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FORTBILDUNG
Inwiefern können App-basierte Nachsorgeinterventionen und neue technologische Entwicklungen psychiatrische Rehospitalisierungen reduzieren?
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Philipp Pompetzki
Der Wechsel vom stationären in das ambulante Setting stellt für Betroffene mit psychischen Störungen eine kritische Übergangszeit dar, in der es häufig zu Rückfällen, suizidalen Krisen oder Rehospitalisierungen kommt. Vielen Patienten steht nach einem stationären Aufenthalt nicht unmittelbar ein ambulanter Therapieplatz zur Verfügung, und Nachsorgeangebote sind selten Teil der Regelversorgung. Die Digitalisierung bietet diesbezüglich neue Möglichkeiten, das bestehende Behandlungsangebot zu erweitern. Besonders der technologische Fortschritt im Bereich von Smartphones und Apps ermöglicht neue Formen der Informationsvermittlung, die bestehende Versorgungslücken schliessen könnten. Der nachfolgende Artikel soll einen kurzen Überblick über die Rehospitalisierungsproblematik geben und aufzeigen, wie App-basierte Interventionen bisher in der Nachsorge eingesetzt wurden. Zudem wird dargelegt, inwiefern neue technische Entwicklungen, wie die Chatbot-Technologie und die Erhebung passiver Daten, den Effekt App-basierter Interventionen in Zukunft verbessern können.
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Charles Benoy Marc Walter Simone Munsch
von Philipp Pompetzki1,4, Charles Benoy1,2, Marc Walter3, Simone Munsch4
Rehospitalisierungen als Versorgungsproblem
E ffekte stationärer Behandlungen nachhaltig und langfristig in das ambulante Setting zu übertragen, stellt eine grosse Herausforderung für die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen dar. Der Übergang vom stationären in das ambulante Setting wird von Betroffenen meist als sehr belastend erlebt (1). Metaanalysen zeigen, dass das Suizidrisiko nach einem Austritt aus dem stationären Setting um ein Vielfaches erhöht ist (2, 3). Kohortenstudien zu selbstverletzendem Verhalten legen dar, dass dieses ebenfalls gehäuft auftritt, insbesondere in den ersten 4 Wochen nach Austritt (4). Wiederholte Hospitalisationen in psychiatrischen Kliniken deuten zudem auf einen sich verschlechternden Krankheitsverlauf hin und sind ein deutlicher Einschnitt im Sozial- und Arbeitsleben von Patienten (5). Neben den individuellen und institutionellen Herausforderungen ist das Phänomen der «Drehtürpsychiatrie» (6) ein beachtliches soziales und ökonomisches Problem (7). In den USA liegen die Rehospitalisierungsraten von Patienten in psychiatrischen Kliniken nach einem Jahr bei zirka 50% und steigen nach 7 Jahren auf bis zu 86% (8). Ein von der EU finanziertes Projekt zeigt, dass in Europa
1 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel 2 Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique, Luxemburg 3 Psychiatrische Dienste Aargau 4 Universität Fribourg
die Rehospitalisierungsraten nach einem Jahr zwischen 33,6 (Slowenien) und 47,9% (Norwegen) liegen (9). Ein Bericht des schweizerischen Gesundheitsobservatoriums von 2020 zeigt auf, dass die Anzahl psychiatrischer Rehospitalisierungen zwischen 2002 und 2018 zugenommen hat (10). So stieg der Anteil von Patienten mit mehr als einem Aufenthalt pro Jahr von 22,3 auf 29,6% an. Insgesamt zeichnet sich in den meisten Ländern ab, dass etwa ein Drittel aller Rehospitalisierungen innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten bereits in den ersten 2 Monaten nach der Entlassung stattfindet (9). Das Risiko für eine erneute Hospitalisierung ist dabei im ersten Monat nach der Entlassung am höchsten (9, 11). So liegen die Rehospitalisierungsraten nach 30 Tagen in Europa zwischen 10 und 