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Titel
Infektiologie und Impfungen – Lernen für die nächste Pandemie
Untertitel
Interview mit Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Leitender Arzt und Stv. Chefarzt Pädiatrie Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
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Rückblick 2021/Ausblick 2022
Artikel-ID
58881
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RÜCKBLICK 2021/AUSBLICK 2022

Infektiologie und Impfungen
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger Leitender Arzt und Stv. Chefarzt Pädiatrie Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Lernen für die nächste Pandemie
Im Lauf der Coronapandemie haben sich viele Dinge verändert. Wie sieht die neue Normalität für Sie persönlich aus?
Anders als vorher, definitiv. Beruflich bedeutet das weniger Reisen und somit eine signifikante Zeitersparnis (gut so), dadurch aber weniger geschützte Zeit, die man auf Reisen sinnvoll nutzen kann. Auch kommen persönliche Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen zu kurz, und es gibt weniger Gelegenheiten, sich am Rande von Kongressen oder Sitzungen informell austauschen zu können. Diese Austausche dienen meiner Erfahrung nach dazu, kreative Lösungen zu finden, neue Ideen zu kreieren oder auch einmal unkonventionelle Ansätze ungezwungen diskutieren zu können. Chatrooms in Onlinemeetings können weder den informellen Austausch noch die sozialen Interaktionen wirklich ersetzen. Leider. Zwar kann man in Onlinemeetings zwanglos an bestehende Kontakte anknüpfen, aber neue aufzubauen ist ungleich schwieriger, wenn man sich nicht persönlich gegenübersitzt. Die zunächst willkommenen Folgen des Lockdowns vom letz-

ten Jahr mit dem konsekutiven Ausbleiben der respiratorischen Infektionskrankheiten im letzten Winter haben seit dem Frühsommer eine 180-Grad-Kehrtwende erfahren. Sie schlagen jetzt gnadenlos zurück und bringen uns in den Spitälern für Kinder und Jugendliche schon seit dem frühen Sommer und weiterhin (Stand Anfang Dezember 2021) permanent an den Rand der Kapazitäten und teils darüber hinaus. Ohne Pause zum Verschnaufen. Es bleibt die Hoffnung, dass sich diese Situation im Laufe der nächsten Wochen und Monate wieder normalisiert und nicht Bestandteil der neuen Normalität wird. Meine seit 20 Jahren bestehende ehrenamtliche Tätigkeit in der deutschen Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut in Berlin hat seit Beginn der gegenwärtigen Pandemie einen radikalen Wandel erfahren. Während wir in Normalzeiten 3-mal pro Jahr tagten (mit Arbeitsgruppentreffen dazwischen), haben wir seit gut einem Jahr praktisch wöchentlich einen mehrstündigen Onlineaustausch. Hinzu kommen tägliches COVID-19-Literaturstudium ausschliesslich zum Thema Impfen (für die meisten anderen Aspekte von COVID-19 bleibt kaum Zeit) und tagesaktuelle E-Mail-Korrespondenz zu COVID-19. Unsere ersten COVID-19-Impfempfehlungen haben wir im Dezember 2020 publiziert und mittlerweile bereits 14-mal aktualisiert (Stand Ende November 2021). Seit vielen Monaten erreichen uns deswegen fast täglich Anfragen von Medien für Interviews. Ich muss sorgfältig auswählen, weil ich nur einen Bruchteil davon bedienen kann. Das Interesse am Impfen und die Wertschätzung für dieses Thema sind in der Mehrheit der Bevölkerung ausserordentlich gewachsen und gegenwärtig in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Es ist wohl ähnlich stark aus-

