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FORTBILDUNG
Neuropsychologische Demenzdiagnostik
Update und Ausblick mit Fokus auf den Bereich der sozialen Kognition
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Gianina Toller
Kognitive Störungen gehören zu den frühesten Zeichen von neurodegenerativen Erkrankungen, weshalb der Neuropsychologie in der interdisziplinären Demenzdiagnostik eine zentrale Funktion zukommt. Das aus der neuropsychologischen Testuntersuchung resultierende kognitive Ausfallsmuster kann Hinweise auf neuroanatomische Veränderungen und damit verbunden auf die zugrunde liegende neurodegenerative Erkrankung liefern, was einen wichtigen Beitrag zur Diagnosestellung darstellt. Obwohl Störungen der sozialen Kognition im Frühstadium von verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen auftreten, erfassen die in der Schweiz aktuell in der klinischen Routine eingesetzten neuropsychologischen Verfahren diesen Bereich nicht. Im Zentrum dieses Artikels steht die Beschreibung von sozial-kognitiven Symptomen und den damit assoziierten neuronalen Netzwerken bei Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen sowie von potenziellen Instrumenten zur Erfassung in der klinischen Routine. Eingerahmt wird dieser Teil von einem kurzen Einblick in die kognitive Diagnostik in der hausärztlichen Praxis, in die interdisziplinäre Demenzdiagnostik in einer Memory Clinic sowie in die aktuellen Entwicklungen in der Neuropsychologie, einschliesslich der Digitalisierung der neuropsychologischen Demenzdiagnostik.
Michael M. Ehrensperger Andreas U. Monsch Marc Sollberger
von Gianina Toller1, Michael M. Ehrensperger2, Andreas U. Monsch2 und Marc Sollberger2, 3
Einleitung
D ie frühestmögliche Entdeckung von neu auftretenden Hirnleistungsstörungen oder Verhaltensveränderungen ist für die frühzeitige Behandlung von grösster Bedeutung. Voraussetzung hierfür ist, ausgehend von der hausärztlichen Praxis, eine standardisierte, umfassende und schliesslich interdisziplinäre Demenzdiagnostik. Der Verein Swiss Memory Clinics (SMC) hat in Zusammenarbeit mit den ärztlichen Fachgruppen der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie (SGAP), der Geriatrie (SFGG), der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG) und der Schweizerischen Vereinigung der Neuropsychologinnen und Neuropsychologen (SVNP) für diesen diagnostischen Prozess wichtige Empfehlungen formuliert, die den aktuellen Standard einer umfassenden Demenzdiagnostik repräsentieren (1).
1 Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen 2 Memory Clinic, Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER, Basel 3 Neurologische Klinik, Universitätsspital Basel, Basel
Kognitive Diagnostik in der hausärztlichen Praxis / interdisziplinäre Demenzdiagnostik in einer Memory Clinic Eine ganz zentrale Rolle kommt der Erfassung von Personen mit ersten Symptomen in der hausärztlichen Praxis zu. Im Sinn von «case finding» sollte gehandelt werden, wenn (a) der Patient oder (b) ein Angehöriger von veränderten Hirnleistungen oder neuen Problemen im Alltag berichtet oder (c) in der ärztlichen Praxis Veränderungen im Verhalten oder in der Leistungsfähigkeit beobachtet werden. Aufgrund der eingeschränkten zeitlichen Ressourcen für eine Beurteilung von kognitiven Symptomen im hausärztlichen Setting wurde vor wenigen Jahren ein einfaches Tool, BrainCheck (siehe: www.braincheck.ch) (2), entwickelt, das auch Angaben eines Angehörigen einbezieht und innert weniger Minuten die Frage beantwortet, ob