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BERICHT
Demenzerkrankungen
Kognitiven Abbau verzögern, psychiatrische Begleitsymptome abmildern
Am Frühjahrskongress 2021 der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), der unter dem Motto «Precision & Uncertainty» stand, machte Prof. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor Universitäre Altersmedizin, Felix-Platter-Spital, Basel, deutlich, dass auch im Zusammenhang mit dem demenziellen Syndrom viele Wahrscheinlichkeiten und wenige Sicherheiten kursieren. Neben Zahlen und Fakten zu Inzidenzen, Ursachen und Therapien ging es ihm dabei um die Botschaft, vor allem an die Hausärzte, im Zusammenhang mit der kognitiven Störung nicht nur die Defizite zu sehen, sondern das, was noch da ist, und insbesondere auch die Angehörigen im Umgang mit dieser Erkrankung zu stützen.
«Die Bezeichnung Demenz gibt es eigentlich gar nicht mehr», räumte der Referent gleich zu Beginn seines Vortrags mit einer begrifflichen Unpräzision auf. Gemäss der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) spreche man eher nur noch von milden oder majoren neurokognitiven Störungen, wobei die majore Störung dem alten Terminus der Demenz und die milde einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (mild cognitive impairment, MCI) entspreche. Zwischen beiden Ausprägungsgraden kann mittels neuropsychologischer Untersuchungen und Messungen nun allerdings sehr präzis unterschieden werden. Der Schwellenwert, bei dessen Unterschreiten eine MajorStörung zu diagnostizieren wäre, liegt bei einer negativen Abweichung der kognitiven Leistungsfähigkeit vom Normalwert um 2 Standardabweichungen. Im Spital jedoch, wo nicht immer die Möglichkeit zur Durchführung solch aufwendiger kognitiver Untersuchungen besteht, ist nach wie vor die Definition gemäss DSM-IV aktuell, wonach es sich bei der Demenz um eine «Hirnleistungsstörung mit Defizit in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten» handle, «die zu einer Alltagsbeeinträchtigung sozialer und beruflicher Funktionen führt und gegenüber einem früheren Leistungsniveau eine deutliche Verschlechterung darstellt».
Inzidenz sinkt, aber absolute Zahlen steigen
Im Jahr 2020 lebten in der Schweiz gemäss Angaben des Bundesamts für Gesundheit (BAG) rund 145 000 Menschen mit Demenz. Die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr belief sich auf 31 000, wobei nur in 6 Prozent der Fälle die Symptome vor Erreichen des 65. Altersjahrs begannen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, und mit zunehmendem Alter, das als ein wichtiger Risikofaktor, nicht aber als Ursache für demenzielle Erkrankungen anzusehen ist, und mithin steigender Prävalenz vergrössert sich diese geschlechtsspezifische Differenz. Vergleicht man diese Daten mit denjenigen
aus dem Jahr 2014, in dem noch 119 000 Demenzkranke erfasst worden waren, ergibt sich eine deutliche Zunahme der absoluten Zahlen entsprechend der Entwicklung zu einer immer älteren Gesellschaft. Wie allerdings bereits die Framingham-Studie anhand von Daten aus den USA ermittelte, ist die demografiebereinigte Inzidenz im Zeitraum von 1978 bis 2006 um fast 50 Prozent zurückgegangen. Auch in Untersuchungen in Europa konnte dieser Trend bestätigt werden. Vor allem bei Männern war ein deutlicher Rückgang der Demenzerkrankungsraten zu verzeichnen. Als potenziellen Grund für diese erfreuliche Entwicklung, die allerdings bei ansteigenden absoluten Fallzahlen eben kaum erkennbar ist, nannte Kressig eine verbesserte Behandlung von vaskulären Risikofaktoren wie Rauchen, Hypercholesterinämie oder Bluthochdruck. Doch auch bei den Demenzformen vom degenerativen Typ wird ein entsprechender Rückgang der Inzidenzzahlen beobachtet.
Was tun bei subjektiv empfundenem kognitiven Abbau?
