Transkript
FORTBILDUNG
Gibt es neue Verhaltenssüchte?
Foto: zVg
Menschen vertun ihre Zeit mit komischen Dingen – immer schon. Neu ist das nicht. Dauernd erfinden wir Dinge, die uns faszinieren, berauschen und gelegentlich süchtig machen. Aber was genau zeichnet süchtiges Verhalten aus? Aus Sicht der klinischen Perspektive gehen wir bereits angepasste Wege in der Suchttherapie und behandeln Formen des Kauf- und Sexualverhaltens neben Geldspiel und Gaming in spezialisierten Suchtzentren. Und was ist mit problematischen Formen von Fitness und Ausdauersportarten oder Binge Eating? Grundsätzlich sollten wir den Begriff Verhaltenssucht für exzessive Verhaltensweisen mit negativen Folgen sparsam verwenden, weil in der Fachwelt noch kein einheitliches theoretisches Konzept von «süchtigem Verhalten» existiert.
Martin Meyer
von Martin Meyer
Verhaltenssucht als neues Suchtkonzept Häufig wird mit dem Begriff Sucht (engl. addiction) das Konzept körperlicher Abhängigkeit (engl. dependance) von einer Substanz bezeichnet, die sich hauptsächlich durch körperliche Toleranzentwicklung und Entzugssymptome definiert. In den letzten Jahren merkte man, dass Suchtpatienten noch andere suchttypische Symptome aufweisen, die anders sind als die körperliche Abhängigkeit von einem Produkt. Aus diesem Grund war der Bedarf gegeben, das theoretische Modell einer «Sucht» zu erweitern und differenzierter zu konzeptualisieren (1). Deshalb wurde bei den Substanzen im wissenschaftlichen Bereich und in den Diagnosesystemen ab 2013 im DSM-V (diagnostic and statistical manual of mental disorders) der Begriff «substance use disorder» (SUD) eingeführt, um die breiter gefassten Konzepte und Terminologien der Suchterkrankungen einzuführen (2). Die ICD-11 (international classification of diseases) geht bei den psychischen Störungen in der Entwicklung des Suchtkonzepts noch einen Schritt weiter und behält den Begriff «disorders due to substance use» für stoffgebundene Suchterkrankungen, führt aber zusätzlich den Begriff oder das Konzept «addictive behaviors» ein – und meint damit süchtiges Verhalten und nicht abhängiges Verhalten (Tabelle) (3). Ausserdem sind die Fragen nach der Ätiologie von exzessiven Verhaltensweisen noch weiter zu klären. In den Theorien und Modellen zu der Frage, ob nun ein Verhalten, das Probleme verursacht, einem süchtigen Verhalten, impulsiven Verhalten, Zwangsverhalten oder einer Persönlichkeitseigenschaft zugeordnet werden soll, gibt es weiterhin keinen fachlichen Konsens, weshalb ein problematisches Sexualverhalten in der ICD-11
unter den Impulskontrollstörungen abgebildet wird (3). Die Kaufsucht taucht noch nicht als eigenständige Form einer Störung auf. Oft ist es die impulsive Art und Weise des Konsumverhaltens, wodurch Hinweise auf eine Verhaltenssucht gegeben werden. Unter Impulsivität ist mehr gemeint als kurze und spontane Handlungsimpulse, denen, ohne darüber nachzudenken, einfach so nachgegeben wird. Mit einem impulsiven Handeln gehen eher eine gewisse Absicht und Abwägung oder der Wunsch nach Vergnügen und Nervenkitzel einher, die im Vorfeld auftauchen. Zentral daran ist das Versagen, diesem Impuls, Antrieb oder Drang zu widerstehen. Die kurzfristige Belohnung ist längerfristig mit negativen Folgen für die Person selbst oder andere, mit starkem Leidensdruck oder erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verbunden.