beim Patienten eine vertiefte Untersuchung der Hirnleistungen indiziert ist. Bei einer ersten orientierenden Erfassung von Hirnleistungen wird anstelle des Mini-Mental State (MMS) (3), gegebenenfalls ergänzt durch den Uhrentest, aufgrund seiner höheren Sensitivität zur Entdeckung früher kognitiver Veränderungen vermehrt das Montreal Cognitive Assessment (MoCA; www.mocatest.org) (4) eingesetzt, für welches Normen einer deutschsprachigen Schweizer Stichprobe zur Verfügung stehen, die den bedeutsamen Einfluss soziodemografischer Variablen be-
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Abbildung 1: Frontotemporale und subkortikale Regionen des «salience network» (gelb-rot) und des «semantic appraisal network» (cremefarbig). Die rot-gelb gefärbten Hirnregionen stellen die kortikalen und subkortikalen Hirnregionen des «salience network» dar. Die Abbildung zeigt zusätzlich das frontoparietale Netzwerk (blau), das für exekutive Funktionen wie beispielsweise das Arbeitsgedächtnis und die Handlungsplanung zuständig ist. Abkürzungen: AI: anteriore Insel; antTHAL: anteriorer Thalamus; dACC: dorsaler anteriorer Gyrus cinguli; dCN: dorsaler Nucleus caudatus; dmTHAL: dorsomedialer Thalamus; FI: frontoinsulärer Kortex; HT: Hypothalamus; PAG: periaquäduktales Grau; Put: Putamen; SLEA: Amygdala; TP: Temporalpol; VLPFC: ventrolateraler präfrontaler Kortex. (Bild: © Seeley WW)
Abbildung 2: Die kortikalen und subkortikalen Hirnregionen des «semantic appraisal network» sind cremefarbig dargestellt. Die anderen Farben in der Abbildung beziehen sich auf weitere kognitive, sozial-kognitive und motorische Hirnnetzwerke, die jedoch nicht Gegenstand des Artikels sind. (Bild: © Yeo BT)
rücksichtigen (5) (www.mocatest.ch). Zudem wurde der MoCA in der Schweiz auch validiert (6). Da ein solches Tool jedoch noch keine ausreichend differenzierte Auskunft über die Leistungsfähigkeit einer Person geben kann, ist – in Abhängigkeit von der im Raum stehenden Verdachtsdiagnose – im Anschluss eine weitere Abklärung in einer spezialisierten Abtei-
lung, zum Beispiel einer Memory Clinic (www. swissmemoryclinics.ch), empfehlenswert. Hier erfolgt eine interdisziplinäre Demenzdiagnostik mit den eingangs genannten Fachdisziplinen, was für die frühzeitige Diagnostik von neurodegenerativen Krankheiten von entscheidender Bedeutung ist. Bei der umfassenden Untersuchung von Personen mit Verdacht auf Hirnleistungsstörungen kommen den psychometrischen Befunden einer neuropsychologischen Diagnostik eine wichtige Bedeutung zu, weil sie (a) die Beurteilung des Ausmasses der kognitiven Defizite sowie (b) die Darstellung der betroffenen kognitiven Domänen erlauben. Das stellt eine wichtige Basis für differenzialdiagnostische Überlegungen dar, die durch die weiteren medizinischen Untersuchungsmethoden verfeinert werden. Jahn (7) hat dies an anderer Stelle in dieser Zeitschrift ausführlich dargestellt. Bei der neuropsychologischen Diagnostik gilt es, bestimmte kognitive Bereiche zu untersuchen. Derzeit erfolgt dies auf der Basis des 2013 publizierten «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-5) (8), eines internationalen Klassifikationssystems zur Diagnostik psychischer Krankheiten. DSM-5 verlangt die Untersuchung von sechs kognitiven Domänen: Komplexe Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Sprache, visuokonstruktiv-perzeptuelle Fähigkeiten, exekutive Funktionen und soziale Kognition. Auf den letzten Bereich, die soziale Kognition, möchten wir im Folgenden genauer eingehen.
