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Diabetes
Prävention ist machbar, aber schwierig
BERICHT
Diabetes ist eine Zivilisationskrankheit, von der weltweit rund 425 Millionen Menschen, also etwa 5,6 Prozent der globalen Bevölkerung, betroffen sind – Tendenz steigend. Der Prävention dieser Erkrankung kommt angesichts dieser Zahlen eine wachsende Bedeutung zu. Im Rahmen des Update Refresher Allgemeine Innere Medizin des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF) erläuterte Prof. Dr. Roger Lehmann, Leitender Arzt der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich, geeignete Massnahmen und Medikamente, mit denen der Entwicklung einer Zuckerkrankheit vorgebeugt werden kann.
In der Schweiz leben aktuell etwas mehr als 500 000 (6,4% der Bevölkerung) Personen mit Diabetes und etwa 1 Million Menschen mit Adipositas. Bei Betrachtung des Auftretens von Typ-2-Diabetes und Adipositas wird deutlich, dass zwischen beidem eine Assoziation besteht: 3 von 10 übergewichtigen oder adipösen Personen entwickeln einen Diabetes, und 9 von 10 Diabetespatienten haben Übergewicht oder Adipositas. Die Adipositas verstärkt dabei zwei der Diabeteserkrankung zugrunde liegende Kerndefekte, nämlich die Insulinresistenz und die Betazelldekompensation. Das heisse, bei jedem Menschen, der adipös sei, bestehe per se gleichzeitig eine Insulinresistenz, erklärte Prof. Lehmann, «allerdings bekommt er keinen Diabetes, solange die Betazellen kompensieren können, daher sind letztlich nur 3 von 10 betroffen.» Aber auch bei einer bereits bestehenden Diabeteserkrankung kommt es zu Wechselwirkungen mit Adipositas: Bei Diabetespatienten befördern adipositasbedingte Schlafstörungen und verminderte Aktivität zusätzlich die Erkran-
KURZ & BÜNDIG
� Körperliche Aktivität und Gewichtsverlust sind unabhängige Faktoren für die Diabetesprävention. Körperliche Aktivität wirkt wie ein lang wirksames Insulin, also etwa 1 Tag lang. Tägliche körperliche Aktivität ist daher erforderlich. Wichtigster vorbeugender Faktor ist allerdings die Gewichtsabnahme.
� Einer gesunden energiedichtereduzierten (mediterranen) Ernährung (natürliche, möglichst unprozessierte Lebensmittel, wenig Kohlenhydrate) kommt eine Schlüsselrolle bei der Diabetesprävention zu.
� Lebensstilmassnahmen zur Gewichtsreduktion können durch den präventiven Einsatz von Medikamenten (z. B. Metformin, Acarbose, Orlistat, GLP-1-RezeptorAgonisten, SGLT2-Hemmer) sinnvoll und effektiv ergänzt und unterstützt werden.
kung. Umgekehrt sind Medikamente, die mit einer Gewichtszunahme einhergehen (z. B. Sulfonylharnstoffe), Unterzuckerungen, vermehrte Nahrungsaufnahme oder auch Diabeteskomplikationen wie verminderte Bewegung verantwortlich für ein häufigeres Auftreten von Adipositas. Ein niedrigerer Bildungsstand und ein geringeres Einkommen gelten nicht nur als Risikofaktoren für eine Diabeteserkrankung, sondern korrelieren genauso wie ungesunde Ernährung und verminderte Aktivität auch mit Adipositas. Zunehmendes Alter sowie Bewegungsmangel und Adipositas fördern die Insulinresistenz. Vom Vorliegen einer genetischen Tendenz für eine abnorme Inselfunktion hänge es dann ab, ob sich ein Diabetes entwickle, so der Referent, wobei es dann zunächst zu einer gestörten Glukosetoleranz komme, von der man bei HbA1c-Werten spreche, die unter 6,5, aber über 5,6 bis 6,4 Prozent lägen. Diese kann sich in erhöhten Nüchternglukosewerten (5,7–6,9 mM) oder erhöhten 2-h-Glukose-Werten (7,8–11 mM) äussern.