Verhalten aus der Perspektive eines Suchtmodells Einerseits ist ein Suchtkonstrukt oder ein Modell hilfreich oder sogar notwendig, um Forschung zu betreiben und Symptome wie beispielsweise Craving zu konzeptualisieren, damit wir sie besser verstehen lernen. Andererseits verleiten solche Modelle dazu, die Dinge einseitig zu betrachten. In der Folge werden vielleicht Diagnosen erfunden, Therapiekonzepte oder Manuale erstellt, die manchmal wenig Individualität in der Therapie zulassen und die Realität der Bedürfnisse von Patienten verfehlen. Diese Übersetzungsarbeit aus der Klinik in die Forschung und wieder zurück scheint bei den Verhaltenssüchten «modellhaft» abzulaufen, was der wissenschaftliche und klinische Diskurs aufzeigt.
4/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
25
FORTBILDUNG
Tabelle:
ICD-10, DSM-V, ICD-11
Diagnosesystem ICD-10
DSM-V
ICD-11
Einführungsjahr 1994
2013
2022
Kapitel
Disorders of adult personality
Disorders due to substance use
and behaviour (F60–F69)
or addictive behaviours 6C50
Diagnosen
F63.0 Pathological gambling
Gambling disorder 6C50 Gambling disorder
Kapitel
Behavioral syndromes associated
Impulse control disorders 6C7
with physiological disturbances
and physical factors (F50–F59)
Diagnosen
F52.7 Excessive sexual drive
6C72 Compulsive sexual
behavoiur disorder
Kapitel
Feeding and eating Feeding or eating
disorders
disorders 6B8
Diagnosen
Binge eating disorder 6B82 Binge eating disorder
Veränderung der Diagnosen in den klinischen Diagnosesystemen in den letzten Jahren. Seit 2022 sind die Verhaltenssüchte Geldspielsucht (Gambling) und Gaming als eigenständige Diagnose im Kapitel der Suchterkrankungen aufgelistet. Kaufsucht oder Sportsucht tauchen als eigenständige Krankheitskonzepte noch nicht auf, wohingegen das Binge Eating als Form einer Essstörung bereits seit ein paar Jahren besteht.
Die Geldspielsucht ist die älteste konzeptualisierte Verhaltenssucht und als Suchterkrankung seit 2013 im DSM-V verankert (2), vorher war sie unter den Impulskontrollstörungen abgebildet. Aus klinischer Perspektive wurde aber rasch klar, was der fortlaufende wissenschaftliche Diskurs widerspiegelt, dass es deutliche Unterschiede gibt zwischen den «neuen Verhaltenssüchten» und einer Geldspielsucht. Die Suchtanteile beim Gaming, bei der Kaufsucht und der Hypersexualität mussten zuerst klinisch erfasst und dann wissenschaftlich belegt werden. Der aktive Diskurs unter den Fachleuten zeigte auf, dass es wichtig ist, zu unterscheiden, von welcher spezifischen Aktivität jemand abhängig ist, denn eine Casino- oder Internet-Abhängigkeit gibt es in diesem Sinne nicht. Es sind vielmehr spezifische Verhaltensweisen, die von Produkten wie beispielsweise Poker, Black Jack oder Slot-Machines abhängen und jeweils eine eigene Geldspieldynamik aufweisen, die wiederum spezifische Denkweisen und in der Folge Verhaltensweisen bedingen, die für den Patienten problematisch werden und sich zur Sucht entwickeln können. Das revidierte I-PACE-Modell (interaction of personaffect cognition execution) von der Forschungsgruppe um Mathias Brand (4) versucht, diese klinischen Aspekte in einem Modell zu konzeptualisieren (Abbildung 1). Ursprünglich wurde es für spezifische Internet-Gebrauchsstörungen (Internet-Gaming, Internet-PornografieKonsum, Internet-Shopping) entwickelt, findet nun aber zunehmend als Basismodell beim Konzeptualisieren von alten (Geldspiel) und «neuen» Verhaltenssüchten wie beispielsweise der Hypersexualität Zuspruch (5). Das Modell versucht unter anderem, den Prozess der Entstehung und der Aufrechterhaltung über die Aspekte Affekt, Kognition und Exekution von spezifischem süchtigem Verhalten aufzuzeigen. Dabei spielen Trigger, Craving und kognitive Verzerrungen für die Aufrechterhaltung der Verhaltensweisen eine wichtige