Sozial-kognitive Veränderungen und deren neuroanatomische Grundlagen bei neurodegenerativen Krankheiten Die verschiedenen neurodegenerativ bedingten Syndrome weisen charakteristische klinische Symptome und neuroanatomische Veränderungen auf. Abhängig von der spezifischen neurodegenerativen Erkrankung umfassen die frühesten Symptome Beeinträchtigungen im Gedächtnis, in der Sprache, im Verhalten und/oder in der Motorik. Aufgrund der bahnbrechenden Erkenntnisse von Prof. Seeley, einem Neurologen und Neuropathologen am renommierten Memory and Aging Center der University of California, San Francisco, liegt die Ursache der syndromspezifischen Symptomatik in der sogenannten selektiven Vulnerabilität (9). Das bedeutet, dass bei jeder neurodegenerativen Krankheit, sei es die Alzheimer-Krankheit oder eine frontotemporale lobäre Degeneration (FTLD), im Frühstadium die Integrität eines neuronalen Netzwerks betroffen ist, was mit einem spezifischen Symptommuster einhergeht. Bei gesunden Menschen sind die Hirnstrukturen eines Netzwerks miteinander funktionell verbunden und bilden durch synchrone Aktivierungen oder Deaktivierungen die Grundlage für verschiedene kognitive, sozial-kognitive und motorische Funktionen. So beginnt beispielsweise die Neurodegeneration bei Patienten mit einer Alzheimer-Krankheit im mesialen Temporallappen (entorhinaler Kortex) des «default mode network» (10), was zu den frühen Beeinträchtigungen im episodischen Gedächtnis (Erinnerungen an Ereignisse, die eine zeitliche und/oder räumliche Komponente haben) führt (11). Ein gemeinsames Leitsymptom der FTLD-Syndrome sind Veränderungen im sozialen Verhalten und emotionalen Erleben, wobei das spezifische Muster dieser Ver-
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Tabelle:
Potenzielle Instrumente zur Messung der sozialen Kognition in der Demenzdiagnostik in der Schweiz
Test
Funktion Verfahren
Revised Self-Monitoring Scale (RSMS) (43) Wahrnehmung von emotionalen Angehörigenfragebogen
Signalen während sozialer
Interaktionen
Interpersonal Reactivity Index (IRI) (44)* Empathie
Angehörigenfragebogen
Interpersonal Adjectives Scales (IAS) (45) Persönlichkeitsmerkmale wie
Angehörigenfragebogen
zwischenmenschliche Wärme
Social Norms Questionnaire (SNQ) (46)
soziale Normen und Regeln
neuropsychologischer Test
(Ja/Nein-Fragen)
The Awareness of Social Inference
Emotionserkennung
computerbasierter Test
Test (TASIT) (34)
Verständnis von Sarkasmus
und Lügen
Social Behavior Observer Checklist
Verhaltensauffälligkeiten, die sich Fragebogen für Kliniker
(SBOCL) (47)
während einer kurzen Interaktion
(30–60 Minuten) mit einem
Patienten zeigen
* Publizierte deutsche Version des IRI: Saarbrücker Persönlichkeitsfragebogen (48); publizierte französische Versionen: IRI (49), RSMS (50).
änderungen und der Zeitpunkt des Auftretens im Krankheitsprozess vom FTLD-Syndrom abhängen. Zu den ersten Symptomen und den diagnostischen Kriterien der behavioralen Variante der frontotemporalen Demenz (bvFTD) (12) gehört ein drastischer Empathieverlust, sodass die betroffenen Patienten die Fähigkeit verlieren, sich in die Gefühle anderer Menschen zu versetzen und auf diese adäquat zu reagieren. Weitere Schlüsselsymptome der bvFTD sind Apathie, soziale Enthemmung und stereotype, zwanghafte Verhaltensweisen. Neben der bvFTD kommt es auch bei der semantischen Variante der frontotemporalen Demenz (13) zu Störungen von sozial-kognitiven Prozessen, die teilweise mit der klinischen Symptomatik der bvFTD überlappen (14, 15). Auch Patienten mit der progressiven supranukleären Blickparese (PSP), einer atypischen Parkinson-Erkrankung, die zum Formenkreis der FTLD-Erkrankungen gehört (16), weisen Störungen in der sozial-kognitiven