Insulinsensitivität als Zielparameter
Zwischen Insulinbedarf und Insulinempfindlichkeit besteht ein Zusammenhang, der sich zum Teil durch bestimmte Lebensstilmassnahmen beeinflussen und somit zur Prävention von Diabetes nutzen lässt. Bei einer hohen Insulinempfindlichkeit wird relativ wenig Insulin zur Blutzuckerkontrolle benötigt (Insulinproduktion im Normalbereich). Liegt dagegen eine Insulinresistenz vor, ist dafür sehr viel mehr Insulin notwendig. «Mit zunehmendem Alter und wachsender Diabetesdauer sinkt die körpereigene Insulinproduktion, das heisst, fast alle Patienten brauchen dann irgendwann fremdes Insulin», so Lehmann. Auf der anderen Seite kann aber durch Gewichtsreduktion und zunehmende körperliche Aktivität die Insulinempfindlichkeit erhöht werden, wodurch sich dem Entstehen eines Diabetes entgegenwirken lässt. Die in Skelettmuskel-, Fett- und Herzmuskelzellen vorkommenden Glukosetransporter (GLUT-4) werden normalerweise bei Bindung von Insulin an die Zellmembran aktiviert und nehmen dann an der Zelloberfläche Glukose auf. Unter bestimmten Umständen kann die Aktivierung
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von GLUT-4 aber auch insulinunabhängig und AMP-Kinase-vermittelt erfolgen. Körperliche Aktivität stimuliert nun genau diese insulinunabhängige GLUT-4-Aktivierung, und zwar auch bei bestehender Diabeteserkrankung, sodass auf diese Weise ohne Zugabe von Insulin Glukose aus dem Blut in die Zellen aufgenommen werden kann. «Körperliche Aktivität wirkt gewissermassen wie ein lang wirksames Insulin, nämlich ungefähr für 24 Stunden. Das bedeutet, dass man jeden Tag körperlich aktiv sein muss», machte der Experte deutlich. Wie bereits die finnische Diabetespräventionsstudie gezeigt hat, lässt sich durch Gewichtsreduktion (5%), fettreduzierte (insgesamt < 30%, gesättigte Fette < 10% der aufgenommenen Kalorienmenge) und faserreiche (> 15 g/1000 kcal) Ernährung sowie körperliche Aktivität (> 30 min/Tag) das Diabetesrisiko um etwa 58 Prozent reduzieren. Zum gleichen Ergebnis kam auch die US-amerikanische Diabetespräventionsstudie, in der zusätzlich eine durch Metformin induzierte Gewichtsabnahme untersucht wurde, welche allein zu einer Reduktion des Diabetesrisikos um 31 Prozent führte. In der XENDOS-Studie wurde gezeigt, dass sich das Diabetesrisiko auch durch Gabe des Fettaufnahmehemmers Orlistat senken lässt, und zwar um 37 Prozent. In weiteren Untersuchungen war neben Lifestyle-Massnahmen und Metformin zudem Acarbose effektiv. Auch in diesen Studien hat sich der Gewichtsverlust als wichtigster Faktor zur Prävention erwiesen – je grösser dieser ausfiel, desto deutlicher die Diabetesprävention. «Pro Kilogramm Gewichtsverlust kann das Diabetesrisiko etwa um 13 Prozent gesenkt werden», so Lehmann, «und bei einer Gewichtsreduktion um 20 Prozent ist das Risiko in 95 Prozent der Fälle gleich null.»
Medikamente oder Lebensstilmodifikation?
Nun ist eine entsprechende Änderung des Lebensstils allerdings bekanntlich mühsam, weshalb in der Folge in weiteren Studien nach anderen, wirksameren Medikamenten zur Diabetesprävention Ausschau gehalten wurde. Mit den Glitazonen wie Rosiglitazon und Pioglitazon wurden dann tatsächlich Substanzen identifiziert, mit denen eine deutliche Reduktion des Diabetesrisiko möglich ist. Allerdings kam es darunter zur Aktivierung von genetisch vermittelten Prozessen, die zu einer Veränderung des Fettmetabolismus führen. Dadurch wurde bei Einnahme dieser Medikamente eine unerwünschte Gewichtszunahme beobachtet, die ihren Einsatz zunehmend infrage stellt. Allgemein lässt sich laut Lehmann festhalten: Durch die genannten Medikamente kann der Blutzucker