Transkript
DIABETOLOGIE
GLP-1-Rezeptor-Agonisten und SGLT2-Hemmer
Irrungen, Wirrungen und neue Erkenntnisse in der Diabetestherapie
An der medArt 2022 in Basel informierte Prof. Marc Donath, Chefarzt Diabetologie/Endokrinologie, Universitätsspital Basel, über die Einsatzmöglichkeiten und Vorzüge von GLP-1-Rezeptor-Agonisten und SGLT2-Inhibitoren, also den neueren Antidiabetika, und liess dabei den einen oder anderen früheren Irrtum im Verständnis der Pathophysiologie der Diabeteserkrankung Revue passieren.
Der Referent begann seinen Vortrag mit einem interaktiven Fallbeispiel, mit dem er seine Zuhörer animierte, das adäquate therapeutische Vorgehen in dieser Situation zu benennen. Es handelte sich dabei um einen 52 Jahre alten, übergewichtigen (Body-Mass-Index [BMI]: 29) Patienten mit erhöhtem Hämoglobin A1c (HbA1c; 6,2%), der aktuell unter Behandlung mit Metformin stand und vor 3 Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte; derzeit gehe es ihm aber gut. Zur Beantwortung der Frage, wie denn mit ihm nun zu verfahren sei, standen folgende Optionen zur Auswahl: s Weiterbehandlung mit Metformin (Ziel-HbA1c < 6,2%) s Gabe eines GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA; GLP: glucagon-like peptide) s Gabe eines SGLT2-Inhibitors (SGLT2: sodium-glucose linked transporter 2) s kombinierte Gabe eines GLP-1-RA plus eines SGLT2- Inhibitors. Knapp zwei Drittel des Auditoriums entschieden sich für den SGLT2-Inhibitor. Dieses relativ eindeutige Ergebnis freue ihn, denn «ich habe eine andere Meinung», merkte Donath gleich an, welche detailliert zu begründen er sich im Folgenden anschickte. KURZ & BÜNDIG � Hauptkomplikation eines Diabetes und dessen Haupttodesursache ist die Herzinsuffizienz. � Die SGLT2-Hemmer und ihr positiver Effekt auf die Herzinsuffizienz haben zu einem neuen Verständnis der pathophysiologischen Zusammenhänge bei Diabetes geführt. � Insulinresistenz, Glukosurie und Glukotoxizität sind Schutzmechanismen des Körpers gegenüber einer zu hohen Glukosezufuhr. � SGLT2-Inhibitoren wirken kardio- und nephroprotektiv, jedoch nicht gegen Arteriosklerose. GLP-1-Rezeptor-Agonisten sind essenziell zur Gewichtsreduktion. � Vor dem Einsatz von Antidiabetika stehen Lebensstilmassnahmen in der Diabetestherapie an erster Stelle. Ein Medikament bringt neue Erkenntnisse Dabei blickte Donath zunächst auf die jüngsten Entwicklungen im Fach Endokrinologie zurück. «Plötzlich haben wir nicht nur realisiert, dass unsere Patienten eine Herzinsuffizienz haben, sondern dass die Herzinsuffizienz die Hauptkomplikation eines Diabetes und sogar dessen Haupttodesursache darstellt», schilderte der Experte die bahnbrechenden Erkenntnisse, die sich aus der näheren Beschäftigung mit der Herzschwäche in jüngster Zeit ergeben haben. Interessanterweise war man erst durch ein bereits zur Behandlung von Diabetes eingesetztes Medikament, nämlich durch die Wirkstoffgruppe der SGLT2-Hemmer, zu einem neuen Verständnis der pathophysiologischen Zusammenhänge gelangt. Diese Substanzen sind in der Diabetestherapie sehr wirksam, denn sie fördern bekanntlich die Glukoseexkretion über den Urin, sodass der HbA1c-Wert, das Gewicht und der Blutdruck sinken. Was man sich vielleicht nicht klarmache, sei, wie viel Glukose dabei über den Urin ausgeschieden werde, so der Referent, nämlich pro Tag 50 bis 80 g, was etwa 200 bis 320 Kalorien oder 12 bis 20 Zuckerwürfeln entspreche. «Das ist sehr viel», unterstrich Donath das Ausmass dieses Effekts, den er denn auch für den wesentlichen Mechanismus hält, über den die SGLT2-Inhibitoren ihre Wirkung entfalten. Dies deshalb, weil Glukose in grösseren Mengen toxisch auf Herzmuskelzellen