Transkript
FORTBILDUNG
Diagnostik und Management bipolarer Störungen
Aktualisierte NICE-Guidelines legen verstärkt Gewicht auf Psychotherapie
Die bipolare Störung ist eine komplexe wiederkehrende schwere psychische Erkrankung, die durch auf der einen Seite manische oder hypomanische Episoden mit Euphorie, Überaktivität und enthemmtem Verhalten sowie andererseits depressive Phasen mit umfassendem Verlust von Interesse und Motivation gekennzeichnet ist. Zwischen diesen Episoden liegen häufig Zeiträume, in denen eine weniger stark depressive Gemütslage vorherrscht. Während in der Vergangenheit hauptsächlich eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva propagiert wurde, unterstreichen aktuelle Therapieempfehlungen den Stellenwert psychologischer Interventionen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Die bipolare Störung ist mit einem erhöhten Risiko für Suizide, für körperliche Erkrankungen wie ischämische Herz-
Merksätze
O Grundversorger sollten Erwachsene, die sich mit Depressionen vorstellen, nach vorausgegangenen Episoden von Überaktivität oder enthemmtem Verhalten befragen. Hatte solches über mehr als vier Tage Bestand, ist der Patient an einen Spezialisten weiterzuweisen.
O Falls der Hausarzt bei einem minderjährigen Patienten den Verdacht auf das Vorliegen einer bipolaren Störung hat, sollte dieser für eine detaillierte Diagnostik an eine kinder-/jugendpsychiatrische Einrichtung weitergewiesen werden.
O Die Auswahl von zur Behandlung akuter Episoden geeigneten Psychopharmaka ist gemeinsam mit dem Patienten zu treffen und das Therapieregime regelmässig zu überprüfen.
O Die hohe Rückfallquote nach einer manischen oder depressiven Episode hat wichtige Konsequenzen für die Langzeittherapie der bipolaren Erkrankung.
O Lithium stellt die effektivste Langzeittherapie bipolarer Störungen dar.
O Neben der medikamentösen Behandlung gewinnen pychologische Interventionen zunehmend an Bedeutung.
krankheit, Diabetes, chronisch-obstruktive Atemwegserkrankungen und Pneumonie sowie für unbeabsichtigte Verletzungen assoziiert. Betroffene leiden häufig zusätzlich unter weiteren psychischen Problemen wie Angststörungen, Substanzmissbrauch oder Störungen der Impulskontrolle. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Patienten nach einer manischen oder depressiven Episode einen Rückfall erleiden, hat wichtige Konsequenzen für die Langzeittherapie der Erkrankung. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat kürzlich aktualisierte Empfehlungen zur Diagnose und zum Management von bipolaren Störungen bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern herausgegeben, die das «British Medical Journal» jetzt im Rahmen seiner Artikelserie über neue Leitlinien für die klinische Praxis zusammengefasst hat.
Allgemeine Behandlungsempfehlungen Ab dem Zeitpunkt der Diagnose sowie während der Therapie sollte der Behandler dem Patienten grundsätzlich positive Botschaften hinsichtlich dessen Genesung übermitteln. Der Aufbau einer unterstützenden und einfühlsamen ArztPatienten-Beziehung ist essenzieller Bestandteil der Betreuung. So früh wie möglich sollte mit dem Patienten und seinen Betreuern ausgehandelt werden, wie der Umgang mit persönlichen Informationen aussehen soll. Im Zusammenhang mit dem Anspruch des Patienten auf Diskretion ist auf das Bedürfnis der Betreuer, die Perspektive des Patienten zu verstehen hinzuweisen, sowie darauf, dass es wichtig ist, Informationen über Risiken weitergeben zu können. Dabei sollte ein gemeinschaftlicher Ansatz gepflegt werden, der Betroffene und ihre Betreuer unterstützt und gleichzeitig deren individuelle Bedürfnisse und Wechselbeziehungen respektiert. Beim Einsatz jeglicher psychotroper Medikamente ist sicherzustellen, dass die Patienten ihrem jeweiligen Entwicklungsstand angepasste Informationen hinsichtlich der Ziele und möglichen Nebenwirkungen der Behandlung inklusive sämtlicher erforderlicher Untersuchungen erhalten und ausreichend Gelegenheit haben, Fragen zu stellen. Die Medikamentenauswahl ist gemeinsam mit dem Patienten und – vorbehaltlich dessen Einverständnis – auch unter Berücksichtigung des Standpunkts des Betreuers zu treffen. Das Therapieregime ist regelmässig zu überprüfen, sodass nach einer akuten Episode nicht mehr benötigte Medikamente abgesetzt werden.