Rolle, die wir klinisch sehr häufig bei Patienten mit Gaming-, Kaufsucht und Hypersexualität beobachten. Aus klinischer Perspektive können wir unsere Beobachtungen in diesem Modell gut abbilden, und es hilft, zu erklären, welche Faktoren in der Therapie beeinflusst werden können. So ist beispielsweise der Faktor Person ein relativ stabiles und therapeutisch wenig veränderliches Konstrukt, das die biopsychologische Konstitution, also die Genetik, Kindheitserfahrungen und die daraus resultierenden biologischen Konsequenzen und Lerneffekte, aber auch Persönlichkeitsmerkmale und die Psychopathologie einbezieht. Dagegen sind die Faktoren Affekt, Kognition und Exekution mit den dazugehörigen Moderatoren und aufrechterhaltenden Faktoren für gezielte therapeutische Interventionen interessant. Am Beispiel der Geldspielsucht ist für einen Pokerspieler das Selbstwirksamkeitsprinzip zentral beim Spielverhalten. Die Überzeugung, dass «ich», der Pokerspieler, das Resultat steuern kann, wird zum zentralen Element des Suchtgeschehens. Ich muss mir noch mehr Wissen aneignen, damit ich noch besser spiele, weil Poker kein reines Zufallsspiel ist, bei dem ich nichts hinzulernen kann. Es geht dem Pokerspieler um das Attribut «ich bin quasi der Realisator des Ereignisses», und er erfährt dadurch ein positives Erlebnis (Gratifikation). Diese Art und Weise zu denken, bildet längerfristig kognitive Strukturen, die für den Suchtprozess oder die Verhaltensweisen zentral werden. Über die Affektkomponente werden Trigger wie Geldscheine oder ein bestimmter Betrag wie zum Beispiel 500 Franken auf dem Konto zum Auslöser für Craving. Selektiv werden Trigger in der Umgebung wahrgenommen, die mit Geldspiel zu tun haben, und impulsiv wird entschieden, das Verhalten auszuführen (reduction of executive functions/inhibitory control). Insbesondere die Erfahrung von Schulden oder der Verlust einer Beziehung werden ausser Acht gelassen oder später im Verlauf gar nicht mehr wahrgenommen. Führt das Spiel gelegentlich zu einem Gewinn, verstärkt
26
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
4/2022
FORTBILDUNG
Persönlichkeit
• Impulsivität • tiefes Selbstwertgefühl • geringes Verantwortungs-
bewusstsein
Soziale Kognition
• Einsamkeit • wahrgenommener sozialer Support • soziales Misstrauen
Copingstil
Biopsychologische Konstitution
• genetische Störung • frühkindliche Erfahrungen • Stressvulnerabilität
Kerncharakteristika einer Person
Psychopathologie
• Depression • soziale Ängste • Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Spezifische Motivation für
• Games • Glücksspiele • Cybersex und Pornografie • Shopping • Kommunikationswebsites/Apps
Subjektiv wahrgenommene Situation
• Konfrontation mit abhängigkeitsassoziierten Hinweisen
• Stress, persönliche Konflikte, abnorme Stimmung
Internetbedingter kognitiver Bias
• Erwartungen • Illusionen • implizite Assoziationen
Reduktion der Exekutivfunktionen/ Hemmkontrolle
Verstärkung
Affektive und kognitive Rückmeldungen
• Reaktion auf Hinweise • Craving • Drang zum Stimmungsausgleich • Aufmerksamkeitsbias
Entscheidung zum Gebrauch einer bestimmten Applikation
Verstärkung
Belohnung Kompensation
Verstärkung
Verstärkung
Stabilisierung und Intensivierung Stabilisierung und Intensivierung
Spezifische Internetgebrauchsstörung
Verschwundene Kontrolle über die Internetverwendung
Negative Konsequenzen im täglichen Leben
Stabilisierung und Intensivierung
Abbildung 1: I-PACE-Modell (mod. nach [4]) Insbesondere die affektiven und kognitiven Antworten, vermittelt durch Trigger, Craving, Emotionsregulation und selektive Wahrnehmung, die in impulsiver Art und Weise Entscheidungen steuern, imponieren in der klinischen Arbeit als suchttypische Faktoren.