wirkt: Die Myofibrillen gehen zugrunde, Herzinsuffizienz ist die Folge. Drei Schutzmechanismen des Körpers Der Körper besitzt nun aber Abwehrmechanismen gegenüber diesem Überangebot an Nahrung, und zwar zum einen die Insulinresistenz. «Sie ist in erster Linie ein Schutz vor dem Problem, nicht das Problem selbst, denn das ist die Überernährung», erklärte Donath. Insulinresistenz ist ein aktiver Mechanismus: Sie nimmt mit steigendem Übergewicht zu. Nicht nur das Herz, auch andere Gewebe wie zum Beispiel die Leber, müssen vor einem Zuviel an Glukose geschützt werden. «Insulinresistenz ist also eine gute Sache», so der Endokrinologe. Allerdings bewirkt sie einen Anstieg der Glukosekonzentration im Blutkreislauf, und dann greift mit der Glukosurie ein zweiter Mechanismus, über den zu grosse Mengen des über die Nahrung aufgenommenen Energieträgers wieder ausgeschieden werden. Lange Zeit sei die Glu- 4 ARS MEDICI DOSSIER VIII | 2022 DIABETOLOGIE Tabelle: Moderne Medikamente zur Diabetestherapie* Wirkstoff GLP-1-Rezeptor-Agonisten Darreichungsform/Dosierung Exenatid s.c./2-mal täglich s.c./1-mal wöchentlich Liraglutid s.c./1-mal täglich Fixkombination Liraglutid + Insulin degludec s.c./1-mal täglich Lixisenatid s.c./1-mal täglich Fixkombination Lixisenatid + Insulin glargin s.c./1-mal täglich Semaglutid p.o./1-mal täglich s.c./1-mal wöchentlich Albiglutid s.c./1-mal wöchentlich Dulaglutid SGLT2-Inhibitoren s.c./1-mal wöchentlich Canagliflozin p.o./1-mal täglich Fixkombination Canagliflozin + Metformin p.o./2-mal täglich Dapagliflozin p.o./1-mal täglich Fixkombination Dapagliflozin + Metformin p.o./1-mal täglich Fixkombination Dapagliflozin + Saxagliptin p.o./1-mal täglich Empagliflozin p.o./1-mal täglich Fixkombination Empagliflozin + Metformin p.o./2-mal täglich Fixkombination Empagliflozin + Linagliptin p.o./1-mal täglich Ertugliflozin p.o./1-mal täglich Fixkombination Ertugliflozin + Metformin p.o./2-mal täglich Fixkombination Ertugliflozin + Sitagliptin p.o./1-mal täglich * angepasst nach M. Donath und gemäss Arzneimittelkompendium der Schweiz s.c.: subkutan, p.o.: oral Handelsname Byetta® Bydureon® Victoza® Saxenda® (Indikation: Adipositas) Xultophy® Lyxumia® Suliqua® Rybelsus® Ozempic® Eperzan® Trulicity® Invokana® Vokanamet® Forxiga® Xigduo® Qtern® Jardiance® Jardiance Met® Glyxambi® Steglatro® Segluromet® Steglujan® kosurie fälschlicherweise als Teil der pathophysiologischen Prozesse betrachtet worden, so der Referent, was sie in sehr ausgeprägter Form (osmotische Diurese, akute Dekompensation) tatsächlich sein könne. Prinzipiell stellt sie jedoch wie die Insulinresistenz vielmehr einen robusten, ganz natürlichen Schutzmechanismus dar. Und genau dieser wird durch die Wirkweise der SGLT2-Inhibitoren noch etwas verstärkt. Ein dritter Mechanismus in diesem physiologischen Zusammenspiel ist die sogenannte Glukotoxizität. Aus der Betazellforschung ist bekannt, dass diese Zellen, wenn sie länger hohen Glukosekonzentrationen ausgesetzt sind, aktiv ihre Insulinproduktion nahezu auf null drosseln – ein Phänomen, das ebenso bei Patienten mit akut dekompensiertem Typ-1oder Typ-2-Diabetes auftrete, so der Experte: «Misst man bei ihnen Insulin, ist es sehr tief.» Wird die Glukosekonzentration gesenkt, setzt die Insulinproduktion wieder ein, was ein Beleg für den regulatorischen Charakter dieses Mechanismus ist. Auch die Betazelle «erkennt» also das Überangebot an Nahrung und steuert dagegen, denn weitere Insulinsignale zu geben und dadurch die Insulinresistenz zu durchbrechen, wäre nicht sinnvoll. Aus der inzwischen überholten Sichtweise, wonach Insulinresistenz und Glukotoxizität «schlecht» seien, wurden