Verarbeitung und im Verhalten auf, einschliesslich Beeinträchtigungen in der Emotionserkennung, in der zwischenmenschlichen Perspektivenübernahme, im Antrieb und in der Impulskontrolle (17, 18). Viele dieser im Rahmen der FTLD-Erkrankungen auftretenden Symptome werden durch funktionelle und strukturelle Veränderungen in zwei Hirnnetzwerken verursacht, die aus frontotemporalen und subkortikalen Hirnregionen bestehen: dem «salience network» (19) und dem «semantic appraisal network» (20, 21). Die Schlüsselstruktur des «salience network» ist die anteriore Insel (Abbildung 1), die zusammen mit dem dorsalen anterioren Gyrus cinguli sowie den subkortikalen Strukturen (Thalamus, Hypothalamus, Amygdala, periaquäduktales Grau) die Funktion hat, unsere Aufmerksamkeit auf saliente, also auffallende Signale in der Umwelt und im Körper zu richten, die für den Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt relevant sind (19, 22). Die
automatische und schnelle Bewertung der Relevanz erfolgt in der anterioren Insel und basiert auf der sukzessiven Integration von sensorischen Informationen aus der Umwelt, interozeptiven Signalen des Körpers, hedonischen Bewertungen sowie emotionalen und motivationalen Informationen (23). Verschiedene Bildgebungsstudien haben gezeigt, dass eine Neurodegeneration im «salience network» zu spezifischen FTLDSymptomen wie beispielsweise Beeinträchtigungen in der Wahrnehmung von Signalen während sozialer Interaktionen führt (24) oder mit einem Verlust von zwischenmenschlicher Wärme einhergeht (25). Das «semantic appraisal network» ist ein zweites Netzwerk, das für sozial-kognitive Prozesse wichtig ist und bei der semantischen Variante der frontotemporalen Demenz und bei vielen Patienten mit einer bvFTD in einer frühen Krankheitsphase betroffen ist (26, 27). Die zentrale Struktur ist der rechte Temporalpol (mediales Segment), wo unser sozial-semantisches Wissen gespeichert ist, einschliesslich des Wissens über Gesichter, Persönlichkeitsmerkmale und Biografien von Menschen (28). Der Temporalpol weist sowohl Verbindungen zu frontalen (orbitofrontaler Kortex, subgenualer Anteil des Gyrus cinguli) als auch zu subkortikalen Arealen (Nucleus accumbens, Nucleus caudatus) auf (21), die in hedonische Evaluationsprozesse involviert sind (Abbildung 2). Die Funktion des «semantic appraisal network» ist weniger gut erforscht als jene des «salience network», weil verschiedene Strukturen unmittelbar neben dem Ventrikelsystem liegen. Das erschwert die Untersuchung der Integrität des Netzwerks mittels funktioneller Kernspintomografie. Man weiss jedoch, dass dieses medial gelegene, frontotemporale Netzwerk für persönliche Bewertungen von sozialen Konzepten zuständig ist. So haben Patienten mit einer Schädigung in diesem Netzwerk Schwierigkeiten, Emotionen in Gesichtern und andere soziale Signale zu erkennen (29). Auch zei-
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gen betroffene Patienten häufig Verhaltensänderungen wie soziale Enthemmung (beispielsweise Unhöflichkeit) oder zwanghafte Verhaltensweisen (14).
Instrumente zur Erfassung von sozialkognitiven Funktionen bei neurodegenerativen Erkrankungen Weil sozial-kognitive Symptome auch im Rahmen von psychiatrischen Erkrankungen einschliesslich depressiver und bipolarer Störungen, Zwangsstörungen oder der Schizophrenie auftreten (30, 31), erhalten Patienten mit einer bvFTD häufig fälschlicherweise eine psychiatrische Diagnose und verbringen oft Jahre in psychiatrischen Einrichtungen, bevor sie richtig diagnostiziert werden. Dieser Umstand zeigt auf, dass es für die Demenzdiagnostik validierte und normierte Verfahren braucht, um sozial-kognitive Symptome als Ausdruck einer FTLD zu