Zur Abklärung von Patienten, die ihn mit der subjektiven Wahrnehmung einer Abnahme ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit (subjective cognitive decline, SCD) aufsuchen, hat der Arzt früher meist den Mini-Mental-State-Exam-(MMSE-) Score, meist zusammen mit dem Uhrentest, eingesetzt. Die Schweizer Memory Clinics haben kürzlich in Zusammenarbeit mit Hausärzten zu diesem Zweck mit dem sogenannten BrainCheck ein neues, sehr einfach, effizient und schnell anzuwendendes Tool entwickelt. Es ist in der Lage, mit einer Trennschärfe von knapp 90 Prozent zwischen einer nicht abklärungsbedürftigen und einer abklärungsbedürftigen Hirnleistungsstörung zu unterscheiden. Das Tool kann kostenlos im Internet (www.braincheck.ch/de) heruntergeladen werden. Der BrainCheck besteht aus 3 Fragen an den Patienten, einer kurzen formalen kognitiven Testung (Uhrentest) sowie 7 an Angehörige beziehungsweise Betreuer gerichtete
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ARS MEDICI 17 | 2021
BERICHT
Krankheitsstadium
● leichte kognitive Störung ● leichte neurokognitive
Störung
Medikamentöser Therapieansatz
Ginkgo-Spezialextrakt 2-mal 120 mg bzw. 240 mg pro Tag
Leichte Demenz (frühes Stadium)
Cholinesterasehemmer
Klinische Verschlechterung (nach 6 Monaten)
Erhöhung Dosis Cholinesterasehemmer
MMSE < 20 Lebensende + Memantin (20 mg) («Kombinationstherapie»*) * Limitatio; zulässig, aber nicht kostenpflichtig Abbildung: Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung von Hirnleistungsstörungen (nach [1]) Fragen. Er nimmt in der Durchführung insgesamt nur etwa 5 Minuten in Anspruch. Zeigten sich im BrainCheck keine Auffälligkeiten, «dann kann man das mal so stehen lassen», sagte der Referent, und ergebe sich aus den Ergebnissen eine Empfehlung für ein «watchful waiting», dann solle der Test etwa 6 Monate später wiederholt werden. Bei einem pathologischen Resultat dagegen ist eine weitere Abklärung, entweder in der Hausarztpraxis oder aber im Rahmen einer Zuweisung zu einem Spezialisten beziehungsweise an eine Memory Clinic, angeraten. Hierfür gilt als Tool neu der Montreal-CognitiveAssessment-(MOCA-)Test (www.mocatest.ch) als State of the Art. Für den Fall, dass sich auch nach sorgfältiger Abklärung objektiv keine fassbaren Defizite in der Hirnleistung ergeben, riet der Referent dringend, Patienten mit SCD, die zudem über ihren Zustand besorgt sind, dennoch ernst zu nehmen und weiter nachzuverfolgen. Denn wie die Daten der Bonner Demenzkohortenstudie zeigen, wird bei einem Viertel von ihnen nach 6 Jahren tatsächlich doch noch eine Demenzerkrankung diagnostiziert. Eine SCD, vor allem wenn sie den Patienten beunruhigt, muss also als erheblicher Risikofaktor für eine spätere Demenz gelten, und den Betroffenen sollten deshalb sämtliche präventiv möglichen Massnahmen empfohlen werden. Zu den Möglichkeiten einer bewussten und effektiven Vorbeugung zählen laut ersten Resultaten der noch laufenden finnischen Finger-Studie Lebensstilmodifikationen bezüglich Ernährung (sog. «mind diet»: wenig rotes Fleisch, wenig Milchprodukte, viel Gemüse), körperlicher Aktivität und Hirnleistungstraining sowie die rigorose Identifikation und Behandlung von vaskulären Risikofaktoren wie Hypercholesterinämie, Hypertonie oder Diabetes. Zweifelhafte genetische Testungen Immer häufiger kommen auch Menschen mit dem Wunsch nach Abklärung eines potenziellen genetischen Risikos, etwa aufgrund einer entsprechenden familiären