seinerzeit allerdings weithin eingesetzte Therapien entwickelt, nämlich zum einen die Insulin-Sensitizer – Medikamente, die die Insulinsensitivität verbessern, die als Nebenwirkung allerdings zu extremer Gewichtszunahme bei den Patienten führten. Darüber hinaus entwickelte sich häufig eine Herzinsuffizienz, was jetzt, im Nachhinein betrachtet, relativ logisch sei, wenn man die Insulinresistenz durchbreche, erklärte der Referent. Zum anderen kamen die Insulinsekretagoga (Sulfonylharnstoffe, Glinide) auf den Markt, die im Endeffekt zu unphysiologisch hohen Insulinkonzentrationen führen, wodurch ebenfalls die Insulinresistenz durchbrochen wird und Gewichtszunahme wie Herzinsuffizienz begünstigt werden. Vorteile von GLP-1-RA und SGLT2-Inhibitoren Aus den geschilderten Zusammenhängen ergibt sich daher, dass man mit den modernen Medikamenten, also mit SGLT2-Inhibitoren und GLP-1-RA, deutlich besser fährt. Die Insulinresistenz sollte nicht behandelt werden. Stattdessen kann zum einen durch eine SGLT2-Inhibitor-Therapie die Glukosurie gesteigert und zum anderen über Ernährungsberatung oder Gabe von GLP-1-RA die Energiezufuhr gedrosselt werden. «Beides verbessert die Situation der Patienten», so Donath. Die Gabe von Insulin sei dagegen nur sinnvoll, wenn ein absoluter Mangel bestehe, etwa bei schlanken Diabetespatienten, aber «bei jemandem, der übergewichtig ist, würde ich mir immer sehr gut überlegen, ihm Insulin zu geben», riet der Experte. Bis anhin hätten sich die Endokrinologen immer sehr für den HbA1c-Wert interessiert, welcher die Glukosekonzentration im Blutkreislauf angebe, resümierte der Referent. Vernach- ARS MEDICI DOSSIER VIII | 2022 5 DIABETOLOGIE lässigt worden sei allerdings bei unauffälligem HbA1c die Überlegung, was mit dem Zucker passiert sei: «Ist er in die verschiedenen Organe gegangen, oder wurde er adäquat über den Urin entsorgt?» Es werde häufig behauptet, die kardioprotektiven Eigenschaften der SGLT2-Inhibitoren hätten nichts mit der Glukose zu tun, da sich diese auch bei Nichtdiabetikern zeigten, so Donath weiter. Er selbst bezweifelt das: Schaue man die entsprechenden Studien genau an, zeige sich, dass es sich bei diesen «Nichtdiabetikern» in Wirklichkeit um durchschnittliche Prädiabetiker gehandelt habe, bei denen genau diese glukoseassoziierten Prozesse (Überernährung, hohe Insulinspiegel) in vollem Gange gewesen seien. «Ich möchte gern noch eine Studie sehen, die belegt, dass ein schlanker Herzinsuffizienzpatient tatsächlich von SGLT2-Inhibitoren profitiert», sagte der Endokrinologe. Aber SGLT2-Inhibitoren wirken nicht nur kardio-, sondern auch nephroprotektiv: In der Niere gibt es zwar verschiedene Transportmoleküle, darunter ist SGLT2 aber dasjenige, das am meisten Energie benötigt. Durch dessen Hemmung wird der Energieverbrauch der gesamten Niere gedrosselt und diese extrem entlastet. Der Schutz vor Herzinsuffizienz und vor Nephropathie konnte in Outcome-Studien mit verschiedenen Antidiabetika für SGLT2-Hemmer klar belegt werden. Kein Effekt dieser Medikamente hat sich allerdings auf die Arteriosklerose gezeigt, daher besteht darunter kein Schutz vor Schlaganfall, Herzinfarkt oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK). Diese Fehlentwicklungen sind eher Folge der Fetttoxizität, die durch SGLT2-Inhibitoren nicht beeinflusst wird. «Das heisst nicht, dass man SGLT2-Inhibitoren bei Patienten mit Arteriosklerose nicht geben sollte, denn diese haben ein hohes Risiko für Herzinsuffizienz. Aber man muss sich bewusst sein, dass man damit den Job noch nicht erledigt hat», mahnte Donath. Wenn der Patient übergewichtig ist, besteht darüber hinaus ein Risiko für Herzinfarkt, weshalb man das Gewicht prioritär behandeln muss. Hier sind GLP-1-RA sehr wichtig, die in diesem Zusammenhang gute Daten geliefert haben. Häufige Nebenwirkungen der SGLT2-Hemmer sind Genitalinfektionen und Ketoazidose. Erstere könnten auch bei Nichtdiabetikern vorkommen, seien aber meist einfach zu behandeln, so der Experte; er verschreibe hier für den Fall, dass Juckreiz auftrete, gern gleich eine Anitimykotikacreme mit, um so zu verhindern, dass die Medikamenteneinnahme bei Auftreten von Juckreiz abgebrochen werde. Für Ketoazidosen besteht bei Nichtdiabetikern keine Gefahr, denn diese haben stets ausreichend Insulin. Bei schlanken Diabetikern dagegen liegt ein absoluter Insulinmangel vor, weshalb hier Vorsicht oder eine kombinierte Insulingabe geboten ist. Lebensstilmassnahmen, Metformin und Individualisierung. Lebensstilmassnahmen sollten früh, schon bei Diagnose, begonnen werden, wobei eine durchaus positive Einstellung zur Ernährung (food legalisation) im Vordergrund steht. Bei komplett dekompensierten Patienten (HbA1c bis zu > 10) kann in den meisten Fällen allein durch Lebensstilmassnahmen der HbA1c-Wert normalisiert werden, weshalb sie Priorität vor den antidiabetischen Medikamenten (siehe Tabelle) geniessen sollten. Metformin habe historisch noch seinen Platz, obwohl die Effekte eher schwach seien. Dennoch müsse man es nach wie vor einsetzen und anschliessend die Therapie dann ggf. individualisieren, also schauen, was im Vordergrund stehe, riet der Referent. Früh im Erkrankungsverlauf können GLP1-RA, SGLT2- oder Dipeptidylpeptidase-(DPP-)4-Inhibitoren indiziert sein. «Besteht Übergewicht, würde ich einen GLP-1-RA favorisieren», empfahl er und lieferte damit die Erklärung, warum er diesem Medikament bei dem Patienten aus dem eingangs vorgestellten Fallbeispiel den Vorzug geben würde. Bei einer etablierten kardiovaskulären Erkrankung liegen 2 Probleme vor, welche man angehen muss, und zwar die Herzinsuffizienz mit SGLT2-Hemmern und die Adipositas mit GLP-1-RA. Ältere Diabetespatienten (> 80 Jahre) profitieren eher weniger von GLP-1-RA, weil es 2 bis 5 Jahre für einen kardiovaskulären Nutzen braucht und Nebenwirkungen auftreten können. Unter SGLT2-Inhibitoren zeigen sich in dieser Altersgruppe schon nach wenigen Monaten Vorteile hinsichtlich der Herzinsuffizienz. Schlanke Patienten mit unkontrolliertem Diabetes oder einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) < 30 erhalten in jedem Fall ein Basalinsulin. Ausblick Ende 2022 wird mit Tirzepatid ein dualer Agonist des gluko- seabhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP) und von GLP-1 auch in der Schweiz zugelassen. Es besitzt den glei- chen Wirkmechanismus wie GLP-1-RA und eine mittlere Halbwertszeit von 5 Tagen, was eine 1-mal wöchentliche Dosierung ermöglicht. Das Medikament habe in Studien be- reits sehr eindrückliche Daten insbesondere bezüglich der Gewichtsabnahme geliefert, so Donath. Als grossen Durchbruch in der Therapie des Typ-1-Diabetes bezeichnete er die sogenannten Closed-loop-Systeme, die automatisch und kontinuierlich den Glukosespiegel messen und mit einer Insulinpumpe gekoppelt sind. Patienten, die über Jahre nie gut eingestellt waren, erreichen damit gute Blutzuckerresultate. Zudem entlastet es viele Patienten, wenn ihnen das Messen und das Injizieren auf diese Weise abgenommen werden. s Wie vorgehen? Zur konkreten Umsetzung der in seinem Vortrag erwähnten Überlegungen empfahl der Referent ein 3-stufiges therapeutisches Schema, bestehend aus (in dieser Reihenfolge) Ralf Behrens Quelle: Vortrag «Diabetes» von Prof. Dr. Marc Donath an der medArt Basel, 20. Juni 2022. 6 ARS MEDICI DOSSIER VIII | 2022