15% (9). Aufgrund der hohen Rehospitalisierungsraten hat sich eine Vielzahl von Studien mit möglichen Prädiktoren der Wiederaufnahme in psychiatrische Kliniken beschäftigt (5). Dennoch gibt es wenig Konsens darüber, welche Prädiktoren Rehospitalisierungen verlässlich vorhersagen. Studienergebnisse sind oft widersprüchlich oder nicht repräsentativ für die gesamte Population von Patienten, die in psychiatrischen Kliniken behandelt werden (12). Zudem müssen Rehospitalisierungsraten in Bezug auf das in dem jeweiligen Land vorherrschende Gesundheitssystem betrachtet werden und unter dem Gesichtspunkt, dass sich Prädiktoren erneuter Hospitalisationen je nach Untersuchungszeitraum ändern können (13, 14). Am besten belegt ist bis anhin der Vorhersagewert der Anzahl bisheriger Hospitalisationen und Arbeitslosigkeit (15). Die Datenlage bezüglich häufig untersuchter Faktoren wie der Länge des Aufenthalts, der Diagnose oder soziodemografischer Faktoren wie
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Alter, Geschlecht und Bildungsniveau zeigt studienübergreifend inkonsistente Ergebnisse (15). Verheiratet zu sein, soziale Unterstützung, Adhärenz bezüglich der psychiatrischen Medikation sowie die Compliance mit der Nachsorgetherapie wurden in 2 Reviewartikeln als protektive Faktoren ausgemacht (15, 16). Qualitative und quantitative Studien, welche die Erfahrungen von Patienten in der Übergangszeit vom stationären in das ambulante Setting untersuchten, weisen auf weitere psychologische Prozesse hin, die die Übergangszeit erschweren, wie eine fehlende Selbstwirksamkeit, unzureichende Coping-Strategien, ein Gefühl fehlender Autonomie oder ein Mangel an als sinnvoll erachteten Aktivitäten. Ausserdem werden psychosoziale Faktoren wie Armut, zwischenmenschliche Konflikte und stigmatisierende Erfahrungen von Patienten als belastend angegeben (1). Aus Patientensicht helfen vor allem eine gute Austrittsplanung, die Tagesstrukturierung, soziale Unterstützung und Psychoedukation sowohl während als auch nach dem stationären Aufenthalt, um erneute Hospitalisierungen zu vermeiden (17).
Mangelnde flächendeckende Nachsorgeangebote Die Ergebnisse mehrerer Metaanalysen weisen darauf hin, dass verschiedene psychotherapeutische Nachsorgeansätze sowie die Aufrechterhaltung der indizierten Medikation wirksam sind, um das Wiederauftreten psychischer Störungen zu reduzieren (18–21). Dennoch finden diese Nachsorgeansätze nur in begrenztem Umfang Einzug in die Routineversorgung. Das wird unter anderem auf organisatorische Hindernisse wie lange Wartezeiten, limitierte örtliche und zeitliche Erreichbarkeit und begrenzte Ressourcen der Gesundheitssysteme zurückgeführt (22, 23). So kommt es häufig vor, dass Patienten nach einem stationären Aufenthalt länger auf einen ambulanten Therapieplatz warten oder ohne jegliche Form von Nachsorge in ihren Alltag zurückkehren. Die SARS-CoV-2-Pandemie hat diese Situation verschärft, da sie zu einer weltweiten Zunahme psychischer Störungen geführt hat, woraus ein höherer Bedarf an wirksamen Behandlungs- und auch Nachsorgeangeboten resultiert (24, 25). Zudem haben anhaltende Kontaktbeschränkungen aufgezeigt, dass weitere Behandlungsformen nötig sind, um Patienten ein Behandlungsangebot jenseits der klassischen Face-to-FaceTherapie zur Verfügung zu stellen (26). In diesem Zusammenhang bieten sich digitale Interventionen an, da sie für eine breite Population rasch, täglich und unabhängig vom Wohnort verfügbar sind. Bislang konzentrierte sich die Nachsorgeforschung auf die Wirksamkeitsprüfung internetbasierter Interventionen, die neuerdings immer häufiger in App-basierte Interventionen übersetzt werden, was eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten offeriert (27).
