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E D I T O R I A L Für einen stigmafreien Umgang mit
Substanzkonsumstörungen
A uf der Grundlage jahrzehntelanger Forschung stellen Konsumstörungen im Zusammenhang mit einer beziehungsweise mehreren psychotropen Substanzen wie alle Suchterkrankungen multifaktoriell bedingte, komplexe und häufig chronisch verlaufende Erkrankungen dar (1). Substanzkonsumstörungen gehen mit beträchtlichen gesundheitlichen und psychosozialen Problemen einher und verursachen nicht nur viel Leid, sondern auch erhebliche Kosten (2). Die Inzidenzund Prävalenzraten von Substanzkonsumstörungen sind in der westlichen Welt allgemein hoch, und vielfach sind diese Erkrankungen mit weiteren psychischen Störungen vergesellschaftet (2, 3).
Trotz des heute geltenden Krankheitskonzepts für Substanzkonsumstörungen werden betroffene Menschen nach wie vor stigmatisiert, mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen und ihre Angehörigen sowie für das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft (4). Die Substanzkonsumstörung dient dabei als Merkmal, das die Betroffenen von anderen unterscheidet, sie herabwürdigt und ausgrenzt (5). Der zugrunde liegende Mechanismus ist bei allen potenziellen Stigmata gleich: Normabweichungen werden wahrgenommen und benannt, und ihnen werden negative Eigenschaften oder Stereotypen zugeschrieben. Es kommt zu einer emotionalen Reaktion, zu Ab- und Ausgrenzung und letztlich zu einer Diskriminierung auf der Handlungsebene (6, 7).
Die Stigmatisierung von Menschen mit Substanzkonsumstörungen manifestiert sich in vielfältiger Weise. Stigmatisierung kann sich in den direkten Beziehungen mit anderen Menschen zeigen, sei es in Form von Ablehnung, Ausgrenzung, abfälligen Äusserungen oder gar persönlichen Angriffen. Im Fall der öffentlichen Stigmatisierung werden die Betroffenen im öffentlichen Leben benachteiligt. Hierzu zählen beispielsweise übertriebene oder diskriminierende Darstellungen von Substanzkonsumstörungen und davon Betroffenen in den Medien. Unter der strukturellen Stigmatisierung versteht man die Benachteiligung Betroffener durch private und öffentliche Einrichtungen, zum Beispiel durch
Versicherungen, Ämter oder Dienstleitungen. Als Beispiel hierfür dient die bis Juli 2019 erfolgte Ungleichbehandlung von Menschen mit jahrelangen, schweren Substanzkonsumstörungen durch die Invalidenversicherung. Substanzkonsumstörungen wurden von der Invalidenversicherung entgegen den Erkenntnissen jahrzehntelanger Forschung und dem Sachverständnis internationaler Experten als durch «Willensanstrengung» für «überwindbar» gehalten, weshalb Betroffene keinen Anspruch auf eine Invalidenrente geltend machen konnten. Dass Menschen mit Substanzkonsumstörungen kategorisch von der Teilnahme bestimmter Therapieprogramme ausgeschlossen werden, ist ein weiteres Beispiel struktureller Stigmatisierung. Die Stigmatisierung durch andere führt letztlich auch dazu, dass Betroffene die Vorstellungen und die Vorurteile ihrer Umwelt übernehmen. Einige entwickeln Schuldgefühle und glauben, selbst für ihre Erkrankung verantwortlich zu sein. Ebenso wie die Stigmatisierung durch andere kann sich Selbststigmatisierung auf den Verlauf der Erkrankung negativ auswirken. Sie kann ausserdem dazu führen, dass die Betroffenen nicht mehr versuchen, mit anderen in Kontakt zu kommen oder medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen (8, 9).
Internationale Bevölkerungsstudien zeigen, dass das Stigma von Substanzkonsumstörungen im Vergleich zum Stigma anderer psychischer Erkrankungen von stärkeren Schuldvorwürfen, einer geringeren Akzeptanz eines Krankheitskonzepts für Suchterkrankungen und einer stärkeren persönlichen Ablehnung der Betroffenen geprägt ist (10– 12). Die Behandlung von Substanzkonsumstörungen geniesst in den Augen der Öffentlichkeit im Vergleich zu anderen Gesundheitsproblemen niedrige Priorität (13). Das Stigma von Substanzkonsumstörungen isoliert Menschen, die Hilfe brauchen, und entwertet Menschen, die Unterstützung, Kraft und Selbstvertrauen benötigen, um mit einem schwerwiegenden Problem fertigzuwerden (5). Studien zeigen, dass Selbststigmatisierung die Abstinenzzuversicht schwächt, dass erlebte und befürchtete Stigmatisierung die Symptomlast der Erkrankung
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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Foto: zVg
Kenneth M. Dürsteler
vergrössert und dass zur Vermeidung von Stigmatisierung Behandlung und Hilfe vermieden werden (14).