das die kognitive Verzerrung, dass diese Strategie hilfreich ist, um beispielsweise Schulden aufzufangen oder einen nicht finanzierbaren Lebensstil zu führen, das trotz steigender Verluste und Schulden.
Perspektive der klinischen Erfahrung Auch bei der Kaufsucht und bei hypersexuellen Patienten lassen sich die im I-PACE-Modell (Abbildung 1) abgebildeten Faktoren und aufrechterhaltenden Bedingungen mit dem klinischen Erscheinungsbild der Verhaltensweisen konzeptualisieren, und die Anhaltspunkte für süchtiges Verhalten verdichten sich zunehmend. Erste stationäre Therapieerfahrungen dieser Patienten werden in spezialisierten Abteilungen für Zwangs- und Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen oder stoffgebundene Suchterkrankungen eingebunden. Die positiven Veränderungen fanden in genau diesen Aspekten statt und waren auch im Verständnis für das Konsumverhalten hilfreich. Aber die Suchtaspekte wie
Ambivalenz, Stimuluskontrolle, Craving und Trigger oder Rückfallprophylaxe waren keine zentralen Aspekte dieser Behandlungen. Irgendetwas fehlte. Während der ambulanten Nachsorge fiel auf, dass die Patienten in «geschützter» Umgebung zwar für kurze Zeit eine Art Konsumstopp umsetzen konnten, aber schon bald Vorfälle aufgrund typischer Trigger stattfanden, die Craving auslösten. Die typischen Gefühle von Scham und Angst, nicht verstanden oder sogar sanktioniert zu werden, lösten rasch einen Teufelskreis aus Vermeiden, Verstecken und Banalisieren aus.
Klinisches Beispiel Kaufsucht Ein Termin bei der Schuldenberatung einer kaufsüchtigen Patientin endete an einem Freitag in einem Kaufrausch. Zufällig war genau dieser Freitag ein Black Friday. Schon am Mittwoch kamen erste wohlige, beinahe euphorisierende Gefühle auf (craving). Und gedanklich began sie, eine Shopping-Tour zu planen. Nach einem
4/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
27
FORTBILDUNG
Seite 3
intensiven Gespräch über Beziehungen mit einer
Gruppe von Mitpatientinnen kam erneutes Craving auf.
Sie nahm sich aber fest vor, nur zum Termin der Schul-
denberatung und nicht zum Shopping zu gehen (Ver-
such, das Verhalten zu reduzieren). Sie schaffte es auf
direktem Weg zum Termin. Aber die Konfrontation mit
spezifischen Triggern (Werbung und negative Gefühle)
und das anschliessende Craving schalteten die Kontrolle
des Frontalhirns aus. Sie lieh sich mehrere Hundert Fran-
ken von einem Mitpatienten per Twint. Als sie die ersten
Kleider anprobierte, verfiel sie in eine Art Rauschzu-
stand. Sie kaufte Kleider, die sie nicht brauchte, und ein
teures Geschenk für den Geldgeber. Als sie zurück auf
die Abteilung kam, verkaufte sie ihre Geschichte so gut
und bagatellisierte ihre Handlung mit der Ruhe eines
tausendmal eingeübten Rituals, sodass dieser Vorfall un-
entdeckt blieb. Aufgrund von Scham und Frustration vermied die Patientin die therapeutische Aufarbeitung. Am Anfang schien das Craving durch einen spezifischen Trigger ausgelöst zu sein. Doch wir sehen ebenfalls, dass
Abbildung 2: Plakat zu den Triggerpunkten bei einer stationären Patientengruppe zu den Themen Kaufsucht, Hypersexualität, Gaming und Geldspiel:
für die eigentliche Verhaltenssucht unspezifische Trigger wie Musik, Fantasien, Wünsche, Zugehörigkeitsgefühle, gemeinsame schöne Momente während Ausflügen oder Aktivitäten je nach Kontext und Tageszeit starkes Craving auslösen können, was wir gut von den Substanzabhängigkeiten her kennen.