erkennen, eine frühe Diagnose zu stellen, entsprechende pharmakologische und nicht-pharmakologische Therapien einzuleiten und die Angehörigen in den Behandlungsprozess einzubeziehen. Wie eingangs dargestellt, existieren für die Erfassung der nach DSM-5 relevanten «klassischen» kognitiven Domänen (Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Gedächtnis, Sprache, Raumverarbeitung) neuropsychologische Tests und Testbatterien, die routinemässig in der Demenzdiagnostik eingesetzt werden. Bislang stehen in der Schweiz aber keine sozial-kognitiven Verfahren zur Verfügung, die in der klinischen Routine verwendet werden können. Die in der Forschung eingesetzten Verfahren eignen sich nicht für die klinische Diagnostik, weil viele davon zu lang dauern und für unseren Sprach- und Kulturraum weder validiert noch normiert sind. Im Gegensatz zu den «klassischen» kognitiven Tests ergeben sich hinsichtlich der Entwicklung von sozial-kognitiven Verfahren und deren Anwendung in der Demenzdiagnostik drei wesentliche Herausforderungen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass Patienten mit einer FTLD häufig ein reduziertes oder fehlendes Störungsbewusstsein aufweisen und sich in Testsituationen unkooperativ verhalten, was eine zuverlässige Erfassung von Symptomen entweder schwierig gestaltet oder verunmöglicht. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass sozial-kognitive Fertigkeiten in der Normalbevölkerung sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und eine grosse interindividuelle Variabilität vorliegt, was die Interpretation von Testwerten erschwert. Widerspiegelt beispielsweise ein Wert ein Defizit im Vergleich zum prämorbiden Niveau, oder handelt es sich dabei um eine lebenslange Schwäche? Bei der Entwicklung der Verfahren müssen zudem kulturspezifische soziale Normen und Regeln berücksichtigt werden. Weil Störungen im «salience network» und «semantic appraisal network» bei Patienten mit einer Form der FTLD viele der typischen sozial-kognitiven Symptome hervorrufen, sollten in der Demenzdiagnostik Verfahren verwendet werden, welche die Funktionen dieser beiden Netzwerke abbilden. Im englischsprachigen Raum wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die einen Zusammenhang zwischen sozial-kognitiven Verfahren (neuropsychologische Tests, Angehörigenfragebogen, Ratings für Kliniker) und funktionellen sowie strukturellen Veränderungen in diesen Netzwerken aufgezeigt haben (32, 33). Im Gegensatz zu den «klassischen» kog-
nitiven Funktionen werden sozial-kognitive Funktionen häufig mittels Angehörigenfragebogen erhoben, weil neuropsychologische Tests aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und fehlender Kooperationsbereitschaft der Patienten häufig bereits in einem frühen Krankheitsstadium nicht eingesetzt werden können. Derzeit laufen in der Schweiz Forschungsprojekte, die Übersetzungen, Anpassungen und Validierungen von Instrumenten beinhalten, die im englischsprachigen Raum entwickelt wurden und das Potenzial haben, künftig auch Eingang in die klinische Demenzdiagnostik in der Schweiz zu finden. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung der deutschsprachigen Version von «The Awareness of Social Inference Test (TASIT)» (34), einem computerbasierten Test zur Emotionserkennung und Perspektivenübernahme. Die deutschsprachige Version, genannt «Basel Version of the Awareness of Social Inference Test (BASIT)» (35, 36), sollte in nächster Zeit bei Patienten mit neurodegenerativen und psychiatrischen Krankheiten validiert werden. Die Tabelle stellt eine Übersicht einzelner Instrumente dar, die mit der funktionellen oder strukturellen Integrität eines oder beider Hirnnetzwerke korrelieren.