Vorbelastung, zum Arzt. Insbesondere die Apolipoprotein-E-(ApoE-)Typisierung (Typen E2 bis E4) ist dabei interessant, denn vor allem bei einer homozygoten Anordnung von ApoE4 besteht ein mittleres bis hohes Risiko für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz, das bei diesen Personen im Alter von 85 Jahren mit 30 bis 55 Prozent beziffert wird. Umgekehrt heisst das aber auch, dass 45 bis 70 von 100 Merkmalsträgern nicht an Demenz erkranken. Die Aussagekraft solcher Testungen ist also doch eher begrenzt, und deshalb, vor allem aber auch wegen der meist unklaren Konsequenzen, die sich aus dem Resultat ergeben, empfiehlt Kressig die Durchführung einer solchen Testung nur, wenn im Voraus klar definiert wird, was mit dem Ergebnis passieren und wie es ins weitere Prozedere einfliessen soll. Da für die Alzheimer-Demenz keine heilende Therapie zur Verfügung steht, können die Ergebnisse von genetischen Testungen allenfalls im Sinne einer rigorosen Kontrolle von beispielsweise vaskulären Risikofaktoren eine motivierende Wirkung haben. Demenzformen: Alzheimer führend Als wichtigste Demenzformen werden nach wie vor unterschieden: s Demenz vom Alzheimer-Typ (55%) s vaskuläre Demenz (15%) s gemischte Ursachen (Multiinfarktdemenz [MID], SDAT [senile dementia of the Alzheimer type]) (12%) s sekundäre symptomatische Ursachen (Depression) (10%) s Parkinson-Krankheit (4%) s andere seltene Formen (4%). Aufgrund der Häufigkeit der Alzheimer-Demenz stand diese Form natürlich im Fokus der Entwicklung möglicher Therapien. Noch immer sei, so der Experte, jedoch unklar, inwieweit die im Hirn der Patienten nachweisbaren pathologischen Proteinablagerungen (β-Amyloid, Tau-Protein) mit einer Demenzentwicklung und Hirnleistungsschwächung 464 ARS MEDICI 17 | 2021 BERICHT korrelierten. Sie treten bis zu 15 bis 20 Jahre vor Beginn der ersten klinisch fassbaren Symptome einer Hirnleistungsstörung auf und lassen sich durch spezifische Biomarkerbestimmungen (Blut, Liquor) und auch bildgebend bereits in vivo nachweisen. Versuche der Forschung (2002–2012: 413 Studien mit 244 Medikamenten), die Krankheit vor Auftreten von Symptomen über die medikamentöse Entfernung von Amyloid therapeutisch anzugehen, wurden sämtlich abgebrochen, da sich keine Stabilisierung oder gar Verbesserung der Hirnleistung erzielen liess (Misserfolgsrate: 99,6%). Als einziges Molekül bezüglich des Amyloidtargets wird laut Kressig derzeit noch Aducanumab diskutiert. Diese ursprünglich in Zürich entwickelte Substanz ist in der Lage, Amyloid aus dem Hirn zu räumen. Nachdem zunächst im Frühjahr 2019 auch hier ein Abbruch der Phase-III-Studie wegen Unwirksamkeit erfolgt war, waren in einer Nachuntersuchung dann doch signifikante therapeutische Effekte nachzuweisen, und im Juni 2021 wurde Aducanumab von der US-amerikanischen Food an Drug Administration (FDA) zur Behandlung der Alzheimer-Demenz zugelassen. Doch ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Abräumen von β-Amyloid und der Hirnleistung sei nach wie vor nicht eindeutig gesichert, unterstrich der Referent, denn der Amyloidgehalt im Gehirn sage nicht verlässlich voraus, wie gut die kognitive Leistung sei: «Es gibt Fälle, in denen ein Hirn voller Amyloid nachgewiesenermassen bestens funktioniert hat.» Ganz anders verhält es sich allerdings beim Tau-Protein: Hier besteht eine strenge Korrelation, weshalb aktuell auch einige Studien mit Medikamenten, die sich gegen das Tau-Protein