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geprägt, wie es zuletzt Anfang der 1960er-Jahre bei der Einführung der Poliomyelitisimpfung war. Während das öffentliche Interesse für das Impfen vor der Pandemie im Allgemeinen und im Besonderen eher gering war (und fast niemand die EKIF oder die STIKO kannte), sind wir Ärztinnen und Ärzte jetzt von Millionen von «Expertinnen und Experten» umgeben, die vieles besser wissen und entsprechend lautstark auftreten. Das wird wohl auch als Bestandteil der neuen Normalität bis auf Weiteres so bleiben. Ich persönlich bin mir bewusst, dass ich das, was ich als Infektiologe und Vakzinologe in den letzten drei Jahrzehnten gelernt habe, jetzt nutzbringend für das Wohl unserer Bevölkerung einsetzen kann. Nicht zuletzt auch tagtäglich im Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), sowohl am Patientenbett als auch strategisch in unseren internen Gremien.
In welchen Bereichen ist alles bereits wieder so wie früher oder wird es in absehbarer Zukunft wieder sein? Welche Veränderungen werden vermutlich langfristig bestehen bleiben?
Weniges ist meiner Auffassung nach bereits wieder so wie früher. Vielleicht die Tatsache, dass das Leben nicht nur aus COVID-19 besteht und viele andere interessante Aspekte und Facetten bietet. Jeder muss für sich selbst entdecken und entscheiden, wie er sein Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen sinnvoll gestalten kann. Für mich persönlich hat neben dem Beruf meine Familie sehr hohe Priorität, ebenso Freunde und Zeit für mich selbst mit Natur, Bewegung, Sport und Lesen (expressis verbis auch nicht fachliche Literatur). Deshalb pausiere ich bewusst und konsequent an einem Tag der Woche zur Erholung, in der Regel am Sonntag. Und regelmässige Ferien müssen und dürfen auch weiterhin sein. Was wird in absehbarer Zukunft wieder sein wie früher? Hoffentlich die Erkenntnis, dass die Pandemie ein Ende nehmen wird, die nächste dann möglichst lang auf sich warten lässt und wir Zeit haben, aus der jetzigen zu lernen und Anpassungen vorzunehmen. Dass eine nächste Pandemie kommen wird, ist hingegen leider so sicher wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. SARS-CoV-2 wird hoffentlich im Laufe der Zeit ein gewöhnliches Virus werden, wie so viele andere lästige Viren es auch sind, und nicht mehr das Tagesgeschehen dominieren. Was wohl langfristig bleiben wird, ist die Angst, dass jemand, der sichtlich erkrankt ist, eine Bedrohung für seine Umgebung darstellen könnte. Hier befürchte ich Stigmatisierungen, denen wir uns stellen müssen. Beruflich erhoffe ich mir, dass sich ein oder zwei wesentliche Konferenzen pro Jahr herauskristallisieren werden, für die es sich wieder lohnen wird, eine Reise anzutreten.
Hat die Pandemie aus Ihrer Sicht auch etwas Positives bewirkt?
Ja, einiges. Die Erkenntnis, dass es sich lohnt, in Wissenschaft zu investieren und Forschung zu unterstützen, denn sonst hätten wir nicht so schnell effiziente mRNA-Impfstoffe gegen COVID-19 bekommen. Das muss den Politikern klar sein.

Ferner die Tatsache, dass Impfen etwas sehr Wertvolles ist und dass der Umgang mit Impfskeptikern und Impfgegnern gelernt werden muss. Impfkritik gibt es zwar schon, seit es Impfstoffe gibt, nur hat das vor COVID-19 weniger Personen betroffen und interessiert, insbesondere die Eltern junger Kinder. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie sehr das Wissen zu Impfprävention, zu biologischen Abläufen in menschlichen Zellen (DNA, mRNA, Ribosomen usw.) und die Gesundheitskompetenz im Allgemeinen in unserer Bevölkerung optimierungsbedürftig sind. Mich beschäftigt das schon länger, und ich möchte an dieser Stelle beispielhaft auf zwei Fachartikel hinweisen, die frei verfügbar sind (s. unten). Last, but not least haben wir gelernt, dass man nicht notwendigerweise eine Geschäftsreise um die halbe Welt machen muss, um sich für ein oder zwei Tage in einer Sitzung auszutauschen, die man gut oder sogar besser und effizient online halten kann.

Hat sich die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte im Gesundheitswesen während der Pandemie verändert?
Ja, sie sind für unsere medizinische Grundversorgung wich-
tiger denn je. Das schliesst insbesondere auch Pädiater ein.

Abgesehen von COVID-19: Welche neuen Erkenntnisse fanden Sie im vergangenen Jahr interessant?
Dass leider Millionen von Kindern auf der ganzen Welt ge-
boren und weniger vollständig geimpft wurden als die frühe-
ren Geburtskohorten, weil die Versorgungsketten zusammen-
brachen und viele Eltern Angst vor Kontakt mit dem
Gesundheitswesen hatten. Das Gleiche gilt für andere lebens-
notwendige Dinge, bei denen die Versorgung nicht permanent
sichergestellt ist. Dies alles hat zwar nur indirekt mit
COVID-19 zu tun, ist aber dennoch eine neue Erkenntnis, die
zeigt, wie vulnerabel vieles ist, was wir gern als selbstverständ-
lich ansehen.

Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich für das

Jahr 2022 in Ihrem Fachgebiet?
Die Kontrolle über die Pandemie und deren Abklingen. Und

ich erhoffe mir konstruktive Ansätze, wie all den negativen

Kollateralschäden der Pandemie für die Gesundheit, für das

allgemeine körperliche und seelische Wohlbefinden sowie für

die Ausbildung unserer Kinder und Jugendlichen wirksam

begegnet werden kann.

s

Literaturtipps: Erb ML et al.: Do fathers care about their own immunisation status? The Child-Parent-Immunisation Survey and a review of the literature. Swiss Med Wkly. 2020;150:w20289. https://www.rosenfluh.ch/qr/fathers

Erb ML et al.: Child-parent immunization survey: How well are national immunization recommendations accepted by the target groups?. Vaccine X. 2019;1:100013. https://www.rosenfluh.ch/qr/vaccine

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