung. Auch Jahre später bleiben Sensibilitätsdefizite im volaren Bereich von Digitus II und III sowie an radialer Handinnenseite bestehen. Die Motorik ist bei der Greifund Haltefunktion in dieser Hand dauerhaft deutlich eingeschränkt. Zudem bestehen chronische belastungsabhängige Schmerzen im distalen Unterarm- und Handgelenksbereich sowie muskuläre Atrophien in der beschriebenen Region.
Verlauf Mehrere Jahre später erfolgt im ambulanten Setting, dieses Mal jedoch unter sorgfältigem klinischem Monitoring mittels «Angstampel», eine detaillierte Exploration der wiederholten Selbstverletzungen. Es wird besonders darauf geachtet, dass die Angst im «grünen Bereich» bis höchstens im «gelben Bereich» bleibt. Ansatzweise kann sich die Patientin nun auch an den Vorgang im Anschluss an die beschriebene Versicherungsuntersuchung erinnern. Die damalige Befragung hatte in ihr bedrohliche Bilder von mehreren sexuellen Vergewaltigungssituationen aufsteigen lassen (Flashback). Sie bekam massiv Angst und traute der Untersucherin nicht mehr (Projektion). Sie hörte sie kaum noch und wollte dann panikartig nur noch nach Hause fliehen (Angstüberflutung, Rot auf «Angstampel»). Sie erinnert sich schliesslich, wie Sie unmittelbar nach dem fluchtartigen Aufbruch unterwegs den Verschluss einer Getränkedose liegen gesehen und an sich genommen hatte (Dissoziation). Etwas später kam in ihr der Drang, sich zu bestrafen und zu verletzen. Scheinbar besonnen, ohne Schmerzen zu spüren und ohne Bewusstsein über die Konsequenzen und nicht in suizidaler Absicht schnitt sie sich dann abseits auf einer Parkbank so tief wie möglich am Unterarm bis auf den Knochen und schabte in aller Ruhe an Muskeln und Sehnen. Sie verband sich selbst mit ihrem Schal und fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiter nach Hause. Dort erinnerte sie sich vorerst gar nicht und erst frische Blutspuren brachten sie dazu, bei sich nachzusehen. Völlig erschrocken und entsetzt alarmierte sie dann den Notarzt. Ihr Bewusstsein klarte auf, und sie spürte zunehmend Schmerzen. Derartige dissoziative Episoden hatte sie schon früher und dies öfters, wobei es wiederholt zu teilweise auch massiven Selbstverletzungen gekommen war, die im Nachhinein gesehen immer ähnlich diesem Muster abliefen.
Diskussion Chronischer Stress und in der Folge Angststörungen stellen ein komplexes psychopathologisches Geschehen dar. Wie sich bei diesem Fallbeispiel, sicherlich im Rahmen einer komplexen Grundstörung, in der späteren mehrjährigen ambulanten Aufarbeitung immer deutlicher zeigte, gingen allen Selbstverletzungen jeweils massive Angstzustände voraus, die nie als solche erkannt und entsprechend nicht sofort beachtet worden waren. Nachdem die Patientin diese Abläufe erkannt hatte, konnte sie selber Hilfe organisieren, sobald
Merkpunkte:
● Gängige Diagnosemanuals (zum Beispiel ICD-11, DSM V) dienen der Einteilung von Angststörungen. Validierte Behandlungsleitlinien helfen zur Lege-artisBehandlung. Daneben gibt es auch noch andere, weniger prominente Angstformen, die unbemerkt zu ausgeprägten Folgestörungen führen können.
● Auswirkungen von unbewusst auftretender Angst sind individuell verschieden und lassen sich schematisch in verschiedene Schweregrade einteilen. Klinisch gilt es, eine Minderung von Sinneswahrnehmung und kognitiven Funktionen bis hin zu Blackout und primitiven Angst-Abwehr-Reaktionen (Projektion, Spalten, Dissoziieren, Psychose, Konversion mit Lähmung usw.) rechtzeitig zu erkennen und ihr effizient zu begegnen.
