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KONGRESS AKTUELL
Highlights vom EAN-Kongress 2022
Neurologische Forschung und praktische Therapieempfehlungen
Der jährliche Kongress der European Academy of Neurology (EAN) fand in diesem Jahr in Wien und erstmals seit 2 Jahren wieder als Präsenzveranstaltung statt. Neben zahlreichen Abstract-Präsentationen aus der aktuellen Forschung war eines der Highlights der Veranstaltung der Ausblick auf die neue Version der von EAN und ECTRIMS gemeinsam gestalteten Leitlinie zum Management der Multiplen Sklerose.
tion nicht infrage. Als günstigere Alternative wird Colchicin, ein Alkaloid der Herbstzeitlose, in mehreren Studien in der kardiovaskulären Prävention bei Hochrisikopatienten untersucht. In der CONVINCE-Studie ist der kardioembolische Schlaganfall einer der Endpunkte (5). Bis Resultate vorlägen, würden jedoch noch einige Jahre vergehen, so Endres.
Kryptogener Schlaganfall nicht so selten er sogenannte kryptogene Schlaganfall dürfte in vielen Fällen gar nicht so rätselhaft sein. Das zeigen Daten, die im Rahmen des EAN-Kongresses 2022 vorgestellt wurden. Bei der Mehrzahl der Betroffenen sind nämlich relevante Risikofaktoren vorhanden, die allerdings zum Zeitpunkt des Ereignisses noch nicht diagnostiziert waren. Insgesamt wurden in einer Analyse von > 4000 Schlaganfällen bei 67,7 Prozent der untersuchten Patienten mit kryptogenem Schlaganfall solche Risikofaktoren gefunden. Die Daten wurden von einer Gruppe des Centre hospitalier universitaire vaudois in Lausanne erhoben und beruhen auf Auswertungen zu 4354 Schlaganfallpatienten aus der ASTRALKohorte. Zuvor unentdeckte Risikofaktoren wurden in 1125 Fällen gefunden, wobei Dyslipidämie am häufigsten und bei 61,4 Prozent der Betroffenen vorhanden war. Unter Hypertonie litten 23,7 Prozent, und 10,2 Prozent hatten ein unerkanntes Vorhofflimmern. Auch ein offenes Foramen ovale war häufig. In multivariaten Analysen waren unentdeckte Risikofaktoren assoziiert mit niedrigerem Alter, nicht kaukasischer Ethnizität, Einnahme von Kontrazeptiva bei Frauen < 55 Jahre sowie Rauchen bei Patienten > 55 Jahre. Negative Assoziationen wurden für die Einnahme von Plättchenhemmern sowie einen höheren Body-Mass-Index (BMI) gefunden (1). Studienautor Dr. André Rêgo wies angesichts der Präsentation auf die relativ dünne Datenlage zum kryptogenen Schlaganfall hin. Seine Daten zeigen nun, wie bedeutsam die Identifizierung und die Behandlung klassischer Risikofaktoren sind, zumal diese offenbar nach wie vor bei zahlreichen Risikopatienten nicht korrekt erkannt werden. Das sei offenbar in besonderem Masse bei erhöhten Blutfetten der Fall. Es gelte nun, jene Personen zu identifizieren, die eine intensivere Prävention und Überwachung benötigten.