App-basierte Interventionen zur Nachsorge App-basierte Interventionen erhöhen den Zugang zu Behandlung durch die Möglichkeit der orts- und zeitunabhängigen Anwendung (28) und bieten einen hohen Grad an Personalisierung, Standardisierung und Interaktivität (27, 29, 30). So können Inhalte App-basierter Interventionen dafür eingesetzt werden, nach einer
stationären Behandlung die Aufrechterhaltung des therapeutischen Fortschritts durch das Wiederholen und Vertiefen von Therapieinhalten zu gewährleisten und in den Alltag zu transferieren. Von den zurzeit verfügbaren über 10 000 Apps zur Verbesserung der psychischen Befindlichkeit wurde lediglich ein geringer Teil von Fachpersonen entwickelt oder wissenschaftlich überprüft (31, 32). Die Mehrzahl bisher erhältlicher Apps beinhalten Funktionen zur Selbstbeobachtung von Stimmung (mood tracking, journaling), zur Psychoedukation oder zu Atem- und Achtsamkeitsübungen (33). Im Folgenden werden die wenigen Appbasierten Anwendungen, die auf die tertiäre Prävention ausgerichtet sind, vorgestellt (34). Eine kürzlich erschienene randomisierte, kontrollierte Studie aus Dänemark untersuchte in einer Stichprobe von 120 depressiven Patienten eine App-basierte Intervention zur Nachsorge nach einem stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik (28). Patienten in der Kontrollgruppe erhielten die in Dänemark vorherrschende ambulante Regelversorgung, während die Experimentalgruppe zusätzlich eine Smartphonegestützte Intervention erhielt. Diese besteht aus einem Training zum Umgang mit Symptomen, psychoedukativen Inhalten sowie einem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Modul zur kognitiven Umstrukturierung und Rumination. Patienten der Experimentalgruppe wurde zudem eine Study-Nurse zugeteilt, die Zugang zu den von Patienten angegebenen Daten hatte und diese bei Bedarf unterstützte. Trotz der zusätzlichen Unterstützung zeigte sich allerdings kein signifikanter Einfluss auf die Rehospitalisierungsraten, die Dauer bis zur erneuten Hospitalisation oder die depressive Symptomatik. Über 70 Prozent der Teilnehmenden erhielten eine intensive ambulante, multidisziplinäre Nachsorge, weshalb der differenzielle, additive Effekt der App-basierten Nachsorge nur schwer zu eruieren bleibt (28). Eine prospektive Kontrollgruppenstudie aus Deutschland konnte zeigen, dass Patienten, die eine App-basierte Nachsorge erhielten, die im stationären Setting erreichte Reduktion der Depressionssymptomatik in den ersten 3 Monaten nach Austritt besser aufrechterhalten konnten als Patienten in der Kontrollgruppe (35). Die Studie wurde in einer Rehabilitationsklinik implementiert, wobei Patienten in der Kontrollgruppe (n = 42) die ambulante poststationäre Regelversorgung erhielten und Patienten in der Experimentalgruppe (n = 50) zusätzlich eine Smartphone-gestützte Intervention. Die Intervention basierte auf kognitiv verhaltenstherapeutischen Elementen und unterstützte Patienten unter anderem bei der Tages- und Aktivitätsplanung, der Durchführung von Entspannungsübungen sowie der Einhaltung der Medikation. Zudem wurden vor Austritt mit jedem Patienten ein individueller Notfallplan und eine Liste mit persönlich wirksamen Coping-Strategien erstellt und auf das Smartphone übertragen. Unterstützend standen therapeutische Fachpersonen telefonisch zur Verfügung, um offene Fragen zu besprechen und punktuell Rücksprache zu halten. Bei Auffälligkeiten der wöchentlichen Messung der Depressivität konnten die Therapeuten selbst Kontakt zu den Patienten aufnehmen. Eine Pilotstudie aus dem Jahr 2019 untersuchte Machbarkeit, Akzeptanz und vorläufige Wirksamkeit einer