● Eine praktische und für Arzt und Patient hilfreiche Einschätzung der Angstintensität stellt eine numerische Ratingskala von 0 (keine Angst) bis 10 (maximale Angst) dar, hier als «Angstampel» bezeichnet, bei der drei Bereiche in Hinblick auf Intensität der Angst unterscheidbar sind: 1–3 oder 4: «Grün», quergestreifte Muskulatur ist aktiviert, Willkürkontrolle vorhanden, keine Angstüberlastung. Grundsätzlich fähig zu Kampf- oder Fluchtreaktion, daher ist Exposition und Konfrontation schadlos möglich. 5–7: «Gelb», glatte Muskulatur ist aktiviert mit zunehmend vegetativer Symptomatik und rückläufiger Willkürsteuerung. Vorsicht vor weiterem Anstieg der Angst! 8–10: «Rot», eingeschränkte Sinneswahrnehmung und verminderte kognitive Funktionen möglich bis hin zu Angstüberflutung und Abwehrreaktionen ausserhalb der bewussten Kontrolle. Eine weitere Exposition oder Auseinandersetzung ist überfordernd und daher sinnlos.
● Durch Fokussierung auf Aktivierung der quergestreiften Muskulatur lässt sich Angst reduzieren. Dazu kommen weitere Massnahmen wie Ablenkung von angstauslösenden Inhalten, Notfallmedikation (Tranquilizer, Neuroleptika), bewusst auf Exspiration fokussierte Atemanleitung gegen eine latente oder manifeste Hyperventilation. Ein Einsatz von aktiver Muskelspannung ist in diesem Kontext ein gutes Zeichen von Belastbarkeit und Angstkapazität.
derartige Ängste symptomatisch wurden, und es kam
auch Jahre später zu keinen weiteren und unbeabsich-
tigten Selbstverletzungen mehr.
Gerade bei der Exploration von gutachterlichen Fragen
und im Besonderen bei Traumatisierten können durch
Erinnerungen im Sinne von Flashbacks zum Teil massive
Ängste mobilisiert werden, wodurch es zu Schwierig-
keiten in der Kommunikation, zu Erinnerungslücken
und zur Einschränkung von Denken und Wahrnehmung
kommen kann, bis hin zu Projektion und Dissoziation. Es
würde der Situation nicht gerecht werden, in diesem
Moment mangelnde Kooperationsbereitschaft oder zu
wenig Bemühen von Seiten des Patienten zu attestie-
ren. Vielmehr sollte rechtzeitig auf eine nicht bewusst
wahrgenommene Angst geachtet und bei deren Erken-
nen eine gemeinsame Einschätzung der Intensität mit
gemeinsamen Reduktionsbemühungen angestrebt
werden.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Sebastian Pfaundler Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
7310 Bad Ragaz E-Mail: s.pfaundler@psyqual.ch
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Referenzen: 1. Kapfhammer HP: Depression, Angst, traumatischer Stress und
internistische Erkrankungen: Eine psychosomatische und somatopsychische Perspektive. Springer; 2023. 2. Abbass A et al.: Psychophysiologische Störungen: Ein Leitfaden für Diagnose, Psychotherapie und Psychosomatische Grundversorgung. Kohlhammer; 2020. 3. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. https://www.dwds.de/ wb/etymwb/Angst. Letzter Abruf: 30.1.2023. 4. ICD-11: https://icd.who.int/ct11/icd11_mms/en/release. Letzter Abruf: 30.1.2023. 5. Beutel ME et al.: Überarbeitete S3-Leitlinie: Behandlung von Angststörungen. PiD – Psychother Dialog. 2022; 23(03). 6. Abbass A: Widerstände überwinden: Fortgeschrittene psychotherapeutische Techniken. Kohlhammer; 2022. 7. Bortz J et al.: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 4., überarb. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg 2006.
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