Transkript
EDITORIAL
Kein Kata(r)lysator
Am kommenden Sonntag beginnt die Fussballweltmeisterschaft in Katar. Anstoss beim Stein des Anstosses sozusagen, einem Sportgrossereignis, das wie keines zuvor diskutiert und kritisiert wird, seit der internationale Fussballverband FIFA dem Emirat vor knapp 12 Jahren den Zuschlag erteilte – der «Sündenfall des Weltfussballs», wie «Der Spiegel» unlängst einen Kommentar betitelte. Darüber, ob derlei religiöse Konnotationen hier angebracht sind, lässt sich streiten. Zumal der Volkssport Nr. 1 kultur- und glaubensübergreifend agiert und wenn, dann wohl schon lange vor 2010 aus dem Paradies vertrieben worden beziehungsweise selbst daraus ausgebrochen ist. Nichtsdestotrotz legt das Hamburger Nachrichtenmagazin wie zahllose andere Publikationen, öffentliche Stellungnahmen und Aufrufe der letzten Jahre den Finger exakt in dieWunde, welche die fortschreitende Kommerzialisierung sowie bisweilen im Zwielicht und Seit an Seit mit Staatsoberhäuptern und Wirtschaftsmagnaten autokratischer Staaten agierende Funktionäre und Verbände dem Spitzensport inzwischen geschlagen haben. Eine Wunde, die in Katar zwischen Korruption, angeblicher und tatsächlicher CO2-Bilanz, staatlicher Unterstützung terroristischer Vereinigungen, Menschenrechtsverletzungen und der Ausbeutung von Arbeitsmigranten besonders weit zu klaffen scheint. Selbst hartgesottene Fussballjunkies haben da jetzt – zumindest assoziativ passend zum gastroenterologischen Schwerpunkt dieser Ausgabe von ARS MEDICI – «Bauchschmerzen», die ihre Vorfreude auf dieses nur alle 4 Jahre stattfindende Event mitunter bis zum Abwinken trüben. Im ganz realen Bezug zum medizinischen Kontext stehen dagegen die Bedingungen, unter denen die Infrastruktur dieser wüsten WM entstand und unter denen die daran beteiligten Menschen zu
leiden hatten. Diese Realität kann inzwischen selbst die FIFA kaum noch leugnen, auch wenn sie die Zahl der auf Stadionbaustellen gestorbenen Arbeiter auf ganze 3 und damit auf einen Bruchteil dessen beziffert, was etwa der britische «Guardian» oder Amnesty International angibt. Wie da die Weltgesundheitsorganisation (WHO), seit geraumer Zeit mit dem Staat Katar und der FIFA unter anderem im Projekt «Healthy 2022 World Cup» verbandelt, offensichtlich diese Aspekte komplett ausblenden und dies mit ihrem selbstgesteckten Ziel der «Verwirklichung des bestmöglichen Gesundheitsniveaus bei allen Menschen» vereinbaren kann, bleibt ihr Geheimnis. Dank dieser Partnerschaft, so liess sich WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus an der ersten Sitzung ihres Lenkungsausschusses im April diesen Jahres vernehmen (1), sei die WM 2022 ein Musterbeispiel für gesunde Sportveranstaltungen … Die Kataris indes reagieren empört: Kritik von solcher Vehemenz habe es vorangegangenTurnieren und anderen Ländern gegenüber nicht gegeben. Das allein gebietet zwar nicht, auch diesmal gefälligst zu schweigen, doch ganz von der Hand weisen lässt sich der Vorwurf nicht. Denn weder vor der WM 2018 in Russland noch vor den ebenso problematischen olympischen Winterspielen in Peking schallten die Worte der Missbilligung derart vielstimmig wie jetzt. Von offizieller, institutioneller Seite geäussert, bleiben sie aber oft nur scheinheilige Lippenbekenntnisse – zu verstrickt sind seit Langem, und nicht nur in Bezug auf Katar, die politischen und wirtschaftlichen Interessen, als dass man sich wirklich ehrlich machen und die Konsequenzen eines wertebasierten Diskurses tragen wollte. Andererseits verweisen Ausrichter wie Boykottgegner gern auf bereits erzielte Fortschritte im Land am Persischen Golf, die man nun nicht durch kollektives Wegsehen gefährden dürfe. Doch ebenso wenig wie entsprechende frühere Anlässe wird auch diese WM kein Katalysator positiver Entwicklungen sein. Die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für verletzte oder getötete Arbeitskräfte hat die Regierung des Gastgeberlandes inzwischen abgelehnt. Nun also: «Ludi incipiant», und der gemeine Fussballfreund darf, jeder für sich, entscheiden, ob er dem in den kommenden 4 Wochen medial Dargebotenen noch etwas abgewinnen oder sich stattdessen mal wieder selbst in Bewegung bringen mag. Vielleicht wird diese WM, ganz im Sinne der WHO, am Ende doch noch zu einer gesunden Sportveranstaltung … s
Ralf Behrens
1. https://www.fifa.com/de/media-releases/vereinbarung-zwischen-whokatar-und-fifa-zur-gesundheitsfoerderung-bei-fifa-fussball-weltmeisterschaft-katar-2022
ARS MEDICI 23 | 2022
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