Bipolare Störungen bei Erwachsenen Diagnostik und Therapie in der Hausarztpraxis Erwachsene, die sich mit Depressionen in der Hausarztpraxis vorstellen, sollten nach vorausgegangenen Episoden von
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Tabelle:
Schlüsselsymptome von Manie und schwerer Depression
Manie O umfassender grossspuriger Affekt O überhöhtes Selbstwertgefühl O gesteigerte Redseligkeit O vermindertes Schlafbedürfnis O gesteigertes impulsives risikofreudiges Verhalten
Depression O gedrückte Stimmung O umfassender Verlust von Interesse an Aktivitäten O Gefühl der Wertlosigkeit O Gewichtsab- oder -zunahme O suizidale Gedanken oder Handlungen
Überaktivität oder enthemmtem Verhalten gefragt werden. Hatte solches über mehr als vier Tage Bestand, sollte der Patient für eine psychiatrische Untersuchung an einen Spezialisten weitergewiesen werden. Bei Verdacht auf Manie oder schwere Depression (Schlüsselsymptome siehe Tabelle 1) oder falls die Patienten eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen, ist eine solche Überweisung dringend zu veranlassen. Nach Übertragung der entsprechenden Verantwortlichkeit durch die Sekundärversorgung sollte ein Monitoring der physischen Gesundheit von Personen mit bipolaren Störungen erfolgen und im weiteren Verlauf mindestens jährlich wiederholt werden. Ein solcher umfassender Gesundheitscheck sollte sich auf kardiovaskuläre Störungen, Diabetes, Adipositas und Atemwegserkrankungen konzentrieren. Ein Bericht über die Untersuchungsergebnisse sollte dem Therapiekoordinator beziehungsweise dem Psychiater zugehen und dort Eingang in die Therapieakte finden. Zurzeit existieren keine eindeutigen Hinweise dafür, dass Personen mit einer durch einen schnellen periodischen Wechsel gekennzeichneten bipolaren Störung eine andere Behandlung erhalten müssen als diejenigen mit anderen Formen der Erkrankung.
Management von Manie oder Hypomanie in der Sekundärversorgung Personen, die eine Manie oder Hypomanie entwickeln und keine Antipsychotika oder Stimmungsstabilisierer einnehmen, kann unter Berücksichtigung von Patientenverfügung, persönlichen Präferenzen des Patienten und des klinischen Kontexts (inkl. Komorbidität, früheres Therapieansprechen, Nebenwirkungen) Haloperidol, Olanzapin, Quetiapin oder Risperidon angeboten werden. Falls der Patient bereits Lithium einnimmt, sollten die Lithium-Plasmalevel zur Therapieoptimierung kontrolliert und die zusätzliche Gabe von Haloperidol, Olanzapin, Quetiapin oder Risperidon erwogen werden. Lamotrigin sollte zur Behandlung der Manie nicht eingesetzt werden. Wenn der Patient eine Manie oder Hypomanie entwickelt und als Monotherapie ein Antidepressivum erhält, ist zu erwägen, das Antidepressivum abzusetzen und unabhängig davon ein Antipsychotikum anzubieten.
Management von bipolarer Depression in der Sekundärversorgung Patienten mit bipolarer Depression sollte eine speziell für bipolare Störungen entwickelte Psychotherapie angeboten werden, für die ein publiziertes evidenzbasiertes Manual zur Durchführung existiert. Dabei kommt eine mit den klinischen NICE-Guidelines im Einklang stehende intensive psychologische Intervention (kognitive Verhaltenstherapie, interpersonelle Therapie, Paar-Verhaltenstherapie) in Frage. Der mögliche Nutzen und die Risiken psychologischer Behandlungen sollten mit dem Patienten unter Berücksichtigung seiner Präferenzen diskutiert werden. Seine Gemütslage ist hinsichtlich Anzeichen für Manie/Hypomanie oder Verschlechterung depressiver Symptome zu überwachen. Bei Personen mit moderater bis schwerer bipolarer Depression, welche nicht medikamentös behandelt wird, kann je nach Patientenpräferenz und vorangegangenem Therapieansprechen eine kombinierte Gabe von Fluoxetin und Olanzapin oder aber von Quetiapin allein erwogen werden. Falls der Patient dies wünscht, ist auch die alleinige Gabe von Olanzapin oder Lamotrigin möglich. Lamotrigin kommt zudem in Betracht bei ausbleibendem Ansprechen auf Fluoxetin/ Olanzapin oder Quetiapin allein. Bei Patienten, die bereits Lithium einnehmen, sollte dessen Plasmakonzentration kontrolliert und je nach Ergebnis die Lithiumdosis erhöht werden. Bei maximalen Plasmalithiumwerten kann unter Berücksichtigung der Patientenpräferenz und des vorangegangenen Therapieansprechens zusätzlich entweder Fluoxetin, kombiniert mit Olanzapin, oder Quetiapin allein verabreicht werden. Auf Patientenwunsch ist auch die alleinige Gabe von Olanzapin ohne Fluoxetin oder aber von Lamotrigin als Ergänzung zu Lithium möglich. Bei ausbleibendem Ansprechen auf die zusätzliche Gabe von Fluoxetin/Olanzapin oder Quetiapin sollte diese beendet und stattdessen Lamotrigin zusätzlich zu Lithium verabreicht werden.