Schlaganfallprävention: Neue Gerinnungshemmer in Studien Hinsichtlich der Schlaganfallprävention könnten sich bereits in naher Zukunft neue Optionen ergeben, wie Prof. Dr. Matthias Endres von der Charité Universitätsmedizin in Berlin betont. Eingriffe in die Kaskade des Gerinnungssystems stellen bereits heute eine wichtige Strategie in der Prävention des ischämischen Schlaganfalls bei Personen mit hohem Risiko dar. Allerdings haben diese den erheblichen Nachteil eines durch die Gerinnungshemmung zwangsläufig erhöhten Blutungsrisikos. Derzeit wird in die Gerinnungskaskade entweder mit den Vitamin-K-Antagonisten eingegriffen, die mehrere Faktoren blockieren, oder mit den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK), die gegen den Faktor Xa oder gegen Thrombin gerichtet sind. Zukünftig könnte die Blockade von Faktor Xia hinzukommen. Eine Korrelation von erhöhten Faktor-Xia-Spiegeln bei Patienten nach Schlaganfall mit kardiovaskulären Ereignissen, Schlaganfällen und Tod konnte nachgewiesen werden (2). Mehrere Substanzen, die den Faktor Xia blockieren, befinden sich derzeit in klinischer Entwicklung. Für Milvexian und Asundexian ist die Phase II abgeschlossen, die Auswertungen hinsichtlich Wirksamkeit wurden aber noch nicht präsentiert. Sicherheitsdaten liegen jedoch bereits vor. Sie zeigen unter anderem, dass Asundexian im Vergleich zum Faktor-Xa-Inhibitor Apixaban mit einem geringeren Blutungsrisiko assoziiert ist (3). Ebenfalls für das Schlaganfallrisiko relevant ist systemische Inflammation, was den Einsatz antiinflammatorischer Therapien in der Prävention nahelegt. So konnte beispielsweise in der CANTOS-Studie mit Canakinumab, einem gegen Interleukin 1β (IL-1β) gerichteten monoklonalen Antikörper, eine signifikante Reduktion des kardiovaskulären Risikos gezeigt werden (4). Allerdings ist Canakinumab prohibitiv teuer und kommt deshalb für die Präven-
Neue Guideline erlaubt frühe, aggressive Therapie der MS Seit 2018 publizieren die EAN und das European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) eine gemeinsame Leitlinie zur Behandlung erwachsener Patienten mit MS mit aktuell in Europa zugelassenen Medikamenten. Im Rahmen des diesjährigen EAN-Kongresses präsentierte Prof. Dr. Maria Pia Amato von der Universität Florenz einen Ausblick auf das Update 2022, das demnächst publiziert werden soll. Wo immer möglich, wurden die Empfehlungen nach der GRADE-Methodologie und anhand von PICO-Fragen (population, intervention, comparator, outcome) sowie basierend auf einer Literatursuche erstellt. Der Grad der Übereinstimmung innerhalb der Taskforce war hoch, mit durchwegs über 80 und teilweise sogar 100 Prozent. Die Leitlinie unterstreicht den Wert einer frühen und aggressiven Therapie. Für den Therapiebeginn müssen die diagnostischen Kriterien für MS nicht erfüllt sein. Vielmehr genügen beim klinisch isolierten Syndrom (CIS) Hinweise in Klinik und Bildgebung, die eine Entwicklung in Richtung MS erwarten lassen. Eingesetzt werden sollen in dieser Situation Interferon oder Glatirameracetat. Wurde eine MS-Diagnose gestellt, stehen zahlreiche krankheitsmodifizierende Medikamente (DMD) zur Verfügung, die anhand einer Reihe von Faktoren wie der Schwere der Erkrankung, radiologischer Krankheitsaktivität, Behinderungsprogression, Komorbiditäten, Familienplanung usw. ausgewählt werden sollen. Dabei öffnet die Leitlinie explizit die Tür für den frühen Einsatz hochwirksamer DMD. Ergeben sich unter Behandlung mit einem DMD nach wir vor Hinweise auf eine Krankheitsaktivität, ist eine Eskalation der Therapie indiziert. Bei sekundär progredienter MS (SPMS) mit Hinweisen auf inflammatorische Aktivität wird als erste Wahl Siponimod empfohlen, andere DMD können in Betracht gezogen werden.