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Nachsorge-App für stationäre Patientinnen mit einer schweren Anorexia nervosa (36). Insgesamt 40 Patienten nahmen an der Studie teil, wobei Teilnehmende der Interventionsgruppe zusätzlich zur Regelversorgung über 8 Wochen Zugang zu einer durch Therapeuten angeleiteten Nachsorgeintervention erhielten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Intervention sehr gut akzeptiert wurde und eine hohe Adhärenz vorlag. Hinsichtlich der Essstörungssymptomatik und des BMI konnten kleine bis mittlere Effekte zugunsten der Interventionsgruppe gezeigt werden, die allerdings nicht signifikant waren. Die bislang publizierten Studien zu App-basierten Nachsorgeinterventionen unterscheiden sich stark hinsichtlich der untersuchten Stichprobe, der Inhalte, der Nutzungsdauer, der Interventionsfrequenz, des Schweregrads der Erkrankung von Patienten, der verwendeten Messinstrumente und der Art des vorherrschenden Gesundheitssystems. Weiterhin sind Dosis-WirksamkeitsRelationen von App-basierten Nachsorgeinterventionen kaum untersucht worden. Dies wird längerfristig nötig sein, um besser zu verstehen, welche therapeutischen Inhalte App-basierter Interventionen mit welcher Intensität dargeboten werden müssen, um deren Wirksamkeit zu steigern (35). Im Zusammenhang mit den noch unzureichenden Wirksamkeitsbelegen App-basierter Nachsorgeinterventionen werden neuen technischen Entwicklungen wie der passiven Datenerhebung über Smartphones und Wearables eine wichtige Rolle zukommen. Sie eröffnen neue Interventionsmöglichkeiten und liefern zusätzliche Informationen, die Rückschlüsse auf mögliche Risikofaktoren im Alltag und psychologische Wirkfaktoren der vermittelten Interventionen geben können (27).
Neue technische Entwicklungen im Bereich App-basierter Interventionen Passive Datenerhebung App-basierte Interventionen können Daten nicht nur aktiv durch integrierte Fragebögen, sondern auch passiv erheben, da Smartphones automatisch eine Vielzahl von Daten produzieren. Passive Daten sind beispielsweise Nutzungsfrequenzen, Belichtungswerte, Bewegungsdaten oder Daten zur geografischen Lokalisation (GPS). Aber auch Aufnahmen der Tonalität oder Videoaufnahmen sind möglich (37). Passive Daten ermöglichen einen Wissenszuwachs in Bezug auf aufrechterhaltende Faktoren psychischer Störungen und eine objektivere Datenerhebung als Selbstauskunftsinstrumente (37). Das sogenannte Digital Phenotyping hat dabei das Ziel, Korrelate psychischer Störungen im Alltag genauer zu quantifizieren und zu beschreiben (38, 39). Verschiedene Studien konnten zeigen, dass es möglich ist, anhand passiver Daten Veränderungen der Stimmung bei depressiven und Angststörungen vorherzusagen (37). So wurde mithilfe von GPS-Daten beispielsweise der Zusammenhang zwischen einer reduzierten Mobilität und einem Anstieg von Angst- und Depressionssymptomen während der SARS-CoV-2-Pandemie nachgewiesen (40). Weiter konnten mit passiven Daten Korrelate von digitalen Markern zum sozialen Funktionsniveau und zu Gefühlen von Einsamkeit gezeigt werden (41, 42).
Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig, um das Potenzial und die Risiken der Verwendung passiver Daten zu beurteilen. Aktuelle Reviewartikel legen nahe, dass Studien bislang nur einen Bruchteil des möglichen Potenzials passiver Daten und des Digital Phenotyping nutzen (27, 31). Ein zukünftiger Fortschritt im Bereich Machine-Learning und intelligenter Algorithmen wird zu einer Verbesserung sogenannter Just-in-Time-Adaptive-Interventionen beitragen, mit denen es immer präziser möglich sein wird, unmittelbar, das richtige Mass an Unterstützung anzubieten (34, 43, 44). So könnte beispielsweise mittels digitaler Marker bei einer depressiven Stimmung oder einem erhöhten Psychoserisiko eine entsprechende personalisierte Intervention angeboten werden (34). Um App-basierte Interventionen noch ansprechender zu gestalten, sind sogenannte Chatbots eine spannende Möglichkeit, um eine interaktivere und menschenähnlichere Form von Intervention anzubieten (45).