Langfristiges Management in der Sekundärversorgung Nach jeder manischen oder depressiven Episode sollte die langfristige Kontrolle der Erkrankung wenn möglich mit dem Patienten und, falls angebracht, mit den Betreuern abgestimmt werden. Ziel eines solchen Gesprächs ist, den Beteiligten dabei zu helfen, zu verstehen, dass es sich bei einer bipolaren Störung häufig um einen schubförmig remittierenden Zustand handelt, der neben einem adäquaten Selbstmanagement das Hinzuziehen von professionellen Therapeuten der Grund- und Sekundärversorgung sowie die Beteiligung von Betreuern erfordert. Folgende Punkte sollten in einem solchen Aufklärungsgespräch zur Sprache kommen: O Natur und unterschiedliche Verläufe bipolarer Störungen O Stellenwert psychologischer und pharmakologischer Inter-
ventionen zur Rückfallprävention und zur Symptomkontrolle O Rückfallrisiko nach Reduzieren oder Beenden der zur Behandlung einer akuten Episode eingenommenen Medikation O mögliche(r) Nutzen und Risiken nach Medikamentenstopp, inkl. bei Frauen mit Kinderwunsch O persönliche Geschichte der bipolaren Erkrankung einschliesslich Schwere und Häufigkeit von manischen oder depressiven Episoden mit Hauptaugenmerk auf assoziierte Risiken und negative Auswirkungen
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O Ansprechen auf vorangegangene Therapien O Symptome zwischen einzelnen Episoden O mögliche Auslöser für Rückfälle, frühe Warnzeichen und
Selbstmanagementstrategien O mögliche Dauer der Therapie sowie Zeitpunkt und Häu-
figkeit für deren Überprüfung
Unterstützend sollten verständliche schriftliche Informationen über bipolare Störungen für die Betroffenen bereitgehalten und ausreichend Zeit zur Diskussion der Möglichkeiten und Sorgen eingeplant werden. Auf bipolare Störungen zugeschnittene strukturierte psychotherapeutische Interventionen (individuelle, Gruppen- oder Familientherapie), für die publizierte evidenzbasierte Anleitungen existieren, sollten angeboten werden zur Rückfallprävention und für Patienten mit persistierenden Symptomen zwischen einzelnen manischen oder depressiven Episoden. Für eine geplante medikamentöse Langzeitbehandlung sind Substanzen in Erwägung zu ziehen, die während manischer oder depressiver Episoden wirksam waren. Die Patienten sollten dahingehend befragt werden, ob sie eine solche Behandlung fortsetzen oder zu Lithium wechseln möchten, und darüber aufgeklärt werden, dass Lithium die effektivste Langzeittherapie bipolarer Störungen darstellt. Lithium sollte als Erstlinien-Langzeitmedikament zur Behandlung bipolarer Störungen angeboten werden. Falls Lithium nicht wirksam ist, kann zusätzlich Valproat gegeben werden. Falls Lithium nicht gut toleriert wird oder nicht geeignet ist (z. B. bei Personen, die routinemässige Blutuntersuchungen ablehnen), kann stattdessen Valproat oder Olanzapin oder, wenn es während einer manischen oder depressiven Episode wirksam war, auch Quetiapin in Erwägung gezogen werden.
Unterstützung der Genesung und Rückkehr in die Primärversorgung Personen mit bipolaren Störungen, bei denen die Therapie wirksam war und die stabil bleiben, sollte angeboten werden, die Behandlung beim Grundversorger fortzusetzen. Ein entsprechender Wunsch des Patienten ist dann zu dokumentieren und ein entsprechender Verantwortungstransfer zu koordinieren.