Fachkräfte im Gesundheitswesen begegnen ihren Patientinnen und Patienten nicht immer neutral beziehungsweise mit demselben Ausmass an Empathie. Zu den «ungeliebten» Diagnosegruppen der Fachkräfte gehören Menschen mit Suchterkrankungen (7, 15). Im Vergleich zur Allgemeinheit sind die Einstellungen der Fachkräfte im Gesundheitswesen gegenüber Menschen mit Substanzkonsumstörungen insgesamt etwas weniger mit Vorurteilen belastet, jedoch engagieren sich Hausärzte, Fachärztinnen, Pflegende und andere Fachkräfte in Praxen, Kliniken, Rehabilitationszentren usw. pauschal genommen deutlich weniger für diese Gruppe als für Menschen mit anderen Diagnosen (15). Diskriminierende Stigmata bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung können bei Medizinern zu behandlungsfeindlicher Denkweise und fehlerhafter medizinischer Versorgung führen. Dass solche Stigmata auch eine Auswirkung auf die Suche nach einer Behandlung haben, zeigen jahrelange Forschungen des amerikanischen National Institute of Health (NIH). Benötigte Therapien bleiben oft aus. So erhalten in den USA fast 90 Prozent der Patienten mit Substanzstörungen keine Behandlung (8). Eine neue Studie zeigt aber, dass eine angemessene Sprache zur Beschreibung von psychischen Erkrankungen oder Substanzkonsumstörungen zur Verringerung von Stigmata beitragen und somit die Lage der Betroffenen in medizinischen Einrichtungen oder in der Gesellschaft verbessern kann (15). Deshalb ist eine Veränderung in der Sprache für die Mobilisierung von Ressourcen für die Behandlung und zur Verringerung der Vorurteile notwendig, damit die Betroffenen nicht auf Hilfe verzichten, die sie dringend benötigen würden.
Entstigmatisierung bedeutet nicht, Probleme im Zusammenhang mit Substanzkonsumstörungen kleinzureden, sondern bessere Lösungen für diese Probleme zu finden und verfügbar zu machen (5). Entsprechend kann die Entstigmatisierung von
Substanzkonsumstörungen nur durch einen ange-
messenen Umgang damit gelingen. Anstelle von
Abwertung, Ausgrenzung und Disziplinierung soll-
ten Wertschätzung und Förderung der Fähigkeit für
selbstbestimmtes Handeln (Empowerment) im Zen-
trum von Prävention, Behandlung, Rehabilitation
sowie alltäglichem Umgang mit den betroffenen
Menschen stehen (10). Zu einem stigmafreien Um-
gang mit Substanzkonsumstörungen gehören vor
allem eine wertschätzende, vorurteilsfreie Begeg-
nung, die Einbindung in die Regelversorgung sowie
ein Krankheitskonzept für Substanzkonsumstörun-
gen und alle anderen Suchterkrankungen, was die
Erwartung für eine aktive Mitarbeit der betroffenen
Person beinhaltet und dadurch deren Selbstwirk-
samkeit stärkt (10, 16).
Viele aktuelle Entwicklungen in der Behandlung von
Substanzkonsumstörungen gehen bereits in die
Richtung von Wertschätzung und Empowerment im
Sinn von Ressourcenförderung, Motivation und Par-
tizipation. Dazu gehören beispielsweise eine indivi-
dualisierte Therapieplanung, ein therapeutischer
Umgang mit den Patienten auf der Grundlage
motivierender Gesprächsführung und eine partizi-
pative Gestaltung des Behandlungs- und Rehabilita-
tionsprozesses. Diese schliesst selbstverständlich die
therapeutische Arbeit nach einer Wiederaufnahme
des Substanzkonsums während der Behandlung ein.
Denn nach dem Krankheitskonzept für Substanz-
konsumstörungen gehören Rückfälle zum Krank-
heitsbild.
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Korrespondenzadresse Dr. phil. Kenneth M. Dürsteler Leitender Psychologe ADS/AfS/Janus Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: kenneth.duersteler@upk.ch
Referenzen: 1. Leshner AI: Addiction is a brain
disease, and it matters. Science. 1997;278(5335):45-47. 2. Murray CJL et al.: Global burden of 87 risk factors in 204 countries and territories, 1990–2019: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet. 2020;396(10258):1223-1249. 3. NIDA, National Institute on Drug Abuse. Common comorbidities with substance use disorders research report. Bethesda (MD); 2020. 4. Corrigan P et al.: Are some of the stigmas of addictions culturally sanctioned? Br J Psychiatry. 2017;210(3):180-181. 5. Schomerus G: Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden. Psychiatr Prax. 2017;44(5):249-251. 6. Link BG et al.: Conceptualizing stigma. Annual Review of Sociology. 2001;27(1):363-385. 7. Corrigan P et al.: Developing a research agenda for understanding the stigma of addictions Part I: Lessons from the Mental Health Stigma Literature. Am J Addict. 2017;26(1):59-66. 8. Han B: Key substance use and mental health indicators in the United States: results from the 2019 National Survey on Drug Use and Health (NSDUH Series H-55,HHS Publication No. PEP20-07-01-001). Rockville, MD: Center for Behavioral Health Statistics and Quality, Substance Abuse and Mental Health Services Administration; 2020. 9. Hammarlund R et al.: Review of the effects of self-stigma and perceived social stigma on the treatment-seeking decisions of individuals with drug- and alcohol-use disorders. Subst Abuse Rehabil. 2018;9:115136. 10. Corrigan PW et al.: Developing a research agenda for reducing the stigma of addictions, part II: Lessons from the mental health stigma literature. Am J Addict. 2017;26(1):67-74. 11. Schomerus G et al.: The stigma of alcohol dependence compared with other mental disorders: a review of population studies. Alcohol Alcohol. 2011;46(2):105-112. 12. Schomerus G et al.: Changes in the perception of alcohol-related stigma in Germany over the last two decades. Drug Alcohol Depend. 2014;143:225-231. 13. Schomerus G et al.: Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2006;41(5):369-377. 14. Glass JE et al.: Psychiatric comorbidity and perceived alcohol stigma in a nationally representative sample of individuals with DSM-5 alcohol use disorder. Alcohol Clin Exp Res. 2014;38(6):1697-1705. 15. Volkow ND et al.: Choosing appropriate language to reduce the stigma around mental illness and substance use disorders. Neuropsychopharmacology. 2021;46(13):2230-2232. 16. Corrigan PW et al.: How does the public understand recovery from severe mental illness versus substance use disorder? Psychiatr Rehabil J. 2019;42(4):341-349.
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