Chatbots Chatbots, auch Conversational Agents genannt, sind automatisierte Programme, die eine Interaktion oder Konversation mit Nutzern führen können. Sie stellen eine vollautomatisierte Interventionsform dar, die mit Nutzern über gesprochene, geschriebene und visuelle Sprachen kommunizieren und interagieren kann (45, 46). In Bezug auf die Förderung psychischer Befindlichkeit sind Chatbots fast ausschliesslich schriftbasiert und beruhen auf geschriebenen Skripten, die von therapeutischen Fachpersonen erstellt wurden. So können Chatbots im Alltag der Nutzenden mit ihnen kommunizieren, ohne dass ein Therapeut direkt involviert sein muss (47, 48). Auf diese Weise können kürzere psychotherapeutische Interventionen angeboten werden, die keine komplexeren therapeutischen Fähigkeiten erfordern (49, 50). Beispiele dafür können Psychoedukationsgespräche, Zielsetzungsgespräche, Anleitungen zur Verhaltensaktivierung oder Entspannung sein, die nicht zwangsweise Therapeutenkontakt benötigen. Chatbots werden von Nutzenden meist als ansprechend wahrgenommen, da sie einer echten menschlichen Interaktion ähnlich sind (49, 51), was sich positiv auf die Adhärenz von Interventionen auswirkt. Im normalen Face-to-Face-Setting ist die therapeutische Beziehung einer der wichtigsten Prädiktoren für die Behandlungswirksamkeit. Hierzu zeigt sich, dass Patienten mit digitalen Interventionen ebenfalls eine vergleichbare therapeutische Allianz erleben können (52). Die aktuelle Technologie von Chatbots im psychologisch-psychotherapeutischen Kontext kann als explorativ beschrieben werden, da fast ausschliesslich Pilotstudien vorliegen, welche die Akzeptanz und die Machbarkeit von Chatbots untersucht haben (27, 45). Bisherige Chatbot-Interventionen untersuchten meist die Reduktion von Symptomen von Depressionen, Angststörungen oder die Verbesserung sozialer Fähigkeiten bei Autismus (46). So ergaben die Resultate zweier Studien aus den USA, dass ein auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Inhalten basierender Chatbot bei Studierenden Angst- und Depressionssymptome im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikant reduzieren konnte (49, 53).
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Die Wirksamkeit von Chatbots in klinischen Populationen wurde bisher nur vereinzelt untersucht und die Effektivität in der Nachsorge bislang noch nicht geprüft. Auch randomisierte, klinische Kontrollstudien, die Langzeitdaten beinhalten, fehlen bislang (54).
Diskussion
Die bisherige Literatur zeigt die Komplexität und die
vielen Faktoren auf, die auf die hohen Rehospitalisie-
rungsraten nach stationären Aufenthalten in psychiatri-
schen Kliniken einen Einfluss haben. Aufgrund des
Mangels an Nachsorgeangeboten in der Routineversor-
gung besteht ein grosser Bedarf an Behandlungsange-
boten, die den Übergang von Patienten vom stationären
in das ambulante Setting unterstützen können. Erste
Studienergebnisse zeigen, dass App-basierte Interven-
tionen erfolgreich bei verschiedenen Störungsbildern
zur Nachsorge eingesetzt werden können. Die Ergeb-
nisse sind allerdings heterogen, und ein Einfluss auf die
Rehospitalisierungsrate konnte bisher nicht nachgewie-
sen werden (28, 34). Weitere gross angelegte, klinische,
randomisierte Studien sind nötig, um besser zu verste-
hen, inwiefern und bei welchen Störungsbildern
App-basierte Interventionen in der Nachsorge am wirk-
samsten eingesetzt werden können.