Zukunft der neuropsychologischen Demenzdiagnostik: Optimierung, Effizienzsteigerung und Harmonisierung Neben der Validierung und der Normierung von Verfahren zur sozialen Kognition gilt es im Bereich der neuropsychologischen Demenzdiagnostik, weitere Verbesserungen anzustreben. Ein ideales Instrument für die Demenzdiagnostik ist kurz, kann einfach durchgeführt, ausgewertet und interpretiert werden, hat gute psychometrische Eigenschaften und kann sehr frühe Symptome sowohl typischer als auch atypischer neurodegenerativer Erkrankungen messen. Die in der Schweiz am meisten verwendeten neuropsychologischen Kurztests und Testbatterien sind Papier-Bleistift-Verfahren, für deren Durchführung, Auswertung und Interpretation es geschulte Neuropsychologen braucht. Die neuropsychologische Diagnostik befindet sich derzeit in einem Wandel, wobei digitalisierte Instrumente, einschliesslich web-, tablet- und smartphonebasierte Verfahren, zunehmend Beachtung finden. Solche Verfahren erlauben eine effizientere und bessere Diagnostik, weil sie folgende Vorteile haben: weniger personelle Ressourcen und Kosten, Erfassung von Reaktionszeiten, automatische Auswertungen, Anpassung der Testschwierigkeit und weniger prüferbezogene Verzerrungen. Aufgrund der zunehmenden Alterung der Bevölkerung und der in absehbarer Zeit möglichen Zulassung von krankheitsmodifizierenden Medikamenten ist von einer zunehmenden Patientenzahl in der Demenzdiagnostik auszugehen, weshalb es effizientere neuropsychologische Testuntersuchungen braucht. Ein Beispiel für ein in der Schweiz entwickeltes webbasiertes Verfahren ist der CogCheck (www.cogcheck. com). Der ohne Versuchsleiter durchführbare kognitive Test ist sprachunabhängig, dauert weniger als 30 Minuten, beinhaltet eine automatische Auswertung und wurde normiert (37). Das Instrument wurde ursprünglich entwickelt, um das Risiko für postoperative kognitive Beeinträchtigungen abzuschätzen. Zurzeit wird in einem Forschungsprojekt untersucht, ob der CogCheck
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für die Früherkennung von neurodegenerativen Erkran-
kungen geeignet ist. In den USA wurde ein kurzes
tabletbasiertes Verfahren entwickelt und validiert, das
einen kognitiven Teil (brain health assessment) und eine
Fremdbeurteilung (brain health survey) beinhaltet (38).
Das Screeninginstrument wurde für Hausärzte und
andere Mediziner entwickelt, die nicht auf Demenzen
spezialisiert sind. Die in Bezug auf das Verfahren durch-
geführten Studien haben gezeigt, dass dieses Intrument
sowohl für die Früherkennung von häufiger auftreten-
den neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzhei-
mer-Krankheit als auch von weniger typischen FTLD-
Erkrankungen eine höhere Sensitivität und Spezifität
aufweist als der häufig verwendete MoCA (38, 39). Eine
in Kuba durchgeführte Validierungsstudie hat zu den-
selben Ergebnissen geführt (40). Auch in der Schweiz
wird derzeit ein Forschungsprojekt durchgeführt, um
die Validität dieses Screeningverfahrens für die Demenz-
frühdiagnostik zu evaluieren.
Ein weiterer Schritt hinsichtlich Optimierung der De-
menzdiagnostik im Sinne einer einheitlichen Diagnose-
stellung stellt die Harmonisierung von Testbatterien dar,
die in den USA an vielen Forschungszentren bereits er-
folgt ist. In Anlehnung an die USA wurden im Rahmen
einer Arbeitsgruppe die ersten Weichen für eine europa-
weite Harmonisierung gestellt, die eine deutsche Über-
setzung und Adaptation der dritten Version des
amerikanischen Uniform Data Set (UDS) (41) zum Ziel
hat (42).
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Korrespondenzadresse: Dr. phil. Gianina Toller Kantonsspital St. Gallen
Klinik für Neurologie Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen E-Mail: gianina.toller@kssg.ch
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Merkpunkte:
● Die erste Erfassung von neurodegenerativ bedingten kognitiven Störungen mittels neuropsychologischer Screeningverfahren beginnt in der Regel in der hausärztlichen Praxis.
● Eine neuropsychologische Untersuchung ist ein zentraler Teil der interdisziplinären Demenzdiagnostik, die für die Früherkennung und die Differenzialdiagnose von häufigen und seltenen neurodegenerativen Erkrankungen kognitive und sozial-kognitive Funktionen erfassen sollte.
● Patienten mit einer Form der FTLD weisen in einer frühen Krankheitsphase häufig sozial-kognitive Symptome auf, die auf funktionelle und strukturelle Veränderungen im «salience network» und «semantic appraisal network» zurückzuführen sind.
● Für eine bessere, effizientere und einheitlichere Diagnosestellung braucht es validierte und normierte sozial-kognitive Verfahren für die klinische Routine, eine zunehmende Verwendung von digitalisierten Instrumenten sowie internationale Empfehlungen für eine standardisierte neuropsychologische Demenzdiagnostik.
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