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Titel
Impfen im Kindesalter
Untertitel
Möglichst schmerzlos injizieren – ein praktischer Leitfaden
Lead
Wie kann und soll vorgegangen werden, um die bei Kindern notwendigen Impfungen möglichst scho- nend, schmerzarm und mit wenig Belastung für alle Beteiligten durchzuführen? Ein kanadisches Auto- renteam um Anna Taddio hat die zur Verfügung ste- henden Studiendaten ausgewertet und auf deren Grundlage einen Leitfaden für die Praxis entwickelt.
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MEDIZIN — Fortbildung
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5313
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FORTBILDUNG
Impfen im Kindesalter
Möglichst schmerzlos injizieren – ein praktischer Leitfaden

Wie kann und soll vorgegangen werden, um die bei Kindern notwendigen Impfungen möglichst schonend, schmerzarm und mit wenig Belastung für alle Beteiligten durchzuführen? Ein kanadisches Autorenteam um Anna Taddio hat die zur Verfügung stehenden Studiendaten ausgewertet und auf deren Grundlage einen Leitfaden für die Praxis entwickelt.
CANADIAN MEDICAL ASSOCIATION JOURNAL

rücksichtigt wurden alle drei «P»-Bereiche, die auch beim Schmerzmanagement herangezogen werden: pharmakologische, physikalische und psychologische Komponenten. Insgesamt wurden 71 Studien mit 8050 Kindern ausgewertet. Für 14 der 18 Fragen gab es eine ausreichende Evidenz, um eine Praxisempfehlung auszusprechen (siehe Tabelle 1), bei 4 der Fragen reichte die Evidenz dazu nicht aus (siehe Tabelle 2). Viele dieser Empfehlungen lassen sich in der Praxis sofort umsetzen, da sie keiner Planung oder besonderer Anforderungen bedürfen.

Vom Säuglingsalter an werden junge Menschen über viele Jahre hinweg häufig geimpft. Die Impfungen verursachen Schmerz und sorgen regelmässig für «Stress» bei den Kindern selbst, bei ihren Eltern und auch bei den behandelnden Ärzten. Mögliche Folgen sind eine Vakzinophobie oder Trypanophobie (Spritzenangst) und ein zukünftiges Nicht-Einhalten des vorgeschriebenen Impfplans. Man schätzt, dass bis zu 25 Prozent aller Erwachsenen eine Trypanophobie haben, und dass diese bei den meisten von negativen Erfahrungen aus der Kindheit herrührt. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung lassen sich wegen dieser Ängste überhaupt nicht impfen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Verbesserung der Vorgehensweise bei Impfungen dazu führen kann, dass diese stressfrei ablaufen, somit weniger Spritzenängste entstehen und die Impfraten sich verbessern lassen.
Grundlage des Leitfadens Ein interdisziplinäres Expertenteam wurde einberufen, um den Leitfaden zu entwickeln. Auf Grundlage von veröffentlichten Studien, Interviews und Diskussionen mit Fachleuten und Eltern geimpfter Kinder wurden 18 wichtige Fragen zusammengestellt, die der Leitfaden beantworten sollte. Be-
Merksätze
❖ Da in den üblichen Impfregionen keine grösseren Blutgefässe vorliegen, wird Aspirieren hier nicht mehr als notwendig angesehen.
❖ Altersgerechte Ablenkung ist ein probates Mittel.
❖ Nur eine Kombination aus individuell kombinierten Strategien führt zu einer optimalen Schmerzlinderung.

Praktische Empfehlungen Führen Sie also intramuskuläre Impfungen bei Kindern in aufrechter Haltung schnell und ohne Aspiration durch, warten Sie bei mehreren Injektionen mit der schmerzvollsten bis zum Schluss, und reiben oder klopfen Sie im Bereich der Einstichstelle. Der Verzicht auf die Aspiration mindert den Schmerz, da die Kanüle nur kürzeren Kontakt mit dem Gewebe hat und auch weniger darin hin und her bewegt wird. Etwa ein Drittel der impfenden Ärzte in Kanada verzichtet auf das Aspirieren, was bisher zu keinerlei Komplikationen geführt hat. Während der Impfung sollten Kinder aufrecht sitzen und von den Eltern gehalten werden. Wichtig ist, dass die Position für die Kleinen angenehm ist und keine Gewalt angewendet werden muss, um sie zu erreichen. Taktile Reize wie Reiben oder leichtes Schlagen der Haut sind geeignet, um bei mindestens 4-Jährigen die Injektionsschmerzen zu minimieren, indem sie die Signale der Schmerzrezeptoren zum Gehirn überlagern. Die optimale Methodik ist bis anhin unbekannt, sie sollte individuell ausgewählt werden. Stillen hat durch den direkten Körperkontakt, die süss schmeckende Milch und die Anstrengung durch das Saugen einen analgetischen Effekt. Wenn Stillen nicht möglich ist, kann alternativ Zuckerwasser vor Impfbeginn verabreicht werden. Dieses führt durch Aktivierung entsprechender Rezeptoren zur Ausschüttung endogener Opioide und dadurch zu Ablenkung. Beim Einsatz von Lokalanästhetika sollte in Abhängigkeit vom verwendeten Produkt darauf geachtet werden, dass dieses bereits 20 bis 60 Minuten vor der Injektion appliziert wird; entweder bereits durch die Eltern zu Hause oder gleich bei der Ankunft in der Praxis durch qualifiziertes Personal. Falls mehrere Impfstoffe gleichzeitig gegeben werden müssen, kann das Lokalanästhetikum auch auf verschiedene Stellen aufgetragen werden (zum Beispiel linkes und rechtes Bein).