Was ist mit Sportsucht? Sport ist gut. Und dieser Eindruck soll grundsätzlich fortbestehen, auch aus suchttherapeutischer und gesell-
Die Patientengruppe definierte für sich Triggerpunkte, die den stationären Alltag betreffen und zu Vorfällen geführt haben. Hinzu kommt der impulsive Anteil des Konsumverhaltens, der wie Benzin für das problematische Verhalten ist. Und der Motor, der das Benzin verarbeitet, ist aus klinischer Perspektive bei vielen «kaufsüchtigen» und «hypersexuellen» Patienten eine Suchterkrankung. Im Rahmen einer Zwangsspektrumsstörung, bei der es klassischerweise um das Neutralisieren von Angst geht oder um Persönlichkeitsstörungen, erscheinen solche Ereignisse weniger erklärbar als in der Rationalen einer Suchterkrankung.
schaftlicher Perspektive. Sport wurde in den letzten
Jahren ein wichtiger evidenzbasierter Bestandteil ps2y9c.hSoethpetreampebuetris2c0h1er8 EinricVhoturnnagmene uNnadmBee|hPanräds- entagtieohnts, tditaeblei helfen die Angaben über die Dauer der Ak-
lungsstrategien. Aber wir sind auf dem Weg, die Diffe- tivität (Zeitlimit) oder den Kilometerstand. Die Absicht,
renzierung herauszuarbeiten, wie problematischer dieses Gefühl der Erlösung zu erreichen und es hinaus-
Sport aussehen kann (6). Typischerweise sind es die zuzögern, um es zu geniessen, scheint ähnlich zu sein
breit kommerzialisierten Fitnessprodukte und Ausdau- wie die Verzögerung des Orgasmus bei Formen der
ersportprodukte, bei denen wir aus therapeutischer Masturbation bei gewissen hypersexuellen Patienten.
Perspektive zunehmend ein problematisches Sportver- Manchmal sind es erst körperliche Erschöpfung oder
halten beobachten. Aus klinischer Perspektive scheinen Schmerzen, welche die Aktivität stoppen, weil noch ein
Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen und Cra- Kilometer oder noch eine Runde hinzugekommen sind
ving zentrale Faktoren in der Entwicklung und der Auf- (Kontrollverlust). Die Patienten beschreiben, dass es
rechterhaltung von problematischem Sport zu sein. immer länger dauert, bis das Gefühl erreicht wird, wes-
Hierbei ist die Toleranzentwicklung nicht gleichzusetzen halb die Dauer und die Intensität des Sports stetig
mit der angestrebten Verbesserung der Leistungs- zunehmen. Dieser Effekt hat wenig zu tun mit dem an-
fähigkeit. Es scheint eher um ein befreiendes Gefühl zu gestrebten «normalen» Besserwerden und der ge-
gehen, das sich nach ausreichend Bewegung einstellt, wünschten Leistungssteigerung, was einen gesunden
und nicht um das sogenannte «runners high», das die Umgang mit Sport darstellen würde. Im Nachhinein
Patienten gut davon abgrenzen können. Dieser Gefühls- können Schamgefühle und der Vorsatz, weniger inten-
zustand muss trotz negativer Folgen und des Bewusst- siv Sport zu betreiben, aufkommen.
seins über Ermüdungsbrüche, Sehnenentzündungen
oder Fatigue durch Überbeanspruchung erreicht wer- Esssucht?
