Transkript
Vor dem ersten Schritt
Physiotherapie bei Neugeborenen mit Fussfehlhaltungen
Schwerpunkt
Fussfehlhaltungen bei Neugeborenen sind häufig, regulieren sich jedoch meist spontan. Trotzdem ist die rechtzeitige Vorstellung eines neugeborenen Kindes mit Fussfehlhaltungen sinnvoll und wichtig, um gegebenenfalls vor der entwicklungsspezifischen Teil- und Vollbelastung der unteren Extremitäten befundorientierte Indikationen zur therapeutischen Behandlung zu stellen.
Von Manuela Eichenberger, Claudia Bucher, Elisa Garbani, Sarah Frey, Nadine Schärmeli, Maya Gnädinger und Monika Schild
Wir, das Team der Kinderphysiotherapie am Kantonsspital Aarau (KSA), freuen uns, die kinderphysiotherapeutische Vorgehensweise und unsere Erfahrungen bei neugeborenen Kindern mit Fussfehlhaltungen vorzustellen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Behandlung bei Neugeborenen mit Fussfehlhaltungen. Kongenitale strukturelle Fussdeformitäten bei Kindern, wie zum Beispiel Klumpfuss, sowie das physiotherapeutische Setting bei erworbenen Fussdeformitäten (z. B. bei neurologischen Erkrankungen) werden in diesem Artikel nicht thematisiert. Die Erfahrung am Kantonsspital Aarau zeigt, dass Fussfehlhaltungen bei Neugeborenen häufig lagebedingt sind und sich in den ersten Lebenstagen spontan in die physiologischen Positionen entwickeln. Diese Erfahrung wird durch die aktuelle Studienlage bestätigt (1, 2). Velasco zeigt auf, dass 30 Prozent der Neugeborenen bei der Geburt eine Fussfehlhaltung aufweisen (3). Die häufigsten Fussfehlhaltungen bei Neugeborenen sind der Sichelfuss (Pes adductus) und der Hackenfuss (Pes calcaneus). In den meisten Fällen löst sich die Deformität spontan auf, trotzdem ist es wichtig, ausgeprägte Fussfehlhaltungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Essenziell ist die rechtzeitige Erkennung der Fussfehlhaltung. Sie kann durch die Eltern und die verschiedenen Fachpersonen wie zum Beispiel Pflegefachpersonen, Hebammen, die Mütter-Väter-Beratung und natürlich auch durch die Pädiater erfolgen. Dadurch ist gewährleistet, dass die kinderphysiotherapeutische Befunderhebung zeitnah durchgeführt wird. Aus der differenzierten Befunderhebung werden die kinderphysiotherapeutische Vorgehensweise und die Intervention abgeleitet. Im Kasten sind die möglichen befundspezifischen, kinderphysiotherapeutischen Interventionen aufgelistet. Die physiotherapeutische Behandlung kann im stationären und/oder ambulanten Setting in unterschiedlicher Intensität durchgeführt werden. Je nach Befund können zusätzliche Fachdisziplinen involviert sein, wie zum Beispiel die Kinderorthopädie und die Ortho-
Kinderorthopädie
Kinderphysiotherapie
Osteopathie
Befund Interventionen
Orthopädietechnik
Neuropädiatrie
Abbildung 1: Interdisziplinäres Behandlungsteam
pädietechnik. Abbildung 1 visualisiert das interdisziplinäre Behandlungsteam. Von zentraler Bedeutung sind bei jeder kinderphysiotherapeutischen Behandlung die Eltern. Sie sind für die regelmässige Umsetzung der Interventionen im Alltag verantwortlich. Das erfordert eine differenzierte Information und Instruktion der Bezugspersonen. Durch diese Vorgehensweise wird die Elternkompetenz aufgebaut und der nachhaltige Behandlungserfolg gewährleistet.