Bipolare Störungen bei Kindern und Jugendlichen Falls der Hausarzt bei einem Kind oder Jugendlichen den Verdacht auf das Vorliegen einer bipolaren Störung hat, sollte der junge Patient an eine kinder-/jugendpsychiatrische Einrichtung weitergewiesen werden. Die Diagnose einer bipolaren Störung sollte nur nach einer Phase der intensiven, prospektiven Langzeitbeobachtung durch einen Arzt beziehungsweise ein multidisziplinäres Team mit Ausbildung und Erfahrung in der Begutachtung, der Diagnostik und der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit dieser Erkrankung gestellt werden. Zu diesem Zweck wird eine Zusammenarbeit mit Eltern oder Betreuern des Kindes beziehungsweise des Heranwachsenden empfohlen. Zur Behandlung von Manie und Hypomanie bei Heranwachsenden wird auf die NICE Technology Appraisal Guidance für Aripiprazol zur Behandlung moderater bis schwerer manischer Episoden bei Jugendlichen mit bipolaren
Störungen sowie auf entsprechende Empfehlungen für Erwachsene verwiesen. Bei der Behandlung von Kindern sollen die British National Formulary (BNF) for Children zur Anpassung der medikamentösen Therapie herangezogen und die höhere Wahrscheinlichkeit des Auftretens zahlreicher Nebenwirkungen in Betracht gezogen werden. Eine antipsychotische Behandlung sollte routinemässig nicht länger als 12 Wochen dauern. Valproat darf bei gebärfähigen Mädchen oder jungen Frauen nicht eingesetzt werden. Jungen Patienten mit bipolaren Störungen sollte eine strukturierte psychiatrische Intervention (individuelle kognitive Verhaltens- oder interpersonelle Therapie) angeboten werden. Eine solche Intervention sollte sich über mindestens drei Monate erstrecken und eine publizierte evidenzbasierte Anleitung vorweisen können, welche ihre Durchführung beschreibt.
Grenzen überwinden
Es existiert die Vorstellung, dass die bipolare Störung, weil sie
bedeutende genetische und biologische Konsequenzen hat,
mit Medikamenten therapiert werden muss, und für viele
Behandelnde sind Antidepressiva die Substanzklasse der
Wahl zur Therapie dieser Erkrankung. Die hier dargestellte
NICE-Guideline wendet sich gegen diese Fehleinschätzung
und macht deutlich, dass Psychotherapie sowohl in der
Grund- als auch in der Sekundärversorgung bei bipolaren
Störungen effektiv ist und Rückfälle verhindern kann. Psy-
chologische Interventionen haben insbesondere auch bei jun-
gen Patienten einen hohen Stellenwert, da medikamentöse
Therapien bei Kindern und Jugendlichen mit höheren Risi-
ken einhergehen. Der Zugang zu psychologischen Behand-
lungen ist derzeit jedoch sowohl für Erwachsene als auch für
Minderjährige mit bipolaren Störungen ungenügend. Die
Leitlinie unterstützt zwar die Wirksamkeit von bestimmten
Antipsychotika zur Behandlung bipolarer Depression bei
Erwachsenen, empfiehlt zur Rückfallprävention allerdings
Lithium als Erstlinienmedikament.
Kontrovers diskutiert wurden in der Vergangenheit die Dia-
gnostik und Therapie von möglicherweise unter bipolaren
Störungen leidenden Kindern und Jugendlichen. In den USA
werden bereits 4- oder 5-Jährige mit Medikamenten behan-
delt auf der Basis diagnostischer Kriterien, die durch das
britische National Health System nicht akzeptiert würden.
Bereits in seinen vorangegangenen Guidelines hat das NICE
die Ausweitung des Krankheitsbildes der bipolaren Störung
auf die Kindheit zurückgewiesen und für striktere diagnos-
tische Kriterien bei Heranwachsenden plädiert, doch die
Erkrankung wird auch weiterhin bei Minderjährigen, haupt-
sächlich in den USA, diagnostiziert und medikamentös
behandelt. Die aktualisierten Guidelines untermauern die
Aussagen ihres Vorläufers und stellen fest, dass die extensive
Anwendung einer solchen Diagnose bei Kindern mehr scha-
det als nützt.
O
Ralf Behrens
Kendall T et al.: Assessment and management of bipolar disorder: summary of updated NICE guidance. BMJ 2014; 349: g5673.
Interessenkonflikt: Mehrere Autoren der BMJ-Publikation wurden durch das National Collaborating Centre for Mental Health unterstützt. Ein weiterer Autor erhielt Unterstützung durch das National Institute for Health Research Collaboration for Leadership in Applied Health Research and Care East Midlands.
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