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Handelt es sich um SPMS ohne Hinweise auf inflammatorische Aktivität, können Siponimod oder Anti-CD20-Antikörper angeboten werden. Für die primär progrediente MS ist Ocrelizumab nach wie vor das einzige empfohlene DMD. Eine Impfung gegen COVID-19 sollte vor Beginn einer immunsuppressiven Therapie durchgeführt werden. Neu sind auch detaillierte Empfehlungen zum Thema Schwangerschaft und Stillzeit, die konkret auf die Datenlage zu den einzelnen DMD eingehen, von denen allerdings nur Interferon und Glatirameracetat in der Schwangerschaft zugelassen sind. Jedenfalls wird empfohlen, eine Schwangerschaft im Zusammenhang mit eine MS-Erkrankung zu planen und die Therapie rechtzeitig darauf abzustimmen. Während der Stillzeit besteht derzeit Zulassung für Interferon und Ofatumumab. Intensiv diskutiert wurde im Rahmen des EAN-Kongresses die Frage des optimalen Dosierungsintervalls für Natalizumab, einen in der MS-Therapie eingesetzten Antikörper gegen Integrine der Alpha4-Untereinheit auf T-Helfer-Zellen und auf zytotoxischen T-Lymphozyten. Der Nachteil dieser hochwirksamen Therapie besteht in der Gefahr für eine Reaktivierung einer latenten Infektion mit dem JC-Virus (humanes Polyomavirus 2), die in einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), einer progredienten Slow-Virus-In-
fektion des Zentralnervensystems (ZNS), resultiert. Eine Strategie zur Verminderung dieses Risikos ist die Verlängerung der Dosierungsintervalle. Die Frage ist jedoch, ob damit eine Reduktion der Wirksamkeit in Kauf genommen werden muss. Man vermute, so Prof. Dr. Gavin Giovannoni von der Queen Mary University of London, dass es bei einem Dosisabstand von 6 Wochen ein therapeutisches Fenster gebe, in dem noch ausreichend Lymphozytenmigration in das ZNS erfolge, um Viren zu kontrollieren, diese gleichzeitig jedoch nicht ausreiche, um die MS-Krankheitsaktivität aufrechtzuerhalten. Diese Evidenzlücke sollte mit der kürzlich publizierten NOVA-Studie geschlossen werden. Was allerdings nur teilweise gelang, zumal sich in der NOVA-Studie ein Applikationsabstand von 4 Wochen im Vergleich zu 6 Wochen als numerisch, nicht aber als signifikant überlegen erwies (6). Im Rahmen des EAN-Kongresses 2022 stellte Giovannoni nun prospektive Subgruppenanalysen der Studie vor (7). Die Auswertung zeigt für keine der Subgruppen statistisch signifikante Unterschiede im Hinblick auf neue oder sich vergrössernde T2-Läsionen. Auch ein höheres Körpergewicht war kein Prädiktor für bessere Therapieergebnisse mit dem einen oder anderen Regime. Ein sehr ähnliches Bild zeigte sich bei Betrachtung der Schubaktivität. Giovannoni weist allerdings darauf hin, dass die Patien-
tenzahlen in einzelnen Subgruppen sehr
niedrig gewesen seien. Man könne allerdings
angesichts dieser Zahlen als Kliniker mit gewis-
ser Vorsicht davon ausgehen, dass eine Verlän-
gerung des Dosierungsintervalls die
Wirksamkeit von Natalizumab nicht beein-
trächtige.
l
Reno Barth
Quelle: Jahreskongress der European Academy of Neurology (EAN), 25. bis 28. Juni in Wien
Referenzen: 1. Rêgo A et al.: Undiagnosed major risk factors in patients
with acute ischaemic stroke: clinical profile, stroke mechanisms and outcome. EPO-26, presented at EAN Congress 2022. 2. Rohmann JL et al.: Coagulation factor XII, XI, and VIII activity levels and secondary events after first ischemic stroke. J Thromb Haemost. 2020;18(12):3316-3324. 3. Piccini JP et al.: Safety of the oral factor XIa inhibitor asundexian compared with apixaban in patients with atrial fibrillation (PACIFIC-AF): a multicentre, randomised, double-blind, double-dummy, dose-finding phase 2 study. Lancet. 2022;399(10333):1383-1390. 4. Ridker PM et al.: Antiinflammatory therapy with canakinumab for atherosclerotic disease. N Engl J Med. 2017;377(12):1119-1131. 5. Endres M et al.: Immune pathways in etiology, acute phase, and chronic sequelae of ischemic stroke. Circ Res. 2022;130(8):1167-1186. 6. Foley JF et al.: Comparison of switching to 6-week dosing of natalizumab versus continuing with 4-week dosing in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis (NOVA): a randomised, controlled, open-label, phase 3b trial. Lancet Neurol. 2022;21(7):608-619. 7. Primary and secondary outcomes in subgroups of patients treated with natalizumab every 6 weeks vs every 4 Weeks in NOVA. Late breaking abstract, presented at EAN 2022.
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