den. Beim problematischen Ausdauersport zum Beispiel Essstörungen sind aus klinischer Perspektive sehr hete-
berichten die Betroffenen häufig, dass nach einer ge- rogen. Binge Eating ist eine Form davon. Für das Binge
wissen Zeit des «Nichtstuns» eine Art Unruhe aufkommt Eating verdichten sich ebenfalls die wissenschaftlichen
(Entzugserscheinung). Dabei erzählen die Patienten von Erkenntnisse und klinischen Erfahrungen, dass es sich
der Vorfreude auf ein wohliges Gefühl nach dem Sport, dabei um eine Suchterkrankung handelt (7, 8). Die
von einer Art Euphorie oder einem befreienden Gefühl, Gruppe von Patienten innerhalb der Binge-Eating-
das sehnsüchtig erwartet respektive geplant und ange- Störung mit einer Adipositas werden häufig in interpro-
strebt wird (craving). Im Verlauf der Aktivität kommt die- fessionellen (Somatik und Psychologie) Behandlungs-
ses Gefühl der Erlösung immer näher, breitet sich im angeboten in spezialisierten Adipositaszentren be-
ganzen Körper aus und erhält uneingeschränkte Auf- gleitet, wobei neue Behandlungssettings und Therapie-
merksamkeit. Dieser Beinahezustand dieses Gefühls formen vor allem für die Übergewichtigen in dieser
wird dann aber hinausgezögert, solange es irgendwie Patientengruppe entstehen. Der Druck auf die Behand-
28
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
4/2022
FORTBILDUNG
lungssysteme für diese spezielle Form der Essstörung scheint aufgrund der Komplexität, der Rückfälle in alte Verhaltensmuster und der körperlichen sowie psychischen Komorbiditäten zuzunehmen. Die bisherigen Erfahrungen von und mit den Patienten und den Behandlungsteams spielen bei diesem Druck zur Veränderung der Therapie ebenso eine wichtige Rolle. Eine Ähnlichkeit mit den oben beschriebenen Verhaltenssüchten (Kaufsucht, Hypersexualität) besteht dahingehend, dass angepasste Behandlungssettings und Therapieformen sich aufdrängen, damit Patienten, aber auch Behandlungsteams sich in Bezug auf das Verfahren finden. Inwieweit ein suchtspezifisches Therapiekonzept bei diesen Patienten hilfreich sein kann, muss sich erst noch erweisen. Ein solches scheint sich aber anzubieten. Aus suchttherapeutischer Perspektive werden von den Patienten suchttypische Symptome wie Toleranzentwicklung, Craving, Trigger und selektive Wahrnehmung, kognitive Verzerrungen, Kontrollverlust, aber auch Betäubung geschildert. Dabei fanden etliche fehlgeschlagene Versuche statt, mit dem Ziel, das Essverhalten zu reduzieren, bis der Druck so hoch wurde, dass der Betroffene oder sein soziales Umfeld Hilfe holen musste. Die Stigmatisierung von Suchterkrankungen sowie die Scham über den Kontrollverlust beim Essverhalten verhindern oft eine frühzeitige fachgerechte Behandlung.
Und was ist mit ... Plastische Chirurgie oder Pearcings, aber auch Tattoos können Ausmasse annehmen, die einer Verstümmelung des Körpers nahekommen, und trotzdem wurde das initial angestrebte Ziel nie erreicht. Dabei scheint eher eine Toleranzentwicklung als Motor zu fungieren. Das Modell der Dysmorphophobie, wie wir es bei Magersuchtpatienten kennen, passt irgendwie nicht zu diesem Verhalten, obwohl dysmorphophobische Anteile im Verlauf der körperlichen Veränderung geschildert werden. Die klinische Erfahrung und die wissenschaftliche Datenlage sind noch sehr gering, und nur wenige Menschen mit diesem Verhalten suchen gezielte therapeutische Hilfe. Deshalb sind wir weit entfernt, diese Verhaltensweisen als Suchterkrankung zu betrachten. Die Abgrenzung zur Sucht ist noch weitgehend unklar. Und wir sollten sehr vorsichtig sein, denn nicht jedes impulsiv wirkende Verhalten mit negativen Konsequenzen ist eine Suchterkrankung oder Ausdruck einer psychischen Störung.