zwar gesenkt werden, allerdings ohne Beeinflussung der Ursache für die hohen Glukosespiegel. Zudem tritt nach Stopp der Medikation sehr schnell wieder die vorherige Situation ein. Bei Lebensstilmodifikationen dagegen wird die geringe Insulinsensitivität als Ursache der schlechten Blutzuckerkontrolle verbessert, und der Effekt hält auch nach Abbruch der Massnahmen noch eine ganze Weile an. Günstiger stellt sich die Situation dagegen zum Teil mit neueren Diabetesmedikamenten dar, zum Beispiel mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA; GLP: glucagonlike peptide) und SGLT2-Hemmern (SGLT2: sodiumglucose linked transporter 2). Bezüglich der präventiven
Wirksamkeit dieser Substanzen lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, zu dem noch keine entsprechenden Präventionsstudien vorliegen, zumindest feststellen, dass es etwa mit den GLP-1-RA zu einem deutlichen Gewichtsverlust, welcher ja mit Diabetesprävention assoziiert ist, kommt. Dieser Effekt ist für verschiedene GLP-1-RA und Dosierungen unterschiedlich stark ausgeprägt. In der STEP-1-Studie konnte unter Semaglutid 2,4 Prozent (in den USA bereits zugelassen) nach 68 Wochen eine Diabetesprävention von 83 Prozent (0,5% vs. 3% unter Plazebo) bei einer deutlichen Gewichtsreduktion (–17 kg vs. –2 kg unter Plazebo) beobachtet werden. In der STEP-4-Studie betrug die Gewichtsabnahme nach 20 Wochen Therapie bereits 11 kg. Wurde zu diesem Zeitpunkt auf Plazebo gewechselt, wurde jedoch wieder Gewicht zugelegt, und die Reduktion betrug nach 68 Wochen nur noch 6 kg. «Das heisst also, dass sehr wahrscheinlich eine kontinuierliche Einnahme dieses Medikaments notwendig ist», erklärte der Referent. Eine Gewichtsreduktion um etwa 10 bis 15 kg wäre erforderlich, um praktisch alle wichtigen Adipositaskomplikationen substanziell verbessern zu können. Mit Semaglutid in dieser hohen Dosierung (bislang ist in der Schweiz nur die 1-mg-Dosis zugelassen [Ozempic®]) liesse sich ein Gewichtsverlust in dieser Grössenordnung erreichen. Am amerikanischen Diabeteskongress wurde kürzlich gezeigt, dass Semaglutid auch die Entwicklung von Leberverfettung und nicht alkoholischer Steatohepatitis (NASH), einem deutlich unterdiagnostizierten Problem bei Diabetes, hemmt. Neuerdings werden überdies Kombinationstherapien mit Semaglutid untersucht, wobei sich etwa bei zusätzlicher Gabe von Cagrilintid, einem lang wirksamen Amylinanalogon, gemäss ersten Ergebnissen die Gewichtsabnahme gegenüber Semaglutid allein nochmals deutlich deutlich steigern lässt, und zwar in den Bereich von 30 Prozent – also auf Werte, wie sie ansonsten nur durch bariatrisch-chirurgische Massnahmen, welche allerdings nur für wenige Patienten infrage kommen, zu erreichen sind. Auch der in Entwicklung befindliche GIP/GLP-1-RA Tirzepatid (GIP: glukoseabhängiges insulinotropes Peptid) konnte hier ähnlich Erfolg versprechende Ergebnisse erzielen. In der SELECT-Studie wird derzeit untersucht, welche Effekte Semaglutid auf das kardiovaskuläre Risiko bei übergewichtigen/adipösen Patienten ausübt, die noch keinen Diabetes entwickelt haben. Auch unter dem SGLT2-Hemmer Dapagliflozin kam es in der DAPA-HF-Studie zu einer deutlichen Senkung (–32%) des Diabetesrisikos in der Gruppe der zuvor noch nicht diabeteserkrankten Patienten. SGLT2-Hemmer senken zudem ebenfalls das Körpergewicht (etwa um 3–4 kg). Insgesamt lasse sich sagen, dass GLP-1-RA und SGLT2-Hemmer viele pathophysiologische Defekte beim Typ-2-Diabetes abdeckten, so der Diabetologe: Neben dem Blutzucker würden ebenso der Blutdruck und das Gewicht gesenkt, wodurch diese neueren Diabetesmedikamente mithin auch zur Prävention taugten.