richten, laufen. Auch diese wurden allerdings zum Teil schon wieder gestoppt, da die initialen Wirksamkeitsoutcomes nicht erreicht werden konnten. Insofern hat sich die Forschungspipeline inzwischen wieder stark erweitert und umfasst auch Nahrungssupplemente (mittellange Triglyzeridketten, sog. ketogene Ernährung), welche die mitochondriale Leistung steigern sollen, was zu Verbesserungen insbesondere bei MCI und bei denjenigen Patienten, die nicht das genetische ApoE4-Risiko tragen, führen kann. auffälligkeiten im Verlauf könne mit ihnen merklich beeinflusst werden, erklärte der Referent. So wirkt sich zum Beispiel der Cholinesterasehemmer Donezepil günstig auf negative psychiatrische Symptome (Antriebslosigkeit, Depression, Apathie) aus, die mit der Demenz einhergehen. Und vor allem die Kombinationstherapie aus Donezepil plus Memantin ist in der Lage, die mittels des ADCS-ADL-Fragebogens (ADCS-ADL: Alzheimer’s Disease Cooperative Study – Activities of Daily Living) erfasste Lebensfähigkeit und Selbstständigkeit der Patienten im Alltag im Sinne einer Verlangsamung der Abnahme der Alltagsfunktionen zu verbessern. Zwar besteht seitens der Krankenkassen für die Kombinationsbehandlung offiziell eine Limitatio, das heisst, es ist lediglich eines der beiden Medikamente abrechnungsfähig. Allerdings sind mit dem Aufkommen generischer Präparate die Kosten deutlich gesunken (ca. 200 Franken/Jahr), sodass sich die Kassen hier häufig kulant zeigen und Ausgaben ohne vorherige Kostengutsprache erstatten. Gemäss den Daten der Pittsburgh Memory Clinic, die an einer grossen Anzahl von Patienten unter verschiedenen symptomatischen Therapieregimen ermittelt wurden, kann der Zeitpunkt des Pflegeheimeintritts durch die Medikation deutlich beeinflusst werden. Ohne Antidementiva kommt es demnach bei 75 Prozent der Patienten bereits nach 5 Jahren zu einer Aufnahme ins Pflegeheim, während unter der Kombinationstherapie noch mehrere Jahre mit unveränderter Unabhängigkeit möglich waren. Die Angehörigen nicht vergessen Zusammenfassend benannte der Referent die 4 Säulen des modernen Managements von Hirnleistungsstörungen, nämlich erstens eine frühe und gute Diagnostik, zweitens phasenangepasste pharmakologische und drittens nicht pharmakologische Interventionen, die ebenfalls sehr wirksam sein können. Als vierte Säule fungiert für Kressig die sehr wichtige Unterstützung der Betreuer und Angehörigen, denn bei allen Ungewissheiten ist er von einer These fest überzeugt: «Geht es den Betreuern gut, geht es auch den Patienten gut.» s Medikamentöse Therapieoptionen Derzeit sind zur symptomatischen Therapie der Alzheimer-Demenz Cholinesterasehemmer, Memantin und der Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761 zugelassen (siehe Abbildung). Für all diese Substanzen wurde in Studien eine relativ niedrige NNT (number needed to treat) zwischen 3 und 10, also eine vergleichsweise gute Wirksamkeit, nachgewiesen. Zwar seien diese Medikamente nun keine Booster der Kognition, aber das Auftreten von demenzassoziierten Verhaltens- Ralf Behrens Quelle: «Demenz: zwischen Wahrscheinlichkeit und Sicherheit in 2021», Vortrag von Prof. Dr. med. Reto W. Kressig, Basel, am Frühjahrkongress 2021 der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), 19. Mai 2021 in Lausanne. Literatur: 1. Kressig RW: Demenz vom Alzheimer-Typ: nicht-medikamentöse und medikamentöse Therapie. Ther Umsch 2015; 72(4): 233–238. ARS MEDICI 17 | 2021 465