Kasten:
Befundspezifische therapeutische Interventionen
● therapeutische Lagerungen ● Weichteiltechniken ● manuelle Techniken (nach R. Sohier, Kaltenborn-Evjent, Maitland, Zukunft-Huber) ● Bandagieren ● Tape-Techniken ● muskuläre Stimulationstechniken ● funktionelle Techniken ● entwicklungsneurologische Konzepte und Methoden (Bobath/Vojta)
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Schwerpunkt
Abbildung 2: A: Metatarsus adductus rechts; B: Mögliche Intervention: Weichteiltechnik
Abbildung 3: A: Pes adductus links; B: Mögliche Intervention: funktionelles Tape
Abbildung 4: A: Windschlagphänomen: Pes calcaneus rechts, Pes adductus links; B: Mögliche Intervention: therapeutische Lagerung zur Beeinflussung der Bein-Fuss-Achsen
Abbildung 5: A: Pes calcaneus rechts; B: Beeinflussung der muskulären Dysbalance. Die Hyperaktivität von M. tibialis anterior und M. extensor hallucis longus wird durch die Gazerolle eingeschränkt, um die Aktivität des M. triceps surae zu ermöglichen bzw. zu stimulieren.
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Die gesamtheitliche Erfassung des Säuglings ist von grosser Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass Säuglinge mit Fussfehlhaltungen vermehrt Zentrierungsstörungen im Bereich der Hüftgelenke und Symmetriestörungen im Kopf- und Rumpfbereich aufweisen. Die Studie von Håberg et al. (4) belegt einen Zusammenhang zwischen Fussfehlhaltungen und Hüftdysplasien bei Neugeborenen. In den Abbildungen 2 bis 5 sind verschiedene Fussfehlhaltungen und entsprechende Behandlungsbeispiele dargestellt.
Fazit
● Wie Studien zeigen, sind nur wenige Neugeborene in der Schweiz von Fussfehlhaltungen betroffen. Zusätzlich zeigen unsere Erfahrungen, dass sich Fussfehlhaltungen bei Neugeborenen spontan regulieren können.
● Trotzdem ist für uns die rechtzeitige Erfassung und Vorstellung der neugeborenen Kinder mit Fussfehlhaltungen zur Triagierung (Indikationsstellung, weitere Abklärungen und/oder therapeutische Interventionen) durch eine spezialisierte Fachperson, wie zum Beispiel eine Kinderphysiotherapeutin oder einen Kinderphysiotherapeuten, sinnvoll. Sie ermöglicht, rechtzeitig befundspezifische Behandlungsempfehlungen abgeben zu können.
● Die Studienlage weist auf eine Korrelation zwischen Fussfehlhaltungen und Symmetriestörungen im Kopfund Rumpfbereich hin. Auch aus diesem Grund ist die rechtzeitige und ganzheitliche Erfassung des Neugeborenen essenziell.
● Das interdisziplinäre Ziel besteht darin, die definierten Behandlungsziele vor der entwicklungsspezifischen Teil- und/oder Vollbelastung der unteren Extremitäten zu erreichen.
● Unser übergeordnetes Ziel sind physiologische, funktionsfähige Füsse – vor dem ersten Schritt.
Korrespondenzadresse: Kantonsspital Aarau Kinderphysiotherapie Haus 14 Tellstrasse 5001 Aarau E-Mail: physiotherapiekikli@ksa.ch
Danksagung: Wir danken den Eltern der Kinder für ihre Bereitschaft, das Fotomaterial für diesen Artikel zur Verfügung zu stellen.
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Alle Abbildungen wurden von den Autorinnen zur Verfügung gestellt.
Literatur: 1. Panski A et al.: Universal neonatal foot orthotics – a novel treatment of infantile metatarsus adductus. Eur J Pediatr. 2021;180(9):2943-2949. 2. Williams CM, James AM, Tran T: Metatarsus adductus: development of a non-surgical treatment pathway. J Paediatr Child Health. 2013;49(9):E428-433. 3. Velasco R: Fussdeformitäten im Kindesalter. Pädiatrie. 2012;17(2):9-16. 4. Håberg Ø et al.: Is foot deformity associated with developmental dysplasia of the hip? Bone Joint J. 2020;102-B(11):1582-1586.
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