Gesunde Ernährung ist essenziell
Ziel aller Massnahmen zur Gewichtsreduktion ist eine negative Energiebilanz. Diese könne auf unterschiedliche Weise erreicht werden, so Lehmann: zum einen durch Erhöhung der körperlichen Aktivität und der Muskelmasse,
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zum anderen durch eine verminderte Kalorien- bzw. Fettzufuhr oder auch durch Lebensmittel mit geringerer Energiedichte. Je mehr der Magen gedehnt wird, desto geringer ist die Sekretion des hungerauslösenden Hormons Ghrelin. Deshalb ist Nahrung mit niedriger Energiedichte (Salat, Gemüse, Früchte, Proteine, wenig Fett = mediterrane Ernährung) zur Gewichtsreduktion geeignet. Zudem spiele, so Lehmann, auch die Reihenfolge, in der die Lebensmittel gegessen würden, eine Rolle: «Essen Sie zuerst Salat, Gemüse, Fleisch oder Fisch und erst dann Kohlenhydrate.» Hinsichtlich effektiver Diäten stellte der Referent klar, dass sich in den ersten 6 bis 12 Monaten der Therapie durch eine Reduktion von Kohlenhydraten (KH) die grösste Gewichtsabnahme erzielen lässt. Langfristig ist eher die mediterrane Ernährung überlegen. Durch Intervallfasten (Nahrungsaufnahme nur während 4–6 h täglich) lässt sich zwar kurzfristig (ca. 2–3 Monate) ein leichter Effekt auf Gewicht, Kalorienaufnahme, Insulinsensitivität und oxidativen Stress erzielen, längerfristig (2 Jahre) geht diese Wirkung allerdings wieder verloren. In der DIRECT-Studie, in der mediterrane Ernährung mit Low-fat- und Low-carbDiäten verglichen wurde, konnte, einhergehend mit dem Gewichtsverlust, eine deutliche Diabetesreduktion durch die Ernährungstherapie belegt werden, wobei sich zusätzlich die Pankreasmorphologie (weniger intrapankratisches Fett) verbesserte. Auch in dieser Studie hat sich die Gewichtsreduktion als einziger signifikanter Prädiktor für die Diabetesremission erwiesen. Ein Anstieg von Ghrelin ist dagegen ein Prädiktor für eine erneute Gewichtszunahme. In den letzten 50 Jahren hat sich die anteilige Nahrungszusammensetzung (ca. 50% KH, 35% Fett, 15% Proteine) nicht wesentlich verändert, wobei laut Ernährungsbericht 2012 die durchschnittliche tägliche Kalorienaufnahme mit 2661 kcal etwa um 20 bis 30 Prozent über der empfohlenen Menge von 2010 bis 2245 kcal lag. Verändert hat sich im Laufe der Zeit allerdings der Anteil ultraprozessierter Nahrungsmittel (Burger, Pizza, Cornflakes usw.) auf dem Speiseplan, und zwar von 24 Prozent der konsumierten Kalorien im Jahr 1938 auf zurzeit 55 Prozent. Der Anteil unprozessierter, also frisch eingekaufter und zubereiteter Lebensmittel hat demgegenüber im selben Zeitraum von 42 auf 29 Prozent abgenommen. Gemäss einer Studie wer-
den über eine Ernährung mit überwiegend ultraprozessierter Nahrung deutlich mehr KH (1387 vs. 1106 kcal) und Fette (1102 vs. 872) zugeführt als mit einer mediterranen Diät, während der Proteinanteil etwa gleich hoch (ca. 490) ausfällt. «Das heisst, mit unprozessierter Nahrung werden etwa 500 kcal/Tag weniger Kalorien aufgenommen, da das Sättigungsgefühl länger anhält und somit weniger gegessen wird», erklärte Lehmann. So wird durch ultraprozessiertes Essen die Gewichtszunahme gefördert, während unprozessierte Lebensmittel tendenziell zu Gewichtsverlust führen.
Fazit: Gewichtsreduktion ist der Schlüssel
Bereits eine Gewichtsreduktion um 5 kg führt zu einer
Reduktion des Diabetesrisikos um 60 Prozent. Interventio-
nen zur Gewichtsabnahme wirken sich anhaltend positiv
auf kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Nüchternglukose,
HbA1c, systolischen und diastolischen Blutdruck, LDLCholesterin (LDL: low-density lipoprotein) und Triglyzeride
aus. Bei der Gewichtsreduktion handle es sich also um eine
multifaktorielle Therapie, erklärte Lehmann, und so habe
sich denn auch gezeigt, dass mit einer gewichtsreduzieren-
den mediterranen Ernährung die Mortalität etwa um 19
Prozent gesenkt werden könne.
Aber auch wenn sich bereits ein Diabetes entwickelt hat,
lässt sich der weitere Verlauf durch diverse Massnahmen
beeinflussen. In der dänischen ADDITION-Studie konnte
nachgewiesen werden, dass es durch eine frühe Diagnose
mittels Screeningprogrammen und eine anschliessende so-
fortige multifaktorielle Therapie des Diabetes möglich ist,
die bei Unbehandelten im Vergleich etwa doppelt so hohe
Mortalität nach 7 Jahren auf das Niveau der Allgemeinpo-
pulation zu senken. «Es ist also viel machbar, wenn man früh
reagiert», lautete denn auch das optimistische Fazit des Re-
ferenten.
s
Ralf Behrens
Quelle: «Prävention Diabetes», Vortrag von Prof. Dr. R. Lehmann, Unispital Zürich, FOMF Update Refresher Allgemeine Innere Medizin, 20. August 2021 in Zürich
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