Fazit Suchtmodelle helfen bei der Differenzierung und fördern das Verständnis über suchttypische Symptome und aufrechterhaltende Faktoren. Bei Formen des Kaufund Sexualverhaltens (Kaufsucht und Hypersexualität) sehen wir aus der klinischen Perspektive bei manchen Patienten die typischen dynamischen Prozesse einer Sucht. Erst mit der Implementierung eines individuellen
Merkpunkte:
● Geldspiel- und Gamingsucht werden in der ICD-11 neu unter den Suchterkrankungen eingeordnet und als solche konzeptualisiert.
● Hypersexualität wird neu in der ICD-11 unter den Impulskontrollstörungen abgebildet. Kaufsucht erscheint noch nicht als spezifische Störung.
● Grundsätzlich existiert noch kein einheitliches Konzept für die Verhaltenssüchte, aber das I-PACE-Modell scheint aus klinischer Perspektive für die Konzeptualisierung des Suchtanteils bei exzessiven Verhaltensweisen vielversprechend zu sein.
● Individuelle suchttherapeutische Therapiekonzepte, angepasst an die Bedürfnisse hilfesuchender Patienten mit exzessiven Verhaltensweisen, führten zu einer deutlichen Verbesserung der Veränderungsbereitschaft, und die Patienten fühlten sich in Bezug auf die Behandlung verstanden.
● Rein impulsives exzessives Verhalten kann auf eine Suchterkrankung hinweisen und diese aufrechterhalten. Es definiert diese aber nicht als Suchterkrankung.
● Bei Formen eines problematischen Kauf- und Sexual-, Sport- und Essverhaltens finden sich aus klinischer Perspektive bei einigen Patienten deutliche Anzeichen einer Sucht.
spezifischen Suchtkonzepts fühlen sich die Patienten in
ihren Problemen verstanden, weil sie sich in Bezug auf
die Behandlung wiederfinden und sie es dadurch schaf-
fen, an ihren Verhaltensweisen zu arbeiten. Ob sich
diese Konzepte bei Formen von Sport und Binge Eating
anwenden lassen, muss erst getestet und noch besser
verstanden werden.
l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Martin Meyer Verhaltenssüchte Stationär/Ambulant (VSS/VSA) Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wilhelm Klein-Strasse
4001 Basel E-Mail: Martin.Meyer@upk.ch
Referenzen: 1. Grant JE et al.: Expanding the definition of addiction: DSM-5 vs. ICD-11.
CNS Spectr. 2016 Aug;21(4):300-3. doi: 10.1017/S1092852916000183. 2. American Psychiatric Association (APA): Diagnostisches und
Statistisches Manual Psychischer Störungen 2013. USA. 3. World Health Organization (WHO): International statistical
classification of diseases and related health problems. ICD-11. 2022. 4. Brand M et al.: Integrating psychological and neurobiological
considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: an interaction of person-affectcognition-execution (I-PACE) model. Neurosci Biobehav Rev. 2016;71:252-266. doi: 10.1016/j.neubiorev.2016.08.033. 5. Mead D et al.: Pornography and sexuality research papers at the 4th international conference on behavioral addictions. Sexual Addiction & Compulsivity. 2017;24(3):217-223. doi: 10.1080/10720162.2017.1344167. 6. Colledge F et al.: Exercise addiction – status, identification and treatment. Praxis (Bern 1994). 2022;111(6):317-321. doi: 10.1024/1661-8157/a003875. 7. Wiss DA et al.: Food addiction and psychosocial adversity: biological embedding, contextual factors, and public health implications. Nutrients. 2020;12(11):3521. doi: 10.3390/nu12113521. 8. Novelle MG et al.: Food addiction and binge eating: lessons learned from animal models. Nutrients. 2018;10(1):71. doi: 10.3390/ nu10010071.
4/2022
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
29