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FORTBILDUNG

Tabelle 1:
Empfehlungen zur Schmerzlinderung bei Impfungen bei Kindern

Frage Ist Stillen hilfreich? Sollen Süssigkeiten gegeben werden?
Hat die Auswahl des Impfstoffs Einfluss auf den Schmerz?
Ist Rückenlage zu bevorzugen? Sollte schnell oder langsam intramuskulär injiziert werden? Wie sollte bei mehreren Impfungen hintereinander verfahren werden? Hilft eine «Massage» der Haut um die Injektionsstelle?
Sollen Eltern die Kinder ablenken oder ihnen Anweisungen geben?
Sollen lokale Anästhetika eingesetzt werden?
Ist es sinnvoll, wenn der Arzt die Kinder ablenkt? Soll sich das Kind selbst ablenken?
Hilft eine langsame, tiefe Atmung oder forcierte Ausatmung während der Injektion? Sind kombinierte psychologische Interventionen positiv?
Soll gesagt werden: «Es tut nicht weh!»?

Empfehlung
Ja, ermuntern Sie die Mütter, während der Impfung zu stillen.
Falls Stillen nicht möglich ist, können bei Kindern bis zu 12 Monaten süsse Getränke von der Injektion ablenken.
Wenn mehrere vergleichbare Impfstoffe existieren, sollte der gewählt werden, der am wenigsten Schmerzen verursacht. Nein, vermeiden Sie eine solche. Injizieren Sie möglichst schnell, ohne zu aspirieren. Injizieren Sie die schmerzhafteste Vakzine zum Schluss.
Ja. Bei Kindern über 4 Jahren hilft ein moderates Reiben oder Klopfen vor und während der Spritze.
Die Evidenz reicht für ein Ja oder Nein nicht aus. Allerdings können Anweisungen helfen, um unnötigen «Stress» zu vermeiden.
Ja. Die Eltern sollten solche vor der Injektion bei ihren Kindern auftragen. Ja.
Bei Kindern im Alter von mehr als 3 Jahren ist das durchaus sinnvoll. Ja, bei über 3-jährigen Kindern kann dies hilfreich sein.
Ja. Ab einem Alter von 3 Jahren können kognitive und verhaltensorientierte Interventionen gleichzeitig vom eigentlichen Geschehen ablenken. Nein. Dieser Satz alleine ist ineffektiv.

Tabelle 2:
Interventionen ohne ausreichende Evidenz für eine Praxisempfehlung

Frage Empfehlung

Soll die Injektionsstelle gekühlt werden?

Eine klare Empfehlung für Eis oder Kältebeutel kann nicht gegeben werden.

Sind zwei Impfungen gleichzeitig durchgeführt besser als nacheinander? Es gibt keinen Unterschied.

Ist eine subkutane Applikation einer intramuskulären vorzuziehen?

Bei Impfstoffen, die s.c. oder i.m. verabreichbar sind, kann keiner Art der Anwendung ein Vorzug eingeräumt werden.

Soll vor der Impfung ein Schmerzmittel gegeben werden?

Paracetamol oder Ibuprofen vor der Injektion bringt keinen Nutzen.

Ablenkung ist ein probates Mittel. Effektiv ist dies, wenn sie vom Arzt oder – falls das Kind älter als drei Jahre ist – vom Kind selbst durchgeführt wird. Ablenkung durch die Eltern selbst ist weniger wirksam, da diese selbst meist unter Stress stehen und sich so nicht optimal darauf konzentrieren können. Die Ablenkungsmanöver müssen altersgerecht sein: Spielzeug oder Seifenblasen für kleine Kinder, Videospiele für Schüler oder Musik für Heranwachsende.
Kosten und Dokumentation Der überwiegende Teil der beschriebenen Praxisempfehlungen ist nicht mit Mehrkosten verbunden. Einige (Stillhilfen, Seifenblasen, Zuckerwasser etc.) sind so gering, dass sie vernachlässigt werden können. Um Impfungen zukünftig weiter

zu optimieren, ist es sinnvoll und notwendig, bei den ganz Kleinen die verwendeten Techniken zu validieren und sprechende Kinder nach ihren Erfahrungen bezüglich der angewandten Methodik zu befragen. Ärzte sollten ermutigt werden, alle angewandten Strategien und auch die positiven wie negativen Reaktionen der Kinder genau zu dokumentieren. ❖
Norbert Mittermaier
Quelle: Taddio A et al.: Reducing the pain of childhood Vaccination: an evidence-based clinical practice guideline. CMAJ 2010; 182: 1989–1995. Interessenkonflikte: keine
Der Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 13/2012. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Anpassungen an die Schweiz, sprachliche Änderungen und eine leichte Kürzung des Artikels erfolgten durch die Redaktion ARS MEDICI.

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