Zudem bleibt abzuwarten, wie neue technische Ent-
wicklungen im Rahmen der passiven Datenerhebung
und der Chatbot-Technologie zur erhöhten Wirksamkeit
von Interventionen beitragen können. Es ist zu erwar-
ten, dass mithilfe neuer technischer Entwicklungen
Patienten eine stärker individualisierte und nutzer-
freundlichere Form von Nachsorge angeboten werden
kann (37). Somit gilt es zu untersuchen, welche Art von
Unterstützung von Betroffenen in welcher Situation als
hilfreich empfunden wird. Des Weiteren ist ein hoher
Datenschutzstandard unabdingbar, um die Sicherheit
sensibler Daten zu gewährleisten.
Besonders wirksam könnten sich künftig Interventionen
herausstellen, die auf psychologische Prozesse wie zum
Beispiel Selbstwirksamkeitserwartung und Coping-Stra-
tegien fokussieren. Auch eine Peer-Unterstützung
könnte mittels integrierter Chatfunktionen und Foren
über digitale Interventionen angeboten werden. Je-
doch werden digitale Nachsorgeinterventionen auf
Faktoren wie Arbeitssituation, Armut, soziale Einbin-
dung oder die Wohnsituation keinen Einfluss haben.
Die Entwicklung digitaler Interventionen zur Verbesse-
rung der Nachsorge muss die Merkmale des jeweiligen
Gesundheitssystems und des kulturellen Hintergrunds
berücksichtigen, um Versorgungslücken möglichst voll-
ständig gerecht zu werden (14, 55). Somit kommen der
Einbettung der digitalen Interventionen in die institutio-
nellen Bedingungen und der frühzeitigen Einführung in
die Nachbehandlung eine wichtige Rolle zu (17).
Es liegt somit nahe, bei der Entwicklung zukünftiger
digitaler Nachsorgeinterventionen Betroffene sowie Be-
handlungspersonen aus dem stationären und ambu-
lanten Setting in den Entwicklungsprozess einzubezie-
hen. Nur so kann Betroffenen ein umfangreicheres
Nachsorgeangebot gemacht werden und Versorgungs-
lücken effektiv entgegengewirkt werden.
l
Korrespondenzadresse: Philipp Pompetzki, M.Sc. Psychologe Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm-Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: philipp.pompetzki@upk.ch
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Merkpunkte:
● Die Zeit unmittelbar nach einem stationären psychiatrischen Aufenthalt ist eine besonders vulnerable Phase, wobei im ersten Monat nach der Entlassung die Wahrscheinlichkeit für eine Rehospitalisierung am höchsten ist.
● Die Anzahl bisheriger Hospitalisierungen sowie Arbeitslosigkeit sind derzeit die am besten erforschten Prädiktoren für eine erneute Hospitalisierung in eine psychiatrische Klinik.
● Aus Patientensicht helfen vor allem eine gute Austrittsplanung, die Tagesstrukturierung, soziale Unterstützung und Psychoedukation sowohl während als auch nach dem stationären Aufenthalt, um erneute Hospitalisierungen zu vermeiden.
● App-basierte Interventionen für die psychiatrische Nachsorge bieten Vorteile hinsichtlich ihrer orts- und zeitunabhängigen Anwendung und ermöglichen einen hohen Grad an Personalisierung, Standardisierung und Interaktivität.
● Hinsichtlich der Aufrechterhaltung von Therapieerfolgen bei depressiven Störungen liegen erste Wirksamkeitsbelege von App-basierten Nachsorgeinterventionen vor, ein Effekt auf Rehospitalisierungsraten konnte allerdings noch nicht gezeigt werden.
● Technische Entwicklungen im Bereich der passiven Datenerhebung, der Chatbot-Technologie und intelligenter Algorithmen werden es in Zukunft ermöglichen, Patienten im Rahmen App-basierter Interventionen eine noch individualisiertere und nutzerfreundlichere Form von Nachsorge anzubieten.
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