Transkript
MIGRATION UND ERNÄHRUNG
Wenn die Heimat in der Praxis mit is(s)t
Schweizer Empfehlungen für Menschen aus Italien und Spanien
Foto: zVg
Ilona Sanchez
Transkultureller Ernährungsberatung begegnet man häufig in der Praxis. Oft entstehen dadurch viele Missverständnisse und Misserfolge. Seit mehreren Jahren begrüsse ich grosse und kleine Menschen mit Adipositas, Fehl- und Mangelernährung oder mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in meiner Praxis in Basel. Fast täglich habe ich Beratungen auf Italienisch, Spanisch, Französisch oder Englisch. Buongiorno – Buenos días – Hello – Bonjour – und manchmal spreche ich mit Händen und Füssen.
Meine Patienten kommen häufig aus dem südlichen Teil Europas: Italien und Spanien. Die erste Migrationsgeneration kam in die Schweiz, um zu arbeiten, meist mit dem Wunsch, irgendwann wieder zurück «nach Hause» zu gehen. Ihre Esskultur nehmen die Migranten zwar mit ins neue Land, doch hier gibt es oft nicht alle Lebensmittel, mit denen die vertraut sind. Sie ernähren sich nicht mehr gleich wie im Heimatland, wobei solche Ernährungsumstellungen meist nicht gesundheitsförderlich sind. Meine Aufgabe, besteht dann darin, die Patienten zu bestärken, dass sie wie früher oder wie zu Hause essen. So verschwinden auch Unverträglichkeiten häufig wieder. Ich höre regelmässig: Aber warum ist es dann so schwierig, sich gesund zu ernähren? Ein Punkt ist: Lebensmittel waren bis vor dem Ukraniekonflikt in Italien und Spanien günstiger als in der Schweiz. Hier greifen die Migranten somit zu günstigeren, meist ungeeigneten Lebensmitteln. Sie sind nährstoffärmer, fett- und kohlenhydratreicher. Die Motivation dahinter kann sein, dass sie einerseits aus ihrer Sicht zu wenig Geld monatlich zur Verfügung haben, andererseits möglichst viel Geld in die Heimat schicken möchten (1).
2021 (2) schreibt, erlebe ich täglich in meiner Praxis: Wenn ich mein Gegenüber sprechen lasse, sanft leite und zuhöre, dann entsteht eine Vertrauensbasis.
Warum ist es im neuen Zuhause schwieriger?
Eine Veränderung der Familienstruktur kann dazu führen, dass Menschen, die in ihrem Heimatland eine bestehende Krankheit gut meistern konnten, im neuen Land damit nicht mehr zurechtkommen. Der Halt, der Austausch und die Unterstützung der Familie oder von Freunden fehlten bzw. sind nicht derselbe (2). Essen ist mehr, als den Körper mit Nährstoffen zu füttern. Essen ist Kultur und Identität. Auch ist es etwas
Ilona Sanchez
Missverständnis
Das Ganze heisst transkulturelle Ernährungsberatung. Als Tochter von italienischen Migranten und Schwiegertochter von spanischen Migranten kenne ich beide Kulturen. Ich spreche Italienisch als Muttersprache und verstehe Spanisch sehr gut. Wenn ich meinem Gegenüber sage, woher ich komme und dass ich sie verstehe, ist bereits ein erstes Vertrauen vorhanden. Zudem entfällt teilweise die Sprachbarriere, welche oft zu Verständnisproblemen führt. Genau das, worüber Saskia Andrey in ihrer Bachelorthesis
Abbildung 1: Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung nach Staatsangehörigkeit – Daten der schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017 (2)
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MIGRATION UND ERNÄHRUNG
Abbildung 2: (modifiziert nach Lea Obrecht 2022)
vom Letzten, was Migranten an ihre neue Heimat anpassen. In der Literatur wird ersichtlich, dass sich Migranten oft ungünstige Lebensstilveränderungen aneignen, sie zeigen beispielsweise ein um 25% höheres Risiko für Übergewicht. (3)
Unterschiedliche Empfehlungen
Nicht selten beherrschen meine Patienten die deutsche Sprache nicht gut und/oder verstehen nicht, was Ärzte oder Therapeuten sagen. Wenn sie dann mir gegenüber sitzen, haben sie viele Fragen. Sie informieren sich in ihren Heimatländern, wie sie nun essen sollen. Dann sind sie in der Schweiz beispielsweise bei einem Arzt, der ihnen etwas anderes sagt, als das, was sie zu Hause gehört haben. Migranten haben tiefere gesundheitsbezogene Ressourcen. Oft sind sie allein in der Schweiz, und ihre Familien sind weit weg (4, 5). Dabei stosse ich häufig auf dasselbe Phänomen: Beispielsweise wird in Italien oder Spanien in grossen Fernsehsendungen über Ernährung bei bestimmten Erkrankungen gesprochen. Dabei kommen etablierte Fachpersonen zu Wort. Anschliessend versuchen die Redaktoren, die fachlichen Aussagen in Publikumssprache zu übersetzen. Dabei ist immer zu bedenken, dass eventuell viele Zuschauer eine tiefe Schulbildung haben. Mehr als ein Drittel der der Staatsangehörigen aus südeuropäischen Ländern hat keine Ausbildung nach der obligatorische Schule abgeschlossen (6).
Hilfsmittel für transkulturelle Ernährungsberatung Tibet: https://snowland-children.org/ tibetische-lebensmittel-pyramide/
«Ich koche nicht fettig, ich benutze ausschliesslich Olivenöl»
Diese Aussage höre ich regelmässig in meiner Praxis. Beim ersten Mal musste ich leer schlucken. Olivenöl wird in den mediterranen Ländern als sehr gesund angesehen. Eine fettige Zubereitung wird jedoch als ungesund erachtet und oft mit Erdnussöl, Schmalz oder Butter in Verbindung gebracht. Für eine gute transkulturelle Beratung braucht es Fingerspitzengefühl. Wie kann ich meinem Gegenüber sagen, dass Olivenöl eine sehr gute Wahl ist, und gleich-
zeitig darauf hinweisen, dass zu viel davon für die Gewichtsreduktion nicht geeignet ist? In diesen Situationen arbeite ich gern mit meinem Kaffee- und Suppenlöffel und zeige die angepasste Fettmenge. Die Herkunft und der Ort der Sozialisierung prägen unser Verständnis von Gesundheit, Krankheit, Prävention und Therapie. Auch die Selbstwirksamkeit, also das, was man selbst für seine Gesundheit (oder gegen die Krankheit) tun kann, ist von der Herkunft geprägt (8). Meine Herausforderung lautet: Wie kann ich meinen Patienten die Schweizer Ernährungsempfehlungen bezüglich ihrer Krankheiten vermitteln und sie zur Umsetzung befähigen, ohne dabei ihre Herkunft zu vergessen? Nicht selten machen Patienten grosse Augen, wenn ich ihnen sage, dass sie zu den Hauptmahlzeiten das Brot weglassen sollen, wenn es nebenbei andere Stärkebeilagen wie Reis, Teigwaren oder Kartoffeln gibt. In sehr vielen (südlichen) Kulturen gehört Brot zu jedem Essen. So wie für die Schweizer Brot zum Fondue oder Kartoffeln zum Raclette gehören, gehört Brot in diesen Kulturen zu Gerichten wie Spaghetti oder Paella. Das heisst aber nicht, dass sie nicht bereit sind, an ihrer Ernährung zu arbeiten. Saskia Andrey kam in ihrer Bachelorthesis 2021 (2) zu dem Schluss, dass Migranten, im Vergleich zu beispielsweise Secondos mehr Raum für Erzählungen brauchen. Sie wollen uns mitteilen, was sie in ihrem Heimatland gegessen haben. Wenn sie ausreichend Raum erhalten und sich akzeptiert fühlen, ist die Bereitschaft für Ernährungsumstellungen viel grösser.
Unterstützen
Ich versuche, wie von Dagmar Domenig (9) beschrieben, mein Gegenüber, die Migrantin oder den Migranten, als individuelle Person in seinem Umfeld wahrzunehmen. Denn nur wenn sich ein Mensch verstanden und akzeptiert fühlt, kann er sich öffnen und seinen Lebensstil nachhaltig verändern. In der Beratung muss die Herkunft Raum bekommen, denn «Kultur ist Kommunikation», sagte Edwart T. Hall.
Interessenskonflikt: keine. Korrespondenzadresse: Ilona Sánchez Ernährungstherapie Basel Klosterberg 11 4051 Basel E-Mail: ilona.sanchez@diets-hin.ch Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
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Referenzen: 1. Geiger IK: Ess-Kulturen. Ernährung im multikulturellen Kontext ver-
stehen – Teil 1 und 2, in: Ernährungs-Umschau 2007; 54 (1 und 2), 23-26 und 73-75. 2. Andrey S: Bachelorthesis: Erfolgsfaktoren und Herausforderungen in der transkulturellen Ernährungsberatung. Die Sichtweise von Klientinnen und Klienten mit Migrationshintergrund. Berner Fachhochschule, Gesundheit, BsC Ernährung & Diätetik. 2021. 3. Loncarevic M: Migration und Gesundheit, in: D. Domenig (Hrsg.), Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe, 2007; 2. Aufl., Bern, Verlag Hans Huber, S. 139-161. 4. Fennelly K: The «healthy migrant» effect. Minn Med 2007; 90(3), 3-51. 5. Lebano A, Hamed S, Bradby, H, Gil-Salmerón A, Durá-Ferrandis E., Garcés-Ferrer J, Azzedine F, Riza E, Karnaki P, Zota D & Linos A: Migrants' and refugees' health status and healthcare in Europe: a scoping literature review. BMC public health 2020, 20(1), 1039. https:// doi.org/10.1186/s12889-020-08749-8 6. Statistik, B. für. (2019a): Ausländische Bevölkerung, [online] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/ migration-integration/auslaendische-bevoelkerung.html [04.07.2022]. 7. Blaser et al., 2013; Klingberg et al., 2020; Walimann & Balthasar, 2019) 8. Sat S, Aydinkoç-Tuzcu K, Berger F, Barakat A, Schindler K, Fasching P: Diabetes und Migration, in: Diabetologie und Stoffwechsel 2019; 14(S 02), 306–317. https://doi.org/10.1055/a-0899-2742 9